Ziel muss sein: 2030 mindestens drei neue Namen im Dax

Christian Lindner
Handelsblatt

Herr Lindner, Kanzlerin Angela Merkel hat jüngst bei ihrer Regierungserklärung im Bundestag davor gewarnt, dass Deutschland nicht im Technikmuseum enden sollte. Hat sie übertrieben?

Lindner: Nein, das ist keine Übertreibung. Es stellt sich nur die Frage, warum die Bundeskanzlerin im zwölften Jahr ihrer Kanzlerschaft diese Warnung ausspricht. Wir haben in den vergangenen vier Jahren bei der Digitalisierung Zeit verloren, deshalb dürfen wir die nächsten vier Jahre nicht wieder tatenlos verstreichen lassen.

Aber die deutsche Wirtschaft brummt doch, das zeigen viele volkswirtschaftliche Kennzahlen. Warum sind Sie so pessimistisch?

Lindner: Ich bin nicht pessimistisch. Aber die Realität ist bedrohlicher als die Stimmung. Unseren Exportüberschuss investieren wir nicht hier, sondern im Ausland. Wir haben große Chancen, aber wir machen derzeit zu wenig daraus.

Wir stehen doch in vielen Bereichen gar nicht so schlecht da. Bei der Industrie 4.0 lernen die USA und China von uns und nicht umgekehrt.

Lindner: Aber beim Auto stehen wir unter Druck. Wir dürfen uns nicht auf dem Niveau, das wir jetzt haben, in Sicherheit wähnen. Vor 15 Jahren hat die Pisa-Studie gezeigt, dass die Schüler in asiatischen Ländern besser in Naturwissenschaften sind als die deutschen. Die sind da immer noch besser, haben aber ihr Bildungssystem darüber hinaus so umgekrempelt, dass sie inzwischen auch mehr als wir auf schöpferisch-kreative Leistungen setzen. Wer sich auf seinen Lorbeeren ausruht, fällt zurück.

Was sollte denn eine künftige Regierung sofort anpacken?

Lindner: Als Erstes sollte der Glasfaserausbau beschleunigt werden. Unser Vorschlag ist, die Staatsanteile an Deutscher Post und Deutscher Telekom zu verkaufen, um so den Ausbau dieser superschnellen Internetleitungen zu finanzieren. Zweitens sollte man an das Wettbewerbsrecht für die Plattformunternehmen ran und Regeln für neue Technologien wie das autonome Fahren und Drohnen schaffen. Drittens sollte die Verwaltung digital werden. Der Staat darf uns nicht länger Lebenszeit klauen, weil wir immer noch auf Ämter gehen müssen statt online von zu Hause alle Transaktionen erledigen zu können.

 

Mehr Regulierung für die Plattformen würde doch aber eher dazu führen, dass deren Geschäftsmodelle behindert werden. Wo bleibt da die Innovation?

Lindner: Ja, richtige Regeln begrenzen die Macht von Plattformen wie Google. Sie geben aber Newcomern und Außenseitern eine Chance, sich auf dem Markt zu etablieren. Die digitale Ökonomie darf kein Raubtierkapitalismus sein. Die soziale Marktwirtschaft muss in den neuen Bereich übertragen werden.

In den letzten Wochen wurde viel über die Rente mit 70 und Arbeitszeitregeln gesprochen – passt das noch in die Zeit?

Lindner: Diese Diskussion wird falsch geführt. Nicht die Menschen müssen sich dem Sozialstaat anpassen, sondern der Sozialstaat muss sich den Wünschen der Menschen anpassen. Ich bin für mehr individuelle Lösungen bei der täglichen Arbeitszeit und bei der Lebensarbeitszeit. Wir sollten uns trennen von den Schablonen. Flexibilität und soziale Absicherung müssen wir neu verbinden. Zum Beispiel sollten Menschen mit geringem Einkommen unbürokratisch ein Bürgergeld vom Staat erhalten, wenn sie eine Zeit lang wenig verdienen.

Was muss denn in der Bildung geschehen? Muss das Fach Kunst jetzt dem Programmieren weichen?

Lindner: Nein. Das Erste was passieren muss, ist, dass die Toiletten in einen menschenwürdigen Zustand versetzt werden. Da stimmen ja derzeit noch nicht einmal die Basics. Dann müssen wir dazu kommen, dass die Qualität der Bildung gesteigert wird und zwar durch eine bessere Aus- und Weiterbildung der Lehrer und durch digitale Didaktik für klassische Fächer wie Kunst und Latein. Und dann kommt der Punkt, an dem die Digitalisierungskompetenz selbst vermittelt werden muss, aber nicht im Tausch gegen andere Fächer, sondern in Ergänzung zu anderen Fächern.

Es fehlen jetzt schon Tausende IT-Fachkräfte. Welche Rolle wird die Zuwanderung für die Zukunft von Deutschland spielen und sind wir dafür schon gerüstet?

Lindner: Wir sind nicht für Zuwanderung gerüstet – und zwar in doppelter Hinsicht. Erstens fehlt uns die Identität eines Einwanderungslandes. Das bedeutet, wir selbst müssen ein stärkeres Gefühl für unsere Werte und Prinzipien entwickeln, damit andere Maß nehmen können. Wir sind sehr lax, was unsere Werte angeht. Kanada macht uns nicht nur vom Punktesystem vor wie es geht, sondern auch bei der Entschiedenheit, mit der von den Zuwanderern Integration und Anpassung eingefordert wird. Und das Zweite ist, dass wir für die Schweißer, Altenpfleger und Ingenieure, die uns fehlen, ein anderes Zuwanderungsgesetz brauchen. Diese Menschen müssen sich bei uns auch ohne Arbeitsvertrag in der Tasche bei vorliegender Qualifikation und Sprachkenntnis auf die Suche nach ihrem Glück machen können. Das wird aber von der Bevölkerung nur akzeptiert werden, wenn wir uns schneller von den Illegalen trennen und den Aufenthalt von Flüchtlingen nicht zu einer Dauerangelegenheit per Automatik werden lassen.

Seit dem MP3-Player wurde nicht mehr viel Neues in Deutschland erfunden. Wird Innovation hierzulande vor allem in Masse und nicht in Klasse gemacht?

Lindner: Ich sehe viele Innovationen in Deutschland, etwa im Biotech-Bereich, bei alternativen Antrieben, bei Fahrassistenten. Wir sind schon sehr gut, aber es fehlen uns einige Cutting-edge-Durchbrüche. Im Dax sind vor allem große und traditionelle Firmen vertreten. Schaut man hingegen in den amerikanischen Dow Jones, sind da viele Unternehmen, die es vor 20 Jahren noch gar nicht gab. Wir müssen die Rahmenbedingungen für Gründungen verbessern, so dass bei uns auch Einhörner groß werden, also Start-ups, die einen Marktwert von mehr als einer Milliarde haben. Das Ziel muss sein, dass im Jahr 2030 im Dax mindestens drei neue Namen auftauchen, die es im Jahr 2005 noch nicht gab.