Wir wollen bei der ungeduldigen Mitte punkten

Christian Lindner
Spiegel Online

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat Bewegung in die Umfragen gebracht. Ihre FDP verharrt bei fünf bis sieben Prozent, profitiert nicht von der Schwäche der Union. Warum?

Lindner: Herr Schulz holt Wähler von Grünen, AfD und Nichtwähler zur SPD zurück. Unser Potenzial zeigen dagegen nicht die Umfragen, sondern die stark steigenden Mitgliederzahlen. Viele Leute haben fertig mit Merkels 'Weiter-so' und halten die französisch-linke Politik von Schulz für falsch. Ich treffe ständig Menschen, die fragen, wovon Deutschland morgen leben will. Die haben Lust auf neue Technologien, sind weltoffen und wollen, dass man sie ungestört von Bürokratie vorankommen lässt. Bei dieser ungeduldigen Mitte wollen wir punkten.

Schulz punktet doch bei der Mitte mit seiner Forderung, älteren Arbeitnehmern länger Arbeitslosengeld zu zahlen. Soziale Gerechtigkeit zieht, ist das schlecht für die FDP?

Lindner: Das Gegenteil ist richtig. Wir wollen den Einzelnen stark machen. Deshalb wollen wir beste Bildung von der Kita bis zur Uni. Mit mehr digitaler Kompetenz und einem Schulfach Wirtschaft. Das ist humaner als Schulz, weil wir die Menschen aus der Abhängigkeit des Staates befreien wollen. Und wenn jemand mit 50 arbeitslos wird, dann haben diese Menschen heute gute Chancen, schnell einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Das muss das Ziel sein.

Was halten Sie von der Verlängerung des Arbeitslosengeldes?

Lindner: Keine gute Idee. Denn das parkt die Menschen im Sozialstaat, anstelle sie zu motivieren. Eine verkürzte berufliche Umschuldung ist schon heute im ALG machbar, den sie wird nur zu 50 Prozent angerechnet. Der Reformbedarf ist beim Arbeitslosengeld II, also Hartz-IV viel größer!

Moment. Die FDP als Anwalt von Hartz-IV-Beziehern?

Lindner: Aber sicher. Es geht darum, dass wir den Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen, eine trittfeste Leiter zurück in den Arbeitsmarkt bauen - Stufe für Stufe. Da ist für viele der Mini-Job der erste Wiedereinstieg. Heute ist es so: Je mehr man als Mini-Jobber arbeitet, desto mehr wird man dafür vom Staat bestraft. Warum? Weil der Hinzuverdienst mit dem Arbeitslosengeld II verrechnet wird. Das müsste man ändern. Wer sich mit einem Mini-Job aus Hartz-IV herausarbeiten will, muss mehr Geld in der Tasche haben als jene, die das nicht tun.

Die Ungleichheit hat zugenommen, die Vermögensverteilung driftet auseinander. Was wollen Sie dagegen tun?

Lindner: In Deutschland wird der Aufbau schon eines kleines Vermögens massiv erschwert. Konkreter Vorschlag: Reformieren wir die Grunderwerbssteuer! Wer eine Wohnung oder ein Haus zur Eigennutzung erwirbt, soll erst ab einem Wert von 500.000 Euro Grunderwerbsteuer bezahlen. Heute ist es doch so: Die einen haben eine Immobilie, deren Wert in manchen Gegenden steigt, auch aufgrund der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank. Viele andere aber können sich eine Wohnung ja gar nicht mehr leisten. Das ist sozial ungerecht - denn Immobilienbesitz ist auch eine Absicherung gegen Armut im Alter - und muss mit einer klugen Steuerpolitik angegangen werden.

Was werfen Sie SPD und Union vor?

Lindner: Bitte keine Rente mit 63, bitte keine Verlängerung von Qualifizierungsmaßnahmen, die nur den Umsatz der Bildungswerke von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden steigern. Wir haben doch schon steigende Sozialabgaben, steigende Steuern, eine hohe Staatsquote. Da muss eine Trendwende erreicht werden, damit die Mitte sich etwas aufbauen kann. Das Kernproblem ist doch: Im Zweifel beschäftigen sich SPD, Union, Grüne und Linke mit den Superreichen, Managern oder Flüchtlingen. Wir sprechen über die Mitte.

Jetzt spielen Sie das Spiel: einer gegen alle.

Lindner: Es gibt Millionen von Menschen, die nicht bedürftig sind, deren zentrale Frage aber auch nicht ist, welche Farbe der nächste Sportwagen hat. Die fragen sich: Was ist mit dem Zustand der Schule? Was mit den Aufstiegschancen meiner Kinder? Was wird aus meiner Anzeige des Fahrraddiebstahls? Wie sorge ich für das Alter vor?

Superreiche und Flüchtlinge - warum setzen Sie auf diesen populistischen Tonfall?

Lindner: Ich spreche Klartext.

Von Klartext war nicht die Rede, sondern von Populismus.

Lindner: Von diesem Wort lasse ich mich nicht einschüchtern.

Haben Sie vom Wahlkampf des US-Präsidenten Trump gelernt?

Lindner: Nein, und ich lehne die Art und Weise ab, wie Trump seinen Wahlkampf geführt hat und Politik macht. Dieses Postfaktische, diese Denunziationen, dieses Vernichtenwollen des politischen Gegners. Das alles ist nicht unser Stil. Ich möchte allerdings Probleme klar ansprechen und ich habe Freude daran, wenn sich bei uns im Landtag die Grünen ganz empört aufregen.

Sie haben der Kanzlerin die "systematische Täuschung der Öffentlichkeit" in der Flüchtlingskrise vorgeworfen, als Sie das Buch "Die Getriebenen" des "Welt"-Journalisten Robin Alexander vorstellten. Mit Verlaub, das erinnert an die Sprache der AfD.

Lindner: Sie verharmlosen mit diesem Vergleich die fremdenfeindliche, autoritäre und anti-europäische AfD. Weil es im Bundestag nur linke Oppositionspolitik gibt, ist Kritik an der CDU offenbar dann immer rechts. In Wahrheit sind Freie Demokraten nur Fans von Rechtsstaatlichkeit. Frau Merkel hat eine illiberale Politik gemacht, als sie regellos die Grenzen geöffnet und nicht wieder geschlossen hat. Und das sehr gut recherchierte Buch, das Sie erwähnen, zeigt: Hier wurde nicht aus humanitären Gründen gehandelt, sondern weil niemand in der Regierung die Courage hatte, den bereits ausgefertigten Befehl zur Zurückweisung der Flüchtlinge an der deutschen Grenze zu unterschreiben.

Anderes Thema: Türkei. Die AKP will angeblich keine weiteren Auftritte mehr in Deutschland, wie steht es um den EU-Beitritt der Türkei?

Lindner: Die Türkei ist nicht beitrittsfähig, die EU ist nicht aufnahmebereit. Deshalb müssen diese zombiehaften Gespräche jetzt beendet werden. Die Türkei kann und will nicht EU-Mitglied werden. Es gibt ja eine Zollunion - die können wir ausbauen, wenn sich die Türkei wieder zu einem Rechtsstaat entwickeln sollte.

Zum Schluss: Oktober 2017, die FDP ist im Bundestag und Sie haben die Wahl - Koalition mit CDU und Grünen, mit SPD und Grünen - oder Opposition. Wie entscheiden Sie sich?

Lindner: Wir wollen regieren, wenn wir liberale Projekte umsetzen können. Wir treten nur in eine Koalition ein, wenn wir deren Richtung prägen können. Mit SPD und Grünen haben wir gegenwärtig nicht viele Gemeinsamkeiten.