Wir treten für Inhalte an, nicht für bestimmte Koalitionen.

Christian Lindner
Aachener Nachrichten

Lesedauer: 10 Minuten

 

Herr Lindner, in drei Tagen wird in NRW ein neuer Landtag gewählt. Alles sieht nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Wie ist die Stimmung in der FDP?

Lindner:  Wir sind tatendurstig. Wir schauen zurück auf fünf erfolgreiche Regierungsjahre in Nordrhein-Westfalen, in denen wir einen Beitrag geleistet haben, das Land moderner, fairer und freier zu machen. Jetzt schauen wir nach vorn, weil wir an diese Politik der Mitte anknüpfen möchten.

Aber wenn sie zurückschauen nach Schleswig-Holstein vor nicht einmal einer Woche, dann können Sie doch mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein. Hatten Sie nicht mehr als 6,4 Prozent erwartet?

Lindner: Ja. Doch die FDP hat in Kiel gute Regierungsarbeit geleistet. Die Landesregierung dort hatte die höchsten Popularitätswerte in Deutschland. Aber die Persönlichkeit des amtierenden Ministerpräsidenten Daniel Günther hat die FDP überstrahlt. In NRW ist die Lage anders.  

Weil CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst nicht so beliebt ist?

Lindner: Zumindest kann er nicht auf einen ähnlichen Amtsbonus bauen wie Daniel Günther in Kiel.  

Auf welche Erfolge kann NRW nach fünf Jahren liberaler Regierungsbeteiligung verweisen?

Lindner: NRW hat wirtschaftlich eine enorme Belebung erfahren. Es wurden Arbeitsplätze geschaffen, das Land ist attraktiver geworden für Investitionen. In der Bildungspolitik sind wir weg von der Einheitsschule. Die Förderschulen wurden wiederbelebt. Es gibt jetzt mehr individuelle Förderung und eine Stärkung auch des wirtschaftlichen Wissens. Und NRW hat durch unseren liberalen Integrationsminister Joachim Stamp eine Einwanderungspolitik geprägt, die die konsequenteste Abschiebung von Gefährdern verbindet mit dem menschenfreundlichsten Bleiberecht für diejenigen, die zur Integration bereit sind.

Wenn wir uns den hoheitlich landespolitischen Bereich der Bildung anschauen, dann war es nun doch so, dass die FDP-Ministerin Yvonne Gebauer ordentlich Gegenwind bekommen hat.

Lindner: Alle Schulministerin und Schulminister der Länder haben mit denselben Problemen zu tun gehabt, mit der Abwägung zwischen der Verwirklichung des Rechts auf Bildung, der Notwendigkeit der Betreuung und der Sorge um die Gesundheit der Menschen. Das ist eine Abwägung und Balance, die niemals alle zufriedenstellen kann. Das war in ganz Deutschland eine große Herausforderung, wenn nicht sogar auf der ganzen Welt. Wichtig ist mir vor allen Dingen, dass der Schulfrieden erhalten bleibt.

Im Land wie im Bund stagnieren die Umfragewerte für die FDP. Woran liegt das?

Lindner: Wir liegen heute in der aktuellen Umfrage bundesweit bei zehn Prozent. In einer Zeit, in der wir schwere Entscheidungen treffen müssen, ist das ein guter Wert, der uns in der Wahrnehmung unserer staatspolitischen Verantwortung bestärkt.

Wie sieht diese Verantwortung aus?

Lindner: Ich will die öffentlichen Haushalte konsolidieren und gegen die Inflation arbeiten, damit wir jungen Menschen nicht immer größere finanzielle Lasten auferlegen. Wir müssen auch Puffer aufbauen, um für kommende Krisen gerüstet zu sein. Der Ukraine-Krieg und seine Folgen machen es dennoch nötig, dass wir in diesem Jahr die Ausgaben erhöhen. Deutschland trägt als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt eine besondere Verantwortung. Wir müssen auch den Rückstand bei der Bundeswehr aufholen. Deshalb schaffe ich ein Sondervermögen mit 100 Milliarden Euro, um unsere Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit zu erhöhen.

Die verkündete „Zeitenwende“ ist eine für alle drei Koalitionsparteien. Die SPD muss mit ihrer Ostpolitik aufräumen, die Grünen ihre pazifistischen Wurzeln hinterfragen und die Liberalen ihre Fiskalpolitik infrage stellen. Dennoch hat man das Gefühl, dass es in der SPD deutlich mehr rumort als bei FDP und Grünen. Woran liegt das?

Lindner: Hinsichtlich des Blicks auf die deutsche Außenpolitik müssen wir Freie Demokraten uns weniger stark korrigieren als andere, weil wir uns schon lange klar gegen autoritär regierte Staaten gestellt haben. Das betrifft nicht nur Russland, sondern auch China, obwohl ich beide Systeme nicht vergleichen will. Allerdings dürfen wir mit China nicht die gleichen Fehler wiederholen, die wir mit dem System Putin gemacht haben. Die Stärkung der Bundeswehr ist ein Anliegen, für das wir seit Jahr und Tag werben. Jetzt kommt sie. Ich bin erleichtert und stolz, als verantwortlicher Minister Sorge dafür zu tragen, dass die Bundeswehr angemessen ausgestattet wird. Und bei der Fiskalpolitik ist es keine Wende, sondern ich will und werde im nächsten Jahr die Schuldenbremse des Grundgesetzes einhalten. Es wird auch keine Steuererhöhungen geben.

Keine Steuererhöhungen, Einhaltung der Schuldenbremse: Wir wissen doch überhaupt nicht, wie sich dieser Krieg entwickelt.

Lindner: Natürlich sind immer Katastrophenszenarien denkbar. Aber nach Lage der Dinge heute muss die Schuldenbremse schon allein aus verfassungsrechtlichen Gründen eingehalten werden, weil es keinen sichtbaren Grund gibt, der eine Ausnahme rechtfertigen würde. Wir müssen von der für dieses Jahr geplanten Kreditaufnahme von knapp 139 Milliarden Euro runter auf maximal 9,9 Milliarden Euro Nettokreditaufnahme im nächsten Jahr. Das ist eine große Aufgabe, aber dazu verpflichtet uns die ökonomische Klugheit angesichts der Inflation und der Frage der Generationengerechtigkeit.

Sie stellen heute die Ergebnisse der neuen Steuerschätzung bis 2026 vor. Diese scheinen aller Voraussicht nach viel positiver auszufallen als angesichts der weltpolitischen Lage eigentlich zu erwarten wäre. Allein der Bund soll insgesamt 102 Milliarden Euro mehr einstreichen können, davon 18 Milliarden Euro in diesem Jahr. Schwimmt der Finanzminister nicht im Geld?

Lindner: Die Spielräume sind wesentlich enger, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Wir haben zwei Entlastungspakete geschnürt, die noch zu Buche schlagen. Es geht hier auch um dauerhafte Entlastungen, zum Beispiel durch eine Erhöhung des Grundfreibetrags oder des Arbeitnehmerpauschbetrags. Geld für immer neuen Ausgabenprogramme ist nicht vorhanden. Nicht alles, was wünschenswert sein mag, wird auch möglich sein.

Wie wollen Sie die Inflation bekämpfen?

Lindner: Wir entlasten die Menschen. Ab Mitte dieses Jahres werden die beiden Entlastungspakete spürbar. Gegenwärtig beraten wir noch im Bundestag. Im Juni werden die Pakete beschlossen, dann gibt es unter anderem 100 Euro zusätzliches Kindergeld, eine rückwirkende Steuersenkung zum 1. Januar und die EEG-Umlage entfällt ebenfalls. Insgesamt geht es um Entlastungen von mehr als über 30 Milliarden Euro.  

Die Rentner bleiben außen vor.

Lindner: Auch Rentnerinnen und Rentner profitieren von der Abschaffung der EEG-Umlage und teilweise auch von der dauerhaften Steuersenkung. Die Energiepreispauschale ist innerhalb des Entlastungspakets für Erwerbstätige gedacht, die berufsbedingte Mehrausgaben haben. Ich schließe allerdings nicht aus, dass über die genaue Ausgestaltung der Pauschale noch einmal in den Parlamentsberatungen gesprochen wird.  

Wäre es nicht auch eine Möglichkeit, die Bürgerinnen und Bürger gezielt zum Konsumverzicht beispielsweise beim Energieverbrauch zu motivieren?

Lindner: Ich habe das Gefühl, dass Ihre Leserinnen und Leser schon teilweise sehr deutlich ihr Verhalten verändert haben aufgrund der gestiegenen Preise, insbesondere etwa der Spritpreise. Wir müssen eher umgekehrt darauf achten, dass wir die Menschen, die zum Beispiel auf das Auto angewiesen sind, nicht vergessen.

Ist die Ampel in einigen Bereichen vielleicht zu dogmatisch? Wir wollen uns zwar von russischem Öl und Gas lösen, verbieten uns aber, anders als andere Länder, erneut über Kernkraft nachzudenken. Wir stehen in vielen Teilen der Welt vor einer dramatischen Nahrungsmittelknappheit und erweitern die Blühstreifen am Rande von Äckern.

Lindner: Ich stimme Ihnen zu. Wir sind in Deutschland teilweise zu dogmatisch. Bezogen auf die Energiepolitik sprechen alle von Wasserstoff. Unser Land war aber sehr lange allein auf den sogenannten grünen Wasserstoff fixiert, der aus erneuerbaren Energien gewonnen wird. Wir müssen uns vor dem Hintergrund der aktuellen Lage öffnen für den Import von Wasserstoff aller Farben, also auch Wasserstoff, der unter Nutzung von Erdgas oder Kohlestrom produziert worden ist. Und mit Blick auf die Landwirtschaft: Ja, wenn wir eine Nahrungsmittelkrise haben, dann macht es doch keinen Sinn, dass wir in Deutschland weiter landwirtschaftliche Fläche stilllegen. Wir müssten sagen: Die Stilllegungen, für die wir die Landwirte bezahlen, stellen wir jetzt erst einmal zurück, weil wir gegenwärtig die Nahrungsmittelversorgung sicherstellen müssen. Denkverbote können wir uns nicht mehr erlauben.

Als Regierungsmitglied hätten Sie es doch in der Hand, Denkverbote infrage zu stellen. Wer hat denn da die Denkverbote? Die Grünen?

Lindner: In bestimmten Fragen gibt es sicherlich einen Diskussionsbedarf mit den Kolleginnen und Kollegen. Und es ist ja auch kein Geheimnis, dass Grüne und FDP inhaltlich nun wirklich nicht deckungsgleich sind. Diese Ampelkoalition ist nicht zustande gekommen, weil die Wahlprogramme so gut zusammengepasst haben. Sie wurde in Anerkennung der politischen Realitäten gebildet, nachdem insbesondere die CSU ihre Regierungsunwilligkeit und -unfähigkeit unter Beweis gestellt hatte. Wir regieren vertrauensvoll miteinander und arbeiten verantwortungsbewusst. Wir haben uns auf eine Politik der Mitte verständigt. Sie dürfen mir aber als FDP-Vorsitzenden und Finanzminister eines abnehmen: Jeden Tag aufs Neue achte ich darauf, dass es eine Regierung der Mitte bleibt, weil SPD und Grüne linke Parteien sind, denen man nicht vorwerfen kann, dass sie auch programmatisch linke Politik machen wollen.

Schweißt die Ausnahmesituation die Koalition zusammen?

Lindner: Natürlich ist jede Form von parteipolitischer oder ideologische Auseinandersetzung absolut unangebracht, wenn man Krisen bewältigen muss. Deshalb bin ich auch so erschüttert über die CDU/CSU, die beim Sondervermögen Bundeswehr mit der parteipolitischen Brille auf  politische Fragen schaut und gar abzählen will, wie viele Abgeordnete der Grundgesetzänderung zustimmen. Auf diese Idee wäre Helmut Kohl beim Nato-Doppelbeschluss nie gekommen.

Werfen Sie Herrn Merz vor, den Krieg parteipolitisch auszunutzen?

Lindner: Die Union trägt Verantwortung für den schlechten Zustand der Bundeswehr nach 16 Jahren unter Angela Merkel. Jetzt, wo wir das beheben wollen, tritt die Union bei dem von mir vorgeschlagenen Sondervermögen, das ich ja extra ins Grundgesetz neben die Schuldenbremse schreibe, um den Ausnahme-Charakter zu betonen, auf die Bremse. Hier geht es um Fragen staatspolitischer Verantwortung. Mir regiert zu viel parteipolitisches Kleinklein bei der Union.

Das Amt des Finanzministers hatten Sie sich sehr früh gewünscht. Aber die anderen Ministerien, die die FDP in der Ampel bekommen hat, sind weniger bedeutsam. Ist das gerade in der Außendarstellung rückblickend ein Problem?

Lindner: Wir leben in einer Zeit von Krieg und Krise. Wenn ich mir irgendwann wieder Gedanken machen kann darüber, wie man in einer Regierung die einzelne Partei besonders stark profiliert, dann werden Sie mich glücklich erleben. Momentan setze ich darauf, dass die Regierung als Ganzes funktioniert. Deshalb freue ich mich über jeden Erfolg bei der Sicherstellung einer unabhängigen Energieversorgung und jede diplomatische Note, die in dieser Situation klarmacht, dass wir einen verbrecherischen Krieg nicht dulden. Und genauso leisten wir unsere Beiträge.

Gilt das auch für den Bundeskanzler? Er wirkt eher unsichtbar. Fast jeder außer ihm war schon in Kiew.

Lindner: Was jetzt die Besuche angeht, gab es eine Irritation wegen der Ausladung des Bundespräsidenten. Die ist jetzt aus der Welt geschafft worden, und am Dienstag war die Außenministerin dort. Weitere Besuche werden in der nächsten Zeit folgen. Auch ich habe eine Einladung von meinem ukrainischen Amtskollegen erhalten. Der Bundeskanzler trifft seine Entscheidungen sehr abgewogen, er lässt sich nicht treiben. Das halte ich für richtig. Wir haben klare Kriterien, auch in dieser Krise.

Welche sind das?

Lindner: Wir unterstützen die Ukraine, aber immer im Gleichklang mit unseren Verbündeten, insbesondere den USA; immer so, dass unsere eigene Verteidigungsfähigkeit nicht gefährdet wird. Wir dürfen nicht Kriegspartei werden, weil eine nukleare Konfrontation mit Russland ethisch nicht vertretbar ist. Dieser Linie folgt die Koalition. Ich habe daran keine Kritik zu üben.

Auch wenn man über den Sinn oder Unsinn von Beliebtheitswerten von Politikern streiten kann:  Schauen Sie nicht doch mal auf Platz eins oder zwei und überlegen, woher das kommt?

Lindner:  Ich bin frei von Neidgefühlen. Ich bin der dienstälteste Parteivorsitzende in Deutschland. In meinen achteinhalb Jahren habe ich schon viele Aufs und Abs erlebt. Ich will daran gemessen werden, was die FDP am Ende der Legislaturperiode für das Land erreicht hat. Haben wir es gut aus der Pandemie herausgeführt? Haben wir die Kriegsfolgen bewältigt? Haben wir das Land modernisiert, fairer, freier gemacht? Und haben wir den Wohlstand der Bürgerinnen und Bürger gesichert und eine wirtschaftliche Perspektive eröffnet?

Noch einmal zurück zum Krieg in der Ukraine: Andere Länder tun sich nicht so schwer damit wie Deutschland, Vermögen von Oligarchen zu beschlagnahmen. Woran liegt das?

Lindner: Deutschland tut sich nicht schwer. Ich habe gerade erst ein Sanktionsdurchsetzungsgesetz vorgelegt, um die Arbeit für die Behörden zu erleichtern. Außerdem gibt es in Deutschland künftig eine Anzeigepflicht. Wer auf einer Sanktionsliste steht, muss dem deutschen Staat seine Vermögenswerte anzeigen, sonst macht er sich strafbar. Das heißt, auf Zeit zu spielen, weil man so komplizierte, verschachtelte Konstruktionen gewählt hat, dass man glaubt, erst in einigen Wochen oder Monaten identifiziert zu werden, wird künftig nicht mehr möglich sein.

Sie sprechen von künftigen Fällen.

Lindner: Nein, ich spreche von aktuellen Fällen. Denken Sie an die Oligarchen-Yacht im Hamburger Hafen. Diese war eingetragen auf eine andere Person. Die Behörden haben dann den Zusammenhang zwischen dieser Person und dem Eigentümer ermittelt. Ergebnis ist: Die 540 Millionen Euro teure Jacht ist eingefroren und eine zusätzliche Person steht nun auf der Sanktionsliste.

Machen wir den Schlenker zurück in das Bundesland, für das Sie auf Bundesebene nun ein erklärter politischer Gegner sind. Kriegt man die Ampel im Bund und Schwarz-Gelb im Heimatbundesland gut auseinander?

Lindner: Das bekommt man gut auseinander. Die FDP ist eine eigenständige Partei. Wir treten für Inhalte an, nicht für bestimmte Koalitionen. Nach wie vor sehe ich auch auf Bundesebene mit der Union die größten inhaltlichen Gemeinsamkeiten. Jamaika scheiterte an der CSU, die es durch Indiskretionen sabotiert hat. Anders als 2017 wäre ein solches Bündnis programmatisch 2021 möglich gewesen. Momentan habe ich mit der Union auf Bundesebene allerdings das Problem, dass sie vormittags weniger Schulden und nachmittags mehr Subventionen und Steuersenkungen fordert. Das passt nicht zusammen.

Das heißt, Sie träumen nicht manchmal im Stillen von einer Jamaika-Koalition?

Lindner: Nein.