Wir sind nicht erpressbar.

Christian Lindner
Handelsblatt

Lesedauer: 10 Minuten

 

Herr Minister, US-Präsident Joe Biden will mit einem riesigen Investitionspaket, dem Inflation Reduction Act, gezielt amerikanische Unternehmen bei der klimafreundlichen Transformation subventionieren. Wie sollte Europa darauf antworten?

Lindner: Cool und marktwirtschaftlich. Unsere Technologien sind exzellent. Nur stehen wir uns in Europa, insbesondere in Deutschland, zu oft selbst im Weg. Standards wie Euro 7 bei den Autos zum Beispiel bringen ökologisch so gut wie nichts mehr, binden aber enorm Kapital. Wir brauchen daher Realismus bei der Regulierung, schnellere Verfahren, Abbau von Belastung. Wir müssen wieder auf Angriff spielen. Also an den Stellschrauben drehen, die unsere Wettbewerbsfähigkeit verbessern.

Auf Angriff spielen ist für europäische Unternehmen aber schwierig, wenn die US-Konkurrenz mit großen Subventionen gedopt wird.

Lindner: Man kann auch ohne Geld für Wachstum sorgen, indem Bürokratiekosten reduziert werden und privates Kapital mobilisiert wird. Deshalb habe ich mit meinem französischen Kollegen eine Initiative gestartet, den Verbriefungsmarkt bei Banken zu beleben. Das verbessert jenseits des Staates die Finanzierungsmöglichkeiten. Im Übrigen haben wir mit dem Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ bereits über 800 Milliarden Euro an öffentlicher Förderung zur Verfügung. In Deutschland kommen weitere gut 180 Milliarden Euro dazu. Davon wurde bisher nur ein kleiner Teil genutzt.

Droht jetzt ein Subventionswettlauf zwischen den USA und Europa?

Lindner: Das wäre schädlich. In Europa besteht kein Defizit an Subventionen, sondern an Effektivität und Qualität der öffentlichen Ausgaben. Daher halte ich für richtig, wenn das europäische Beihilferecht nun agiler wird. Aber dauerhaft mit Protektionismus und Subventionen zu arbeiten, führt nur zu Wohlstandsverlusten auf beiden Seiten des Atlantiks. China wäre der lachende Dritte.

Wie sollten wir dann gegenüber der US-Regierung auftreten?

Lindner: Die USA sind unser Partner, wir teilen die gleiche Werte. Also sollten wir uns auch um privilegierte Handelsbeziehungen bemühen. Beispielsweise sollten wir so behandelt werden wie andere Staaten, die Ausnahmen vom IRA bekommen.

Darum haben sich Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und sein französischer Kollege Bruno Le Maire in Washington bemüht. Große Zugeständnisse der US-Regierung gab es aber nicht.  War die Reise umsonst?

Lindner: Das gemeinsame Auftreten war ein wichtiges politisches Signal. Nun geht es um Gespräche auf der Fachebene. Die Reden, die Präsidenten an das eigene Land richten, und die operative Politik sind zwei verschiedene Genres.

Die europäische Diskussion dreht sich vor allem um die Frage, ob es nicht neue Geldtöpfe für braucht. Die EU-Kommission schlägt den Aufbau eines Transformationsfonds vor. Schließen Sie das aus?

Lindner: Wenn bereits vorgesehene Mittel sinnvoller verausgabt und gebündelt werden sollen, dann bietet die Debatte Chancen. Aber es gibt in Brüssel Kreise, die für jedes Problem die immer gleiche Lösung präsentieren: mit gemeinsamen Schulden neue europäische Geldtöpfe schaffen. Das lehne ich aus drei Gründen ab: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist es für unser Land verfassungsrechtlich problematisch. Es ist zudem ökonomisch nicht erforderlich. Denn die gemeinsamen EU-Anleihen sind gar nicht mehr so viel günstiger als die Anleihen der einzelnen Mitgliedsstaaten. Und politisch führen Gemeinschaftsschulden zu einer Verwischung von Verantwortlichkeiten. Klar muss aber sein, dass die Pflege der eigenen Wettbewerbsfähigkeit zunächst und zumeist eine Aufgabe der jeweiligen Regierung ist.

Brauchen wir mehr europäische Industriepolitik?

Lindner: Mehr Verständnis für die Wettbewerbsbedingungen der Wirtschaft? Absolut ja. Ich sehe mit großer Sorge wie realitätsfern manche Regel für den Chemie- oder Automotive-Bereich ist. Im Kern brauchen wir marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen, damit sich Investitionen rechnen. Mit fremder Leute Geld geht man gerne Risiken ein oder setzt politische Steckenpferde um. Wenn es das eigene Geld ist, überlegt man dreimal, welche Investitionen sinnvoll sind und welche man lässt. Deshalb bleibe ich bei politischen Reißbrettplanungen skeptisch.

Aber?

Lindner: Es gibt bestimmte Bereiche, bei denen aufgrund der Transformation so hoher Investitionsbedarf besteht, dass wir mit öffentlichen Mitteln die Dekarbonisierung unterstützen müssen, um Abwanderung zu verhindern. Auch die Basis unserer Wertschöpfungsketten muss in einem klimaneutralen Europa eine Chance haben. Das muss aber eng begrenzt bleiben, weil sonst jahrelang Mitnahmeeffekte drohen und marktliche Anreize für Technologiesprünge entfallen.

Der US-Konzern Intel will in Magdeburg eine Chipfabrik bauen und nun zehn Milliarden Euro Subventionen. Da geht es nicht nur um Arbeitsplätze, sondern auch Sicherheitsinteressen. Wird der Staat dadurch erpressbar?

Lindner: Wir sind nicht erpressbar. Noch die Bundesregierung von Frau Merkel hat Intel 6,8 Milliarden Euro Förderung für ein Vorhaben in Aussicht gestellt. Angeblich ändern sich nun die Rahmenbedingungen. Das schaut sich die Bundesregierung an. Für mich stellt sich auch die Sinnfrage.

Inwiefern?

Lindner: Werden die von Intel in Magdeburg produzierten Chips wirklich von der deutschen Industrie benötigt oder geht das an den Weltmarkt? Wie ist der langfristige Effekt auf die Region und die Arbeitsplätze, die wir mit dem vielen Geld erreichen.

Das klingt so, als würden Sie keine zehn Milliarden Subventionen für Intel geben?

Lindner: Die Gespräche führen in der Bundesregierung andere. Ich will als liberaler Finanzminister nur unterstreichen, dass für mich 6,8 oder mehr Milliarden Euro der deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahl kein Selbstläufer sind. Ein US-Unternehmen, das acht Milliarden Doller Nettogewinn gemacht hat, ist kein natürlicher Empfänger von Steuergeld. Da sind Fragen erlaubt.

Derzeit wird über eine Reform der EU-Schuldenregeln verhandelt. Ist Deutschland zu Zugeständnissen bereit?

Lindner: Nein, nicht im Kern. Die auch im Handelsblatt geführte Debatte, ob die Drei- und Sechzig-Prozent-Kriterien von Maastricht gestrichen werden, ist dank der klare deutschen Position vom Tisch. Im Gegenteil brauchen wir klare Regeln, die zu einer verlässlichen Reduzierung der Staatsverschuldung führen. Bisher waren die Regeln weder klar, noch wurden die Defizite verlässlich reduziert. Denkbar ist für uns, mehr fiskalischen Spielraum für Investitionen zu eröffnen, wenn der mittelfristige Abbaupfad der Staatsschulden eingehalten wird. Es kann aber nicht darum gehen, die Konsolidierung der eigenen Haushalte zu vertagen.

Bei der Überwachung der Schuldenregeln soll also künftig danach unterschieden werden, was mit den Defiziten finanziert wird?

Lindner: Nein, es geht nur um Flexibilität im Rahmen der so genannten mittelfristigen Haushaltsziele. Wir haben nach der Pandemie zudem leider so hohe Schuldenstände in Europa zu beklagen, dass die bisherige 1/20-Regel zu einer objektiven Überforderung bestimmter Staaten führen würde.

Diese Regel fordert, den Schuldenstand innerhalb von 20 Jahren wieder auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken.

Lindner: Genau. Das ist bei den heutigen Schuldenständen unrealistisch und würde zwangsläufig ein Argument dafür liefern, die Regeln gar nicht anzuwenden. Deshalb habe ich für die Bundesregierung in diesem Punkt Bereitschaft zum Kompromiss signalisiert. Das streckt den Zeitplan, aber nicht die Richtung des Schuldenabbaus.

Frankeichs Präsident Emmanuel Macron versucht gerade mit einer großen Rentenreform für stabilere Finanzen zu sorgen. Die Gewerkschaften machen allerdings mit Massenprotesten gegen die Reform mobil. Knickt Macron noch ein? 

Lindner: Unsere französischen Freunde brauchen keine öffentlichen Ratschläge von mir. Deutschland sollte sich lieber an die eigene Nase fassen. Diese Bundesregierung hat von ihren Vorgängerregierungen ein Sozialsystem übernommen, das nicht nachhaltig finanziert ist. Im Gesundheitssystem hat die CDU-geführte Bundesregierung über Jahre die Leistungen ausgeweitet und sich dafür feiern lassen, ohne eine nachhaltige Finanzierung sicherzustellen. 

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will jetzt mit einer Reform die Finanzlöcher stopfen. Glauben Sie ernsthaft, dass er die Kosten in den Griff bekommt?

Lindner: Auf Initiative des Finanzministeriums ist der Kollege Lauterbach gesetzlich verpflichtet, einen Vorschlag zu unterbreiten, wie die gesetzliche Krankenversicherung langfristig stabil finanziert wird. Das warte ich ab.

Eine weitere Baustelle ist die Rente: Die SPD will die Rentenniveau von derzeit 48 Prozent bis 2045 festschreiben. Damit macht die Ampel das System doch noch instabiler. 

Lindner: Die Verabredung der Koalition ist eine dauerhafte Festschreibung. Einzelheiten sind nicht definiert. Die Rente muss jedenfalls nachhaltig finanzierbar sein, auch für die Beitragszahler. Eine Voraussetzung dafür ist das Generationenkapital, das ich als zusätzliche kapitalmarktbasierte Stütze der gesetzlichen Rente einführe. Mit einmalig zehn Milliarden Euro, die bereits vereinbart sind, gelingt das aber nicht.

Warum gehen Sie nicht voran? Sie könnten die Aktienrente doch über Schulden finanzieren, oder sie mit Post- oder Telekom-Aktien erweitern, die im Bundesbesitz sind. 

Lindner: Die Frage verstehe ich nicht. In meinem Gesetzentwurf ist ja vorgesehen, dass in jedem Jahr zehn Milliarden Euro in die Stiftung Generationenkapital überführt werden. Zudem kann nicht benötigtes Staatseigentum als Sacheinlage gebucht werden. Wenn wir den Vorschlägen folgen und gut 15 Jahre Zins und Zinseszins nutzen, dann wird das Generationenkapital die nötige Schwungmasse haben. Ab Ende der 2030er Jahre wird dann eine spürbare Stützung des Rentensystems erreicht. 

Sie wollen in diesem Jahr ein Wachstumspaket verabschieden. Was muss da unbedingt rein?

Lindner: Das ist eine Aufgabe der gesamten Bundesregierung. Wir müssen uns daran orientieren, was gegenwärtig unseren Standort unattraktiv macht.

Was heißt das konkret?

Lindner: Wir brauchen schnelle Planungs- und Genehmigungsverfahren. Wenn man erkannt hat, dass wir generell zu langsam sind, macht es auch keinen Sinn, Entfesselung nur auf die Bereiche zu konzentrieren, die vielleicht einer Partei genehm sind. Wir müssen in der ganzen Breite schneller bei Planung und Genehmigung werden, und zwar bei öffentlichen Infrastrukturvorhaben als auch bei privaten Projekten.

Darüber wird in der Koalition seit Monaten gestritten. Droht die Ampel ihr Fortschrittsversprechen zu brechen?

Lindner: Die Bürgerinnen und Bürger können sich ein sehr klares Bild machen. Die FDP sagt: Wenn Verfahren zu kompliziert, zu langwierig, zu bürokratisch geworden sind und das über Jahre und Jahrzehnte, dann müssen wir diese für alle Vorhaben entschlacken, damit dieses Land wieder in Bewegung kommen kann, damit hier wieder Dinge möglich werden.

Das sehen die Grünen anders. Sie wollen von kürzeren Verfahren für den Bau neuer Straßen nichts wissen, weil sie gar keine neuen Straßen mehr bauen wollen.

Lindner: Das ist für die Grünen keine ökologische, sondern eine kulturelle Frage. Man kann schließlich auch mit einem Elektrofahrzeug auf einer Autobahn fahren. Und die Schwertransporte zu neuen Windparks nutzen auch die Straßen. Die Grünen sind eine Partei, die nicht individualistisch ist, sondern kollektivistisch, die tendenziell gleichmachen will. Deshalb finden die Grünen individuelle Mobilität nur dann gut, wenn sie in kollektiven Systemen oder per Lastenrad stattfindet. Wir als FDP finden individuelle Mobilität auch in individuellen Systemen gut, wie zum Beispiel mit dem Auto. 

Aber es muss doch eine Lösung her. Niemand wird verstehen, wenn die Ampel ausgerechnet beim Thema Beschleunigungsverfahren auf der Stelle tritt. 

Lindner: Die Lösung wird kommen. Regierungsintern bereiten wir sie vor. 

Nicht nur bei diesem Thema, grundsätzlich wirkt die Koalition zu Jahresbeginn ermattet und zerstritten. Warum läuft es so unrund?

Lindner: Das sehe ich anders. Deutschland ist gut durch das Krisenjahr 2022 gekommen. Das sagen auch ausländische Medien. Es sind drei unterschiedliche Partner, die sich bei jedem Thema um eine gemeinsame Lösung bemühen müssen. Das ist demokratische Normalität. Ich halte auch daran fest, dass die Freien Demokraten ihr liberales Profil behalten. Dann müssen wir uns eben manchmal vorwerfen lassen, linke Projekte zu verhindern. Umgekehrt verhindern die linken Parteien ja zum Beispiel auch die Abschaffung des Solidaritätszuschlags.

Noch lieber hätten die Bürger Ergebnisse. Was nützen all Ihre Vorschläge, wenn davon am Ende nichts kommt?

Lindner: Das stimmt nicht. Im Sommer hieß es auch, der von mir vorgeschlagene volle Inflationsausgleich bei der Einkommensteuer habe in der Koalition keine Chance.  Aber er kam. Eine enorme Steuerentlastung, die viele für unmöglich hielten.

Für dieses Jahr haben Sie eine weitere ambitionierte Steuerreform angekündigt. Was planen Sie?

Lindner: Ein steuerliches Wachstumspaket, das Abschreibungen, Investitionsprämien, steuerliche Forschungsförderung, Mitarbeiterkapitalbeteiligung und Vereinfachung bringt.

Die Superabschreibungen waren eigentlich bereits für 2022 vorgesehen. Wann kommen die nun?

Lindner: Für mich wäre es ein Leichtes gewesen, das Wahlversprechen schon zum 1. Januar 2022 umzusetzen. Aber ich habe mich seiner Zeit bei Wissenschaftler und allen Spitzenverbänden der Wirtschaft umgehört: Was ist sinnvoll, was braucht ihr? Ich will ja nicht prozyklisch die Preise treiben, indem ich auf Lieferkettenprobleme obendrauf noch Investitionsanreize gebe. Nun spricht vieles dafür, dass das der richtige Zeitpunkt naht.

Es wird demnächst einen Flüchtlingsgipfel geben. Läuft es wie immer: Länder und Kommunen bekommen mehr Geld vom Bund?  

Lindner: Geflüchtete aus der Ukraine beziehen Bürgergeld und nicht Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Dadurch sind die Länder entlastet worden. Wir haben zudem trotz der im vergangenen Jahr noch geringen Zahl an Geflüchteten hohe zusätzliche Mittel für die Länder zur Weitergabe an die Kommunen bereitgestellt, ebenso Bundes-Liegenschaften als Unterkünfte. Die Länder haben inzwischen eine wesentlich bessere Einnahmenentwicklung als der Bund und sind im föderalen Finanzgefüge der starke Partner…

…das heißt: für Sie ist jetzt die rote Linie erreicht? 

Lindner: Die Möglichkeiten des Bundes sind limitiert. Meine Erwartung an den Flüchtlingsgipfel, an meine Kollegin Nancy Faeser und die Innenminister der Länder ist: Wir müssen einen Plan entwickeln, wie wir irreguläre Migration nach Deutschland unterbinden, wie wir zu einer fairen Lastenteilung in Europa kommen. Und wie wir dafür sorgen, dass nicht Deutschland der bevorzugte Ort für Geflüchtete in Europa ist. Ich erwarte zudem die volle Unterstützung aller Ressorts für den neuen Sonderbeauftragten für Rückführungsabkommen. Es kann nicht so sein, dass jeder, der es nach Deutschland geschafft hat, darauf vertrauen kann, dass eine Rückführung aus rechtlichen oder logistischen Gründen kaum mehr gelingt. 

Eine versprochene Hilfsleistung des Bundes an die Kommunen steht aber noch aus: Die Amel will hochverschuldeten Kommunen die Hälfte der Schulden abnehmen. In der SPD heißt es, Sie würden das blockieren. Hat die SPD recht? 

Lindner: Den Vorwurf aus der SPD habe ich noch nie gehört. Und ich spreche dort regelmäßig mit Parlamentariern. Der Ball liegt bei der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Wir werden im März mit der Union sondieren, ob es Bereitschaft zu einer verfassungsändernden Mehrheit im Bundestag gibt. Das ist die Voraussetzung für alles Weitere.