Wir müssen die Vermögensschere schließen

Christian Lindner
Die Zeit

Herr Lindner, was bedeutet für Sie Liberalismus?

Lindner: Das Vertrauen in den Menschen, seine Mündigkeit und seine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Es ist die Arbeit daran, dass möglichst nichts und niemand über das Leben eines anderen mehr Macht hat als sie oder er selbst, egal, ob diese Macht von einem mächtigen Konzern, dem Bürokratismus oder dem Niederbrüllen und Anpassungsdruck einer Shitstorm- Kultur ausgeht.

Bleiben wir bei der wirtschaftlichen Dimension. Dürfte es im Liberalismus einen Konzern wie VW geben, mit 20 Prozent Staatsanteilen?

Lindner: Wir haben größere Regelungsfragen in der Wirtschaftsordnung als das VW-Gesetz in Niedersachsen. Ich sehe etwa das Problem, dass Banken und Staaten verwachsen, weil Banken Staatsanleihen ohne Risikoabsicherung halten.

Wir hatten nach VW gefragt.

Lindner: Ich würde lieber über große Fragen sprechen. Zumindest sollten Ihre Leser wissen, dass nicht ich beim VW-Gesetz anfange und dass ich der Prioritätensetzung der ZEIT Redakteure widersprochen habe. Meine Priorität sind der Silicon-Valley-Plattformkapitalismus, der faire Welthandel, die Regulierung der Finanzmärkte aus einer marktwirtschaftlichen Perspektive und bei uns der Bürokratismus und der maßlose Fiskus.

Sie widersprechen nicht, Sie geben keine Antwort.

Lindner: Jetzt komme ich zu VW: In einer idealen Welt hätte der Staat nicht Anteile an einem privaten Konzern. Wenn das geboten wäre, warum beteiligt er sich dann nicht an Daimler und an BMW? Die Staatsbeteiligung bei VW ist ein historisches Relikt, das zu einer Vermischung von politischen und privaten Interessen führt. Ich glaube auch, dass Staatsbeteiligungen dieser Komplexität nicht von Ministerpräsidenten und Ministern im Nebenamt verwaltet werden können.

Okay. Der liberale Idealzustand wäre also ...

Lindner: ... ein Staat, der den Rahmen setzt und innerhalb des Rahmens darauf achtet, dass alle nach den Regeln spielen und niemand so mächtig wird, dass der Wettbewerb selbst aufgehoben wird. Und: Alle haften für das Ergebnis ihres Handels.

Ist auch Gerechtigkeit ein Anliegen des Liberalismus?

Lindner: Es gibt mehrere Aspekte von Gerechtigkeit. Einer ist die Gleichheit vor dem Gesetz und damit auch die Gleichheit vor dem Wettbewerbsprinzip. Ein zweiter Aspekt ist Bedarfsgerechtigkeit, also Zugang zu den für das Leben notwendigen Ressourcen, zu denen ich auch Bildung und Gesundheit zähle. Und dann gibt es die Leistungsgerechtigkeit. Wenn man sich unterscheidet bei Risikobereitschaft, Fleiß und bei Talent, darf sich das auch in Unterschieden im Leben auswirken.

Darf oder muss?

Lindner: Es muss!

Würden Sie sagen, es braucht Ungleichheit als Antrieb und Ansporn einer Gesellschaft?

Lindner: Ja, eine nur an der Gleichheit orientierte Gesellschaft wäre arm, grau und langweilig. Stellen Sie sich vor, Unterschiede in der Kreativität, beim Fleiß, bei der Risikobereitschaft, beim Talent machten keinen Unterschied. Davon profitiert niemand. Erfindergeist, Schöpfermut, Wagemut, die müssen belohnt werden. Und ich glaube, mit John Rawls gesprochen, dass eine dynamische Gesellschaft, die unter den richtigen Regeln Ungleichheit zulässt, selbst den Schwächsten besserstellt als die statische Gesellschaft, die alle nur gleich schlecht behandeln kann.

Kann es nicht auch zu viel Ungleichheit in einer Gesellschaft geben? Wieder ein konkretes Beispiel: Die Quandt-Erben bekommen eine Dividendenausschüttung von je einer halben Milliarde Euro, ein Arbeiter bei BMW verdient gehen wir mal vom Anfangsgehalt aus nur ein Zehntausendstel. Ist ein solcher Unterschied zu rechtfertigen, Stichwort Leistungsgerechtigkeit?

Lindner: Sicher gibt es Grenzen der Ungleichheit. In manchen lateinamerikanischen Staaten fliegt eine reiche Oberschicht mit dem Hubschrauber vom Landsitz ins Büro, über Slums. Eine solche Gesellschaft ist ungerecht, ungleich und instabil zugleich. In Deutschland haben wir einen gesellschaftlichen sozialen Frieden trotz der Unterschiede beim Vermögen. Die Quandts zahlen übrigens auf ihre Dividende 48,34 Prozent Gesamtsteuerbelastung. Das liegt deutlich über dem durchschnittlichen Steuersatz bei der Einkommensteuer.

Für Arbeit beträgt der Spitzensteuersatz 42 Prozent, das heißt, für ein hohes Arbeitseinkommen ist die Belastung in der Spitze kaum geringer.

Lindner: Die Steuern auf Dividenden sind im internationalen Vergleich sehr hoch. Ich bin dennoch dafür, dass wir die Vermögensschere schließen. Nicht dadurch, dass wir den einen etwas wegnehmen und sie enteignen, denn dadurch würde der Mittelstand zerstört. Aber wir müssen die Vermögensbildung von Gering- und Normalverdienern ankurbeln. Stichwort Pensionsfonds und Eigenheim. Die Erbschaftsteuer könnte ein Thema werden, denn die ist verfassungsrechtlich wackelig.

Müssten Sie als Liberaler nicht eher sagen: Das ist alles schon mehrfach versteuert, ich bin dafür, die Erbschaftsteuer ganz abzuschaffen?

Lindner: Das wäre eine legitime Position: Der Tod wird nicht besteuert. Aber irgendwo müsste dieser Steuerausfall kompensiert werden.

Jetzt argumentieren Sie sehr aus der Perspektive eines Staates, der Geld besorgen muss, und nicht aus der Perspektive des Individuums.

Lindner: Wir bauen ja nicht auf der grünen Insel neu, sondern befinden uns in einer real existierenden Situation, es gibt Gerechtigkeitsvorstellungen in der Gesellschaft. Würde man auf die Erbschaftsteuereinnahmen komplett verzichten, müssten wir zum Beispiel bei den Verbrauchssteuern und bei der Einkommensteuer erhöhen. Dann würden wir auch diejenigen belasten, die nicht über Vermögen verfügen. Bei der Erbschaftsteuer gab es einen Kompromiss von Bund und Ländern und allen Parteien, den ich aus pragmatischen Gründen nicht anfassen will. Wir verhindern das weitere Auseinanderklaffen beim Vermögen, indem wir mehr Menschen in die Lage versetzen, eine private Vorsorge mit Wertpapieren aufzubauen. Dafür könnten die Veräußerungsgewinne steuerfrei werden. Und die Grunderwerbsteuer sollte für die Wohnung zur Selbstnutzung entfallen.

Noch einmal zu unserem konkreten Beispiel von den Quandts und dem Arbeiter, der ein Zehntausendfaches weniger verdient. Ist das fair?

Lindner: Der Facharbeiter bei BMW am Band ist vielleicht froh, dass nicht der Juso-Chef Kevin Kühnert über die Geschicke des Unternehmens entscheidet, sondern eine Familie Quandt, die, als es BMW in den Sechzigerjahren dreckig ging, in das Unternehmen investiert hat und sich über Jahrzehnte nicht von Finanzmärkten hat treiben lassen, sondern immer loyal zum Unternehmen und dessen Belegschaft war.

Vielleicht hat der Facharbeiter auch das Gefühl: Dass die Chefs mehr verdienen als ich, ist in Ordnung - aber der Unterschied ist zu groß geworden. Sie haben selbst den Gedanken angebracht, dass Umverteilung etwas mit dem Zusammenhalt der Gesellschaft zu tun hat.

Lindner: Zur Gerechtigkeit gehört aber auch die Garantie des Eigentums. Und diesen Vergleich mit dem Milliardär höre ich nur von Politikern und Journalisten. Im Alltag stellen sich viele eher diese Fragen: Wie geht es eigentlich in meinem Leben zu? Wie kriege ich das Geld zusammengekratzt, damit ich zum ersten Mal in der Geschichte meiner Familie eine Wohnung kaufen kann? Wie finanziere ich die stark steigenden Strompreise?

Der Sozialismus- und Verteilungsgedanke gewinnt womöglich auch deswegen so an Fahrt, weil in der Klimadebatte völlig neu über knappe Ressourcen diskutiert wird, nämlich über die Atmosphäre, unsere Lebensgrundlage. Deswegen an Sie die Frage: Dürfen Sie mehr C02 erzeugen als andere, oder muss C02-Ausstoß des Einzelnen reguliert werden?

Lindner: Er muss für die Menschheit begrenzt werden. Da stellen sich dann Verteilungsfragen, ja. Beim Klima haben wir es mit einer Knappheit zu tun. Und da frage ich: War eigentlich der Sozialismus gut in der Lage, mit knappen Ressourcen umzugehen, oder war es nicht vielmehr die soziale Marktwirtschaft, also der Ordoliberalismus in Deutschland, der bei der Verteilung knapper Ressourcen und der Hervorbringung überlegener Innovationen überlegen war?

Die Knappheit an der natürlichen Ressource "Klima" muss marktwirtschaftlich reguliert werden?

Lindner: Ja, wir brauchen weniger direkte Steuerung durch Gesetzesbefehl, zum Beispiel mit einem Termin, wann jedes einzelne Kohlekraftwerk vom Netz geht. Der Eingriff in Eigentum löst Milliarden an Entschädigungen aus. Stattdessen brauchen wir mehr indirekte Steuerung. Damit erreicht man dieselben Ziele besser.

So ein System gibt es, allerdings sehr einige schränkt, mit dem Zertifikatehandel. Den würden Sie ausweiten?

Lindner: Ja! Der C02-Zertifikate-Handel hat sich entgegen anderslautenden Gerüchten bewährt. Die Lenkungswirkung hat im vergangenen Jahr begonnen. Die C02-Zertifikate sind deutlich im Preis gestiegen. Ohne erhobenen Zeigefinger mit Ordnungsrecht ist im vergangenen Jahr weniger Kohlestrom produziert worden.

Wenn Sie sich mehr C02-Zertifikate leisten könnten als zum Beispiel unser BMW-Facharbeiter, dürften Sie mehr Auto fahren als er?

Lindner: Das ist der Punkt, der mich bewegt. Schon jetzt wird über das Ziel gesprochen, dass Autofahren, Flugreisen und Fleischkonsum verteuert werden sollen. Wer ein hohes Einkommen hat, wird sich das leisten können. Hier droht eine soziale Spaltung. Deshalb müssen wir erstens alle technischen Möglichkeiten nutzen, die Kosten für die Vermeidung von C02 so gering wie möglich zu machen. Flugzeuge können mit synthetischem, klimaneutralem Kerosin fliegen, Autos mit Wasserstoff oder mit synthetischem Kraftstoff im Verbrennungsmotor fahren. Wir brauchen Start-up- Denken! Und zweitens sollten die Einnahmen aus einem C02-Marktmechanismus pro Kopf an die Menschen zurückgezahlt werden, als eine Art Klimadividende.

Aber eine Abgabe, die lenken soll, macht doch nur Sinn, wenn das Geld eben nicht pro Kopf in der identischen Höhe zurückgeht.

Lindner: Im Gegenteil. Wer weniger C02 verursacht, als ihm pro Kopf zustünde, hat dann doch einen finanziellen Vorteil. Die Frage ist: Träumt man wie Robert Habeck von einer Gesellschaft, in der es keinen Fleischkonsum mehr gibt? Ich sage: Wer vegan leben will, soll es gern tun. Das Schnitzel sollte den anderen aber nicht verboten werden. Und auch nicht zum Luxusprodukt werden. Wir brauchen Toleranz. Wer Fleisch produziert, kann C02-Zertifikate kaufen oder C02 aus der Luft binden, indem er Wald aufforstet oder technische Lösungen zur Speicherung von C02 vorantreibt. Oder es gibt Ersatzprodukte für Fleisch, die ohne Tierhaltung aus Zellen gezüchtet werden. Solche Möglichkeiten werden sich weiterentwickeln und wirtschaftlicher werden.

Das glauben Sie, aber viele Wissenschaftler nicht.

Lindner: Moment, Szenarios des Weltklimarats bauen genau darauf. Wenn die Skeptiker richtiglägen, wäre das Klimaproblem unlösbar. Denn die USA oder China würden uns nie beim Verzicht folgen. Meine Vision ist, dass Freiheit und Wohlstand in einer klimaneutralen Gesellschaft erhalten bleiben. Genau hier hegt die Konfliktlinie zwischen einem ökologisch sensiblen Liberalismus und dem autoritären Ökologismus, der ohne Rücksicht auf Verluste Freiheit aufgibt. Der führt im schlimmsten Fall dazu, dass eine Minderheit von Funktionären, die sich für aufgeklärter und moralischer halten, über die Mehrheit regiert.

Sie sagen selbst, dass der CO2-Ausstoß die Grundlagen unseres Daseins auf der Erde begrenzt.

Lindner: Natürlich. Aber diese Menschheitsaufgabe ist kein Anlass, chinesisch anmutende Ordnungsmodelle zu übernehmen. Davor hat schon der Soziologe Ulrich Beck gewarnt. Auch Klimapolitik muss mit demokratischer Legitimität erfolgen. Dazu gehören die Verhältnismäßigkeit der Mittel und die Garantie von Grundrechten wie Freiheit und Eigentum. Ich will nicht, dass am Ende Funktionäre in Planungsbehörden darüber entscheiden, was produziert wird. Das ist nicht nur autoritär, es ist auch unklug. So werden nämlich rasch technologische Tore geschlossen, durch die nachkommende Generationen vielleicht gehen wollen! Das ist so, als hätte man 1978 gesagt, wir schaffen alle Lehrstühle für Informatik ab, denn da hatten wir ja schon die elektrische Schreibmaschine.

Die politische Landschaft ist in Bewegung wie noch nie. In vielen Ländern regieren Autokraten, Komiker oder Populisten. Eine Partei wie die SPD könnte nach 150 Jahren verschwinden. Was ist der Beitrag des Liberalismus in dieser Lage, was ist seine Aufgabe?

Lindner: Wir erleben eine Überreizung. Zum Beispiel ist viel die Rede von »Klimanotstand«, vom »Klimakollaps«. Zugleich gibt es sogar in Schweden inzwischen eine Gelbwesten-Bewegung. Die Aufgabe des Liberalismus ist es, auf Vernunft und Verhältnismäßigkeit zu bestehen, darauf, dass selbst der gute Zweck nicht alle Mittel heiligt. Und das es auch andere wichtige Themen gibt. Liberal zu bleiben heißt möglicherweise, sich zwischen den Extremen zu platzieren, um eine Lösung aus der Mitte der Gesellschaft zu erreichen.

Und was heißt das konkret für den Fall, dass es zu einem Ende der großen Koalition, einer Minderheitsregierung oder zu Neuwahlen kommt?

Lindner: Wir orientieren uns an Inhalten. Wir wollen unser Land digitaler machen, in zukünftigen Wohlstand investieren, individuelles Vorankommen und Bildung stärken. Wo es faire Kooperation gibt, sind wir offen. In Bremen kann man aber beobachten, dass die Grünen gegen den Wahlsieger CDU und die FDP lieber mit der Linkspartei regieren.

Das heißt, Jamaika ist unwahrscheinlicher geworden?

Lindner: Einerseits haben nach 2017 alle gelernt, dass eine Einigung zwischen Schwarz und Grün zu unseren Lasten nicht funktioniert. Andererseits sind die Grünen inzwischen nach links gegangen. Sie sprechen von Enteignungen, Steuererhöhungen und Verboten. Hinter philosophischem Vokabular steckt die Option Grün-Rot-Rot. Ich wage keine Prognosen.