Wir müssen das Ambitionsniveau in der Wirtschaftspolitik steigern.
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Herr Lindner, Sie und Wirtschaftsminister Robert Habeck beklagen, Deutschland sei nicht mehr wettbewerbsfähig. Warum reden Sie wie zwei Oppositionspolitiker, obwohl Sie selbst die Misere verantworten?
Lindner: Das weise ich zurück. Die strukturellen Schwächen von Bürokratie, Steuerlast, langsamer Digitalisierung und vernachlässigter Infrastruktur sind wohl kaum während der vergangenen 24 Monate entstanden. Sie treten nur jetzt sehr deutlich zu Tage, weil äußere Faktoren zusätzlich belasten. Ich nenne den in der Inflation deutlich gestiegenen Zins, die Nachfrageschwäche Chinas oder die wirtschaftlichen Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine.
Das heißt, Schuld haben, wie so oft in der Politik, die Vorgängerregierungen.
Lindner: Wem helfen Schuldzuweisungen? Sie führen unser Gespräch in die falsche Richtung. Mir geht es um die Frage: Wie entfesselt Deutschland wieder seine wirtschaftliche Substanz? Wir sind ja alles andere als ein schwaches Land. Wir haben qualifizierte Menschen, privates Kapital und viele starke Unternehmen. Uns fehlt derzeit aber die nötige Dynamik. Deutschland braucht deshalb eine Politik für wirtschaftlichen Aufschwung.
Womit Sie immer noch klingen wie ein Oppositionspolitiker. Wo ist Ihr Schlachtplan für diesen Aufschwung?
Lindner: Nein, die Regierung kann Erfolge vorweisen. Zu Jahresanfang wurden die Bürger um 15 Milliarden Euro entlastet. Die Stromsteuer für das produzierende Gewerbe sinkt auf das europäische Minimum. Wir investieren in Deutschland zudem auf Rekordniveau – beispielsweise in digitale Infrastruktur und die Bahn. Zudem haben wir ein Bürokratieabbaupaket beschlossen, das die Bürokratiekosten auf den niedrigsten Stand senken wird, seit diese ermittelt werden.
Aber?
Lindner: Es reicht nicht. Andere in der Welt sind in den vergangenen Jahren besser geworden. Wir müssen das Ambitionsniveau in der Wirtschaftspolitik steigern.
Eigentlich die Aufgabe des Wirtschaftsministers, mit dem Sie Ihre Meinung gerade hauptsächlich in den Medien austauschen. Reden Sie zu wenig miteinander und zu viel übereinander?
Lindner: Es besteht kein Mangel an Austausch zwischen Olaf Scholz, Robert Habeck und mir. In der Demokratie findet Meinungsbildung aber auch öffentlich statt. Allerdings bekenne ich, dass mich das öffentliche Bild der Koalition bisweilen irritiert.
Was genau meinen Sie?
Lindner: Beispielsweise hat der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich letzte Woche in seiner Haushaltsrede Friedrich Merz das Angebot gemacht, man könne gemeinsam über eine Aufweichung der Schuldenbremse verhandeln. Das mag seine Meinung sein, die ich respektiere. Aber wir haben eine klare Verabredung im Koalitionsvertrag. Man stelle sich vor, Friedrich Merz hätte taktisch geschickt dieses Angebot angenommen. Die Koalition wäre in eine äußerst ernste Lage geraten. Durch solche Vorstöße lenken wir auch von gemeinsamen Erfolgen ab.
Genauso könnten Sie über Robert Habeck urteilen. Wie sehr hat Sie sein Vorstoß zum Sondervermögen Wirtschaft geärgert?
Lindner: Zugegebenermaßen war ich überrascht. Aber ich sehe eigentlich immer die Chancen einer Lage. Jetzt ist zumindest klar, dass der Wirtschafts- und der Finanzminister beide sagen, dass die deutsche Wirtschaft nicht hinreichend wettbewerbsfähig ist und dass auch die Steuerlast der Wirtschaft zu hoch ist. Es ist unvorstellbar, dass dies folgenlos bleibt. Deshalb brauchen wir das, was ich Dynamisierungspaket nenne.
Dann lassen Sie uns dafür einmal ein paar konkrete Punkte durchgehen, der trockenste zuerst: Bürokratieabbau. Was, das über das erwähnte Gesetz hinausgeht, schwebt Ihnen da vor?
Lindner: Zunächst muss das, was wir haben, schnell beschlossen werden. Aber es liegt noch mehr auf dem Tisch. Beispielsweise hat Arbeitsminister Hubertus Heil unlängst gute Vorschläge gemacht, wie das deutsche Lieferkettengesetz mit seinen Berichtspflichten schlanker werden kann.
Sie plädieren außerdem für mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt. Woran denken Sie da?
Lindner: Fehlende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind in vielen Branchen eine Wachstumsbremse. Wir haben mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz bereits eine wichtige Maßnahme beschlossen. Wir brauchen ferner eine stärker fordernde Arbeitsmarktpolitik, wie wir sie bei den Geflüchteten aus der Ukraine umsetzen. Das brauchen wir überall, damit mehr Menschen vom Bürgergeld in den Arbeitsmarkt wechseln. Außerdem müssen wir attraktiver machen, dass Menschen länger arbeiten wollen statt in Rente zu gehen.
Sie sprechen von einer Anhebung des Renteneintrittsalters.
Lindner: Nein, aber in der Summe muss das Arbeitsvolumen in Deutschland steigen. Ein Beitrag kann die Individualisierung des Renteneintrittsalters sein. Wer länger arbeitet, sollte davon finanziell profitieren.
Wie genau soll das gehen?
Lindner: Ich will jetzt nicht öffentlich eine technische Debatte führen. Ich möchte Ziele benennen. Fest steht: Der Arbeitsmarkt, wie er heute ist, ist eine Wachstumsbremse in unserem Land, weil zu viele Stellen unbesetzt bleiben. Zugleich fehlen Arbeitsanreize, so dass sich für manche Bürgergeldempfänger die Sinnfrage stellt, ob sich Arbeiten lohnt. Das ist nicht nur teuer für den Steuerzahler, es ist auch ungerecht.
Kommen wir zum Knackpunkt Ihres Aufschwungplans, den Steuersenkungen für Unternehmen. Sie pochen darauf, den Soli abzuschaffen, obwohl der ja nicht nur für Firmen gilt, sondern auch für einzelne Steuerzahler mit hohen Einkommen. Warum?
Lindner: Ich habe noch auf gar nichts gepocht. Ich habe die Analyse des Wirtschaftsministers bestätigt: Die Steuerlast der Unternehmen ist zu hoch. Das sage ich schon länger. Beim Wachstumschancengesetz verhandeln wir aber gerade mit den Ländern. Da ist erkennbar, dass die Länder auf weitere Einnahmen durch Steuersenkungen gegenwärtig nicht verzichten können oder wollen. Deshalb bliebe als schnellste und einfachste Form, die Steuerlast der Wirtschaft zu senken, die Abschaffung des verbliebenen Soli. Das kann der Bund nämlich allein. Zu Einzelheiten habe ich noch nichts gesagt.
Ach ja? Das klang aber anders.
Lindner: Wenn wir die Wirtschaft beleben wollen, werden wir etwas bei der Steuer tun müssen. Von Österreich bis Frankreich haben das auch unsere Partner um uns herum gemacht. Wir sind ein Höchststeuerland.
SPD und Grüne wollen für Entlastungen lieber neue Schulden aufnehmen. Warum geht das aus Ihrer Sicht nicht – warum sind Sie nicht einfach etwas flexibler bei der Schuldenbremse und die anderen etwas lockerer beim Steuernsenken?
Lindner: Das erste Argument ist das Grundgesetz. Ich sehe nicht, dass es eine Zweidrittelmehrheit für seine Änderung gäbe.
Das ist ein rein defensives Argument.
Lindner: Dennoch muss man das beachten. Das zweite Argument ist wichtiger. Wir zahlen Zinsen auf die Staatsschulden. Die Zinslast ist von rund 4 Milliarden Euro in 2021 auf gut 36 Milliarden Euro gestiegen. Wie man da noch Appetit auf neue Schulden haben kann, erschließt sich mir nicht.
Es scheint, als prallten da zwei Denkschulen aufeinander. Sie sind für weniger Staat und wollen für die Unternehmen Rahmenbedingungen, die ihnen ermöglichen, notwendige Investitionen selbst zu stemmen. Herr Habeck wiederum glaubt, die Unternehmen schaffen das nicht und will die Investitionen, finanziert über Milliarden-Schulden, lieber selbst anschieben. Lassen sich diese Perspektiven überhaupt vereinen?
Lindner: Diese unterschiedlichen Denkschulen gibt es nicht nur in der Koalition. Ich würde sie aber etwas anders beschreiben.
Nur zu.
Lindner: Die eine Denkschule will die Bürgerinnen und Bürger schützen, an die Hand nehmen und ihr Verhalten staatlich lenken. Übertragen auf den Kampf gegen die Klimakrise ließe sich sagen: Diese Denkschule strebt eine Top-down-Transformation an, in der die Politik die Technologie vorgibt und mit schuldenfinanzierten Subventionen in die gewünschte Richtung drückt.
Und der andere Ansatz?
Lindner: Die andere Denkschule appelliert an die individuelle Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft. Diese Linie, die auch ich verfolge, will den Einzelnen natürlich auch absichern, etwa für den Fall eines Schicksalsschlags. Aber der Staat soll eben nicht alles umverteilen und jeden Unterschied nivellieren. Dieser Ansatz basiert auf marktwirtschaftlichem Wettbewerb und der Überzeugung, dass bei einem klar vorgegeben Ziel die beste Technologie durchsetzt um es zu erreichen, zum Beispiel auch beim Schutz des Klimas. Deshalb will ich ja auch die Standortbedingungen für alle Branchen, Betriebe und Technologien verbessern. Es sollte nicht der Staat mit Subventionen entscheiden, wer Erfolg und Zukunft haben soll. Das sollte Sache der Marktwirtschaft bleiben.
Versuchen wir, diese Gegensätze doch einmal zu vermählen. Was wäre, wenn Sie einem Unternehmer sagen: Du bekommst zwar keine direkte Förderung, dafür aber einen Steuervorteil, wenn Du eine klimafreundlichere Fabrik baust?
Lindner: In der Form von steuerlichen Abschreibungen gibt es das ja längst. Auch die von mir vorgeschlagene Investitionsprämie geht in die Richtung. In unserer Demokratie sind Kompromisse zwingend. Wissen Sie, was ich bedauere?
Was denn?
Lindner: In der Haushaltsdebatte im Bundestag habe ich von den sozialdemokratischen und grünen Rednern in jeder Rede nur gehört: Eigentlich möchten wir am liebsten die Steuern erhöhen und die Schuldenbremse abschaffen. Tatsächlich senkt die Regierung aber die Steuern und beachtet die Schuldenbremse. So entsteht ein Deutungsvakuum. Es wird der Eindruck der Vorläufigkeit erweckt.
Genau deswegen verstehen wir nicht, warum Sie bei der Schuldenbremse ganz so hartleibig sind. Das trägt doch zu genau diesem Eindruck bei.
Lindner: Ganz abgesehen davon, dass ich in der Sache von meiner Position überzeugt bin. Die Ampel-Koalition basiert nun einmal auf der Übereinkunft, dass wir keine Steuern erhöhen und keine Schuldenpolitik betreiben. Der Koalitionsvertrag ist eindeutig.
Das mit der Überzeugung führen ihre widerspenstigen Koalitionspartner bei ihrer Beharrung gegen Ihre Positionen auch ins Feld. Aber zur Schuldenbremse: Wie erklären Sie sich dann, dass auch im Lager der Ökonomen diejenigen mehr werden, die bei der Schuldenbremse für mehr Flexibilisierung eintreten?
Lindner: Mancher Ökonom unterschätzt, welche Büchse der Pandora da geöffnet würde. In der Praxis würden schnell Investitionen und Konsumausgaben umgebucht. Es wird auch oft ausgeblendet, wie die Zinslast schon ist. Dieses Land muss auch wieder Sicherheitspuffer für nächste Krisen aufbauen. Wir können nicht später irgendwann einmal Steuern erhöhen, um Zinsen zahlen zu müssen. Und wir müssen der Stabilitätsanker in Europa bleiben. Das sieht die Wirtschaftswissenschaft laut Umfragen mehrheitlich ähnlich. Das Bild ist recht eindeutig.
Das der Umfragen auch. Sie und die FDP lassen am meisten Federn in der Ampel. Gibt es nicht irgendwann einen Punkt, wo man sagen muss, es geht nicht mehr zusammen? Erfolglose Neustarts haben wir ja alle genug erlebt.
Lindner: Für eine Regierung und eine Koalition und ihren Bestand ist entscheidend, was im Gesetzblatt steht. Der Haushalt, der im Gesetzblatt steht, hält die Schuldenbremse ein, senkt die Schuldenquote, senkt die Steuerlast, erhöht die Investitionsquote, stärkt die Bundeswehr. Das, was im Gesetzblatt ist, ist besser als die Haushaltspolitik der Vorgängerregierung. Wir könnten den gemeinsamen Erfolg, der nun wirklich kein Selbstläufer war in den letzten 180 Tagen, auch gemeinsam hervorheben, damit alle Wählerinnen und Wähler es auch verstehen.
In deren Gunst sind sie gesunken, laut Umfragen stehen Sie und die FDP bei um die 4 Prozent, wären nach der Bundestagswahl nicht mehr im Parlament.
Lindner: Ich bin sicher, dass die Situation der FDP und ihre Wahrnehmung sich zur Bundestagswahl verändert. Und zwar aus einem Grund: Gegenwärtig wird die FDP nur als Teil der Ampel wahrgenommen. Je näher wir der Bundestagswahl kommen, wird auch die Eigenständigkeit der FDP wieder klarer werden. Denn wir werden keinen Wahlkampf für eine Koalition machen, sondern nur für uns selbst und unser Programm.
Mit welcher Botschaft? Wir haben die Schuldenbremse gerettet und das EU-Lieferkettengesetz verhindert?
Lindner: Warum persiflieren Sie das? Ja, in der Tat, wir haben die Schuldenbremse eingehalten, das ist für die Stabilität der Staatsfinanzen wichtig. Wir haben das Startchancenprogramm für die Schulen auf den Weg gebracht. Die FDP hat die größten Investitionen in digitale Infrastruktur, Bahn und Straße der letzten Jahre erreicht. Wir haben eine neue Realpolitik in der Migration durchgesetzt: Wir machen es denen leichter zu kommen, die wir am Arbeitsmarkt brauchen und denen schwerer zu bleiben, die illegal in den Sozialstaat eingewandert sind. Wir werden geschafft haben, dass wir den niedrigsten Stand der bürokratischen Belastung seit Messung der Bürokratiekosten in Deutschland haben. Wir werden die größten steuerlichen Entlastungen für die Bürgerinnen und Bürger, die arbeitende Mitte, erreicht haben im Vergleich der vergangenen Jahre. Die Liste lässt sich fortsetzen.
Wenn nichts erfolgreicher ist als Ihr Erfolg, warum rechnet dann CDU-Chef Friedrich Merz ohne die FDP im nächsten Bundestag, wenn er seinen Parteifreunden die Koalitionsoptionen der Union auffächert – große Koalition oder Schwarz-Grün?
Lindner: Friedrich Merz ist kein objektiver Beobachter, sondern ein Wettbewerber um teilweise dieselben Wähler. Ich möchte die Union nicht stören bei ihrer internen Koalitionsdebatte. Auch in der Wirtschaftspolitik ist die CDU noch auf der Suche. Nur eines kann man sicher sagen: Der Wahlkampf wird spannend.