Wir jagen die Regierung von Hannelore Kraft

Christian Lindner
n-tv

Erst Generalsekretär der FDP, dann Landes- und Fraktionschef in Nordrhein-Westfalen nun auch Vizevorsitzender der Bundespartei. Bereiten Sie Ihre Rückkehr nach Berlin vor?

Lindner: Ich habe eine spannende Aufgabe im Düsseldorfer Landtag. Nordrhein-Westfalen ist das größte Bundesland. Deshalb gehen von dort auch immer Signale in die Bundespolitik aus. Wir jagen die Regierung von Hannelore Kraft. Sie bricht die Verfassung bei der Staatsverschuldung, und sie bricht ihr Wort bei den Bezügen von Polizeibeamten und Lehrern - denen wird ein fairer und versprochener Anteil am Aufschwung verweigert. Frau Kraft reagiert zunehmend dünnhäutig auf die Kritik der Opposition. Also: Es ist eine wichtige Aufgabe, in NRW der klare marktwirtschaftliche Kontrast zu Rot-Grün zu sein. Damit bin ich gegenwärtig ausgelastet.

Sie haben einmal für die Begrenzung des Arbeitslosengeldes I für ältere Menschen auf 18 Monate plädiert. Wie verträgt sich das mit dem "mitfühlenden Liberalismus", als dessen Vertreter, wenn ich es recht verstehe, Sie sich betrachten?

Lindner: Mit dem Wort vom "mitfühlenden Liberalismus" wollte ich einen Akzept in Erinnerung rufen, dass man die im Alltag zu beobachtenden sozialen Ergebnisse in den Blick zu nehmen hat und sich nicht mit einer Gesinnungsethik bescheidet, der es nur um soziale Motive geht. Konkret: Am Arbeitsmarkt sehen wir, dass die mit der Agenda 2010 verbundene Flexibilisierung und Liberalisierung beachtliche Erfolge erzielt hat. Inzwischen hat sich auch die Lage der älteren Arbeitnehmer entspannt. Es gibt sicher noch manches Problem. Dennoch habe ich seinerzeit (2011, d. R.) eine Position der Bundesagentur für Arbeit aufgegriffen, die Bezugsdauer für ältere Arbeitnehmer zurückzunehmen, um den Arbeitgebern keinen Vorwand zu liefern, die Beschäftigung Ältere mit dem Argument anzubauen, diese hätten eine bessere soziale Absicherung. Also kein verkappter Vorruhestand.

Sie sprechen von Erfolgen der Agenda 2010. Der damalige Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, wie Sie Mitglied der FDP, hat sogar von einem Jobwunder gesprochen. Aber es sind doch überwiegend prekäre Arbeitsverhältnisse entstanden. Nur wenige haben den Sprung in feste Arbeitsverhältnisse geschafft. Wir haben vielmehr einen riesigen Niedriglohnsektor. EU-Arbeitskommissar László Andor hat gefordert, zur Stärkung der Kaufkraft in Deutschland die Löhne zu erhöhen. Ist die deutsche Arbeitsmarktpolitik wirklich so erfolgreich?

Lindner: Ich meine ja. Ich lese die Statistiken auch anders, als sie gelegentlich interpretiert werden. Wir haben in den vergangenen Jahren neue reguläre, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in Millionenhöhe bekommen. Darüber hinaus ist auch noch ein Niedriglohnsektor entstanden. Die Beschäftigten dort ersetzen aber keine regulären Arbeitsplätze. Es gibt für viele Menschen vielmehr neue, zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten. So können sich Schüler, Studenten und Auszubildende etwas hinzuverdienen. Dies gilt auch für Rentner und für die Frau oder den Mann, die mit einem Zweiteinkommen zum Familienhaushalt beitragen. Die Mehrheit der Niedriglohnverdiener sind nicht die Hauptverdiener eines Haushalts. Deshalb ist nur ein ganz kleiner Teil der Niedriglohnempfänger armutsgefährdet. Die größte Gefahr, in Armut zu geraten, ist die Arbeitslosigkeit.

Ich komme noch einmal auf die Forderung von EU-Arbeitskommissar Andor zurück. Er zielt ja darauf, durch Lohnerhöhungen die Binnennachfrage zu erhöhen, auf diese Weise deutsche Exportüberschüsse abzubauen, damit die verschuldeten Importländer entlastet werden. Dies wäre doch eine weitere Möglichkeit, den Krisenstaaten der Eurozone zu helfen.

Lindner: Wir werden ihnen nicht durch die Verschlechterung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit helfen. Jene Staaten, die sich auf dem Weltmarkt nicht durchsetzen können, müssen ihre Wirtschaftsstruktur verändern, das heißt in innovative Produkte investieren, die Wirtschaft liberalisieren, den Arbeitsmarkt flexibilisieren. In Italien dauert ein arbeitsrechtlicher Prozess im Durchschnitt 969 Tage. Das ist doch ein Hemmnis für neue Beschäftigung. Zur Lohnpolitik: In den vergangenen Jahren haben sich Gewerkschaften und Arbeitgeber außerordentlich weise verhalten. Die Tarifabschlüsse waren sehr maßvoll. Das will ich nicht durch ein Lohndiktat des Staates gefährden. Zudem steigen die Löhne inzwischen ja. Die IG Metall hat mit drei Prozent Lohnsteigerung abgeschlossen. Leider profitiert der Fiskus stärker von den Gehaltserhöhungen als die Menschen selbst …

… wegen der kalten Progression …

Lindner: … weil SPD und Grüne die Dämpfung der kalten Progression behindern. Das ist der eigentliche Gerechtigkeitsskandal. Den Menschen wird nach Jahren der Zurückhaltung jetzt vom Staat die Wachstumsdividende genommen. Hier wäre eine Anpassung des Steuersystems an die Preisentwicklung zugleich gerecht und eine Stärkung der Binnenkaufkraft.

Bevor wir uns weiter mit der Innenpolitik beschäftigen, noch einmal zur EU. Der FDP-Europaabgeordnete Jorgo Chatzimarkakis will Deutschland verlassen und in seiner Heimat Griechenland Politik machen, ggf. sogar der mitregierenden Demokratischen Linken beitreten, die von einem ehemaligen Kommunisten angeführt wird. Chatzimarkakis sagt, die deutsche Europolitik wäre eine Geisterfahrt" und "kleine Länder würden rücksichtslos" überrollt. Das ist ziemlich hart.

Lindner: Es trifft auch nicht zu. Deutschland ist solidarisch, aber nicht ohne Bedingungen. Die beachtlichen Hilfen können wir doch nur dann gewähren, wenn wir die Gewissheit haben, dass sich in den überschuldeten Ländern etwas ändert. Europa kann – in der Hoffnung auf Verbesserungen - nicht mit deutscher Bonität geflutet werden. Es müssen strukturelle Reformen nach unserem Vorbild umgesetzt werden: auf den Arbeitsmärkten - Branchen müssen flexibilisiert werden, damit Arbeitsplätze entstehen, der öffentliche Sektor - der ja in bestimmten Partnerstaaten sehr groß und sehr ineffizient ist – muss reduziert werden. Nur dann haben diese Staaten die Chance, sich wieder regulär am Kapitalmarkt zu finanzieren.

Zurück nach Deutschland, zu Ihrer Partei, die früher selbst gegen regionale, branchenspezifische Mindestlöhne war. Guido Westerwelle hat einmal gesagt, Mindestlöhne wären "linkes Teufelszeug" und bedeuteten "Planwirtschaft". Nun wollen Sie auf dem Bundesparteitag für Mindestlöhne eintreten. Holger Zastrow, FDP-Landeschef in Sachsen und wie Sie einer der Vizeparteivorsitzenden, ist dagegen.

Lindner: Ich bin – wie Holger Zastrow und Guido Westerwelle - unverändert gegen einen von Politikern festgelegten Mindestlohn. Der würde Arbeitsplätze vernichten. In Bautzen beispielsweise gibt es ein anderes Lohnniveau als in München - Mieten und Preise sind ja auch verschieden. Unterschiede im Lohnniveau sind daher normal. Ein flächendeckender Mindestlohn, der Auszubildende einschließt, würde wie in den meisten unserer Nachbarländer zu Jugenderwerbslosigkeit führen. Das einzige Nachbarland, in dem es einen Mindestlohn gibt, aber kein Problem mit der Jugenderwerbslosigkeit, sind die Niederlande. Warum? Auszubildende sind dort vom Mindestlohn ausdrücklich ausgenommen. Dennoch gibt es einen Handlungsbedarf: In weiten Teilen Deutschlands ist die Tarifbindung stark zurückgegangen. Wir wollen in den betreffenden Branchen und Regionen Bedingungen schaffen, damit man leichter zu repräsentativen Tarifverträgen kommt, die dann auf die ganze Branche ausgedehnt werden können.

Bundesweit?

Lindner: Nein, regional. Sozialdemokraten, Grüne, Linke und ein Teil der Union wollen einen Mindestlohn, der ausgehandelt wird wie die Rundfunkgebühren.

Die sind ja nun nicht ausgehandelt, sondern bestimmt worden!

Lindner: Exakt! Die CDU will eine Zentralkommission für Deutschland schaffen, die angeblich unabhängig von der Politik sein soll. Die wird so politikunabhängig sein wie der ZDF-Fernsehrat! Wir sind für einen dritten Weg. Wir wollen durch gesetzliche Justierungen erleichtern, dass die Beteiligten an Tarifverträgen - Arbeitgeber und Arbeitnehmer – in der Verantwortung bleiben. Dafür muss man nicht die ganze Tarifautonomie aushebeln, die sich ein halbes Jahrhundert bewährt hat.

Die Grünen wollen die Steuern erhöhen …

Lindner: Das haben Sie sehr diplomatisch ausgedrückt. Da würde der Mittelschicht eine beispiellose Abkassierorgie bevorstehen.

Bleiben Sie dabei, die Steuern zu senken?

Lindner: Erst muss der Haushalt konsolidiert werden, dann kann man über Entlastungen nachdenken. Diese sind durch die sehr erfolgreiche Finanzpolitik der schwarz-gelben Koalition realistischer geworden. In der mittelfristigen Finanzplanung von Bundesfinanzminister Schäuble ist vorgesehen, 2014 den Haushalt strukturell auszugleichen. 2015 kann auf zusätzliche Verschuldung komplett verzichtet werden. Für 2017 geht Herr Schäuble von einem Überschuss in Höhe von 9,4 Milliarden Euro aus. Den muss die FDP dann bewachen, denn Bundesarbeitsministerin von der Leyen hat schon viele Ideen, was man so alles damit machen könnte. Die genannte Summe steht für die Schuldentilgung zur Verfügung, aber auch für Maßnahmen wie die Dämpfung der kalten Progression. Dafür sollte man das Geld der Steuerzahler auch reservieren.

Die Grünen haben sich auf Ihrem Parteitag zu einem Bündnis mit der SPD bekannt. Werden Sie sich analog zu einer Koalition mit der Union bekennen?

Lindner: Ja, mit Sicherheit. Wir werden ein eindeutiges, nicht interpretationsfähiges Signal zur Fortsetzung der Koalition mit der CDU/CSU aussenden. Die Politik war erfolgreich, auf dem Arbeitsmarkt, bei Haushaltskonsolidierung. Auch bei der Entlastung. Denken Sie an die Abschaffung der Praxisgebühr und die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge. Wir wollen, dass Deutschland weiter aus der Mitte heraus regiert wird. Wir warnen vor französischen Experimenten, wie sie SPD und Grüne planen. Frankreich droht der kranke Mann Europas zu werden. Hier droht Ansteckungsgefahr. Deutschland soll weiter von einer bürgerlichen Koalition regiert werden.

Könnte in eine bürgerliche Koalition auch eine Alternative für Deutschland einbezogen werden? Die AfD fischt ja in den Wählerfanggründen der FDP.

Lindner: Warten wir's einmal ab. Die AfD ist jedenfalls die schlechte Alternative für Deutschland. Wenn man die europäische Orientierung, insbesondere die gemeinsame Währung infrage stellt, geht das zulasten unserer Interessen. Wer kauft denn in Frankreich, Italien oder Griechenland noch unsere Produkte, wenn der Euro zerbricht? Ich sage voraus: Dann wird es eine protektionistische Handelspolitik geben, die Märkte werden sich abschotten. Das schadet der exportorientierten deutschen Wirtschaft. Das ist verantwortungslos. Wer verantwortungslos ist, ist auch keine bürgerliche Partei.

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler hat die Gründung der AfD begrüßt.

Lindner: Vielleicht hat er es im Sinne von Voltaire gemeint, der immer gesagt hat, auch eine andere Meinung hat das Recht, geäußert zu werden.

In Ihrer Partei gibt es Stimmen, die sagen, man müsse aufpassen, dass man beim "Auf- und Abräumen" nicht auch noch das Profil der FDP auf- und abräumt?

Lindner: Das sind Sprüche, die mehr nach Marketing als nach Verantwortung klingen. Für mich ist wichtig, dass die FDP ein in sich geschlossenes Programm hat. Wenn sich die Welt aber ändert, muss man an der einen oder anderen Stelle auch das Programm anpassen. Die Welt richtet sich nicht nach unserem Programm. Das muss sich nach den Fragen der Zeit richten. Unser Profil ist eindeutig: Wir sind die Partei der Selbstbestimmung, der individuellen Verantwortung, eine Partei, die bei den großen Fragen auf den Staat setzt, der klare Regeln vorgibt, den Einzelnen aber nicht bevormundet. Wir bauen auf das Individuum in seiner Vielfalt, anders als die SPD, die mit ihrem "Das Wir entscheidet" das Kollektiv vorzieht und die Interessen des Einzelnen unterpflügt. Deshalb: Keine Angst vor programmatischer Weiterentwicklung, um Realitäten zur Kenntnis zu nehmen.

Also wird es ein ruhiger Parteitag?

Lindner: Sicher wird in einer liberalen Partei auch diskutiert, aber wir werden am Montag mit guten Ergebnissen in den Wahlkampf einsteigen.