Voraussetzung der Kindergrundsicherung ist, dass wir überhaupt eine prosperierende Wirtschaft haben.

Christian Lindner
FAZ

Lesedauer: 6 Minuten

 

Herr Minister, die Ampel hatte sich vorgenommen, nach der Sommerpause besser zu regieren. Weniger Streit, mehr Teamplay. Nun endet die Sommerpause mit dem nächsten Krach, die grüne Familienministerin blockiert Ihr Wachstumschancengesetz. Wie konnte das passieren?

Lindner: Diese Frage müssen Sie an den grünen Koalitionspartner richten. Es ist offensichtlich, dass wir Impulse für mehr Wachstum brauchen. Ein wichtiger Baustein dafür ist das geplante Wachstumschancengesetz. Es sieht neue Investitionsprämien, Steuervereinfachungen, bessere Abschreibungsmöglichkeiten und mehr Forschungsförderung vor. Das alles ist in der Sache unstrittig. Auch der grüne Bundeswirtschaftsminister unterstützt das Gesetz. Es wurde dennoch aus den Reihen der Grünen heraus aus sachfremden Gründen gestoppt. Ich hoffe nun auf eine rasche Klärung.

Ist es zutreffend, dass die Grünen Ihre Pläne zur Stärkung von Investitionen nur akzeptieren wollen, wenn Sie dafür mehr Milliarden für die Kindergrundsicherung herausrücken?

Lindner: Nein, das ist so nicht richtig. Drei grüne Ressorts haben dem Gesetz ja zugestimmt, eines nicht. Abgesehen davon ist es so, dass nur das an Staatsgeld verteilt werden kann, was Menschen und Betriebe zuvor erarbeitet haben. Die logische Voraussetzung einer neuen Leistung wie etwa der Kindergrundsicherung ist, dass wir überhaupt eine prosperierende Wirtschaft haben.

Viele Bürger dürften genervt davon sein, dass die Regierung schon wieder streitet. In welcher Stimmung sind Sie selbst?

Lindner: Ich würde mir auch wünschen, dass wir Sachfragen nach vorne stellen. Und es ist nicht hilfreich, ganz unterschiedliche Vorhaben sachfremd miteinander zu verknüpfen.

Aus Ihrer Partei kommt der Vorwurf der „Erpressung“. Finden Sie das Vorgehen Ihrer Ministerkollegin fair?

Lindner: Mir geht es auch darum, dass Kinder und Jugendliche gute Perspektiven haben. Nicht die Herkunft soll über den Lebensweg entscheiden. Deshalb setzen wir uns gemeinsam für bessere Kitas und Schulen ein. Wir zahlen auch Sachleistungen aus und fördern über das Bildungs- und Teilhabepaket. Wenn wir aber über Kinderarmut reden, dann müssen wir noch einen anderen wichtigen Punkt beachten: Er gibt einen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut. Sprachkenntnisse und Bildung, insgesamt die Arbeitsmarktintegration der Eltern, sind mitentscheidend für die Situation von Kindern. Unser Ziel muss es sein, dass Eltern ihr eigenes Einkommen erzielen. Ihnen einfach nur mehr Sozialtransfers zu überweisen, verbessert nicht zwingend die Lebenschancen der Kinder.

So, wie Sie das sagen, klingt das, als erklärten Sie Ihrem Geiselnehmer, dass er sich bitte vernünftiger verhalten solle. Ist das aussichtsreich?

Lindner: Wir haben doch ein gemeinsames Anliegen, nämlich die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Und dazu möchte ich eine Sachdebatte führen. Eine fünfköpfige Familie, die Bürgergeld bezieht, erhält heute schätzungsweise 36.000 bis 38.000 Euro im Jahr vom Steuerzahler. Überproportional viele dieser Familien haben eine Einwanderungsgeschichte und stehen zunächst nur theoretisch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, weil ihnen Qualifikationen fehlen. Aus meiner Sicht hilft es da wenig, ihnen jetzt hohe zusätzliche Transfers zu zahlen, seien es 1000 oder gar 3000 Euro im Jahr. Es muss auch spürbare Anreize geben, die Hilfen des Sozialstaats zu Sprachförderung, Qualifikation und Arbeitsaufnahme anzunehmen. Das ist übrigens auch eine zentrale Frage der Gerechtigkeit all jenen gegenüber, die für ihr Einkommen arbeiten.

Wie haben Sie erfahren, dass Frau Paus ihr Veto einlegen würde?

Lindner: Das wurde mir in der Vorbereitung der Kabinettsitzung bekannt. Da es aber keine Einwände gegen das Wachstumschancengesetz selbst gibt, rechne ich mit einer Einigung und einem Beschluss bei der Kabinettsklausur Ende August in Meseberg. Und an einem Konzept für die Kindergrundsicherung wird ja schon länger gearbeitet. Der Kanzler hat darum gebeten, dass die Familienministerin bis Ende August einen Gesetzentwurf vorlegt.

Falls es zusätzliche Milliarden für die Kindergrundsicherung geben sollte – wo müssten die eingespart werden?

Lindner: Da es noch kein geeintes Konzept gibt, können wir nicht wissen, wie viel an Mitteln nötig ist. Klar ist aber: Jede neue dauerhafte, gesetzlich fixierte Ausgabe ist nur dann verantwortbar, wenn es eine Gegenfinanzierung gibt. Die Sozialausgaben dürfen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nicht immer weiter enteilen. Außerdem fehlen in unserer mittelfristigen Finanzplanung immer noch fünf Milliarden Euro jedes Jahr. Im Prinzip bedeutet das: Bevor wir Ausgabenspielräume erweitern können, müssen wir erst einmal genügend Einsparmöglichkeiten finden, um über die Schwelle von fünf Milliarden Euro hinauskommen.

Hat Ihnen Minister Habeck eigentlich eine Erklärung gegeben für das Veto seiner Ministerin?

Lindner: Ich möchte mich jetzt eigentlich nicht weiter über die Grünen äußern.

Wollen Sie sich über Ihre Zusammenarbeit mit dem Kanzler äußern? Dessen Wirken ist ja auch betroffen.

Lindner: Der Kanzler hat angekündigt, dass in Meseberg das Wachstumschancengesetz beschlossen wird. Das halte ich für eine Chance, denn der Entwurf meines Hauses ist ja nur ein Baustein. Das Gesetz enthält wichtige Maßnahmen, aber die Herausforderung ist größer. Wir müssen ganz grundlegend die Bedingungen für wirtschaftliches Wachstum am Standort Deutschland verbessern und dazu auch bei den Standortbedingungen ansetzen: Fachkräfte, Energiekosten, Bürokratismus, Planungs- und Genehmigungsverfahren, Digitalisierung, die enorm hohe Steuer- und Abgabenlast.

Diese Woche ergab eine Umfrage, dass mehr als zwei Drittel der Deutschen den Staat für überfordert halten. Können Sie das nachvollziehen?

Lindner: Mein gesamtes politisches Wirken erklärt sich aus zwei Quellen. Die eine ist, dass ich Freiheit, Selbstbestimmung, Individualität, Respekt vor unterschiedlichen Lebensweisen und einer liberalen Gesellschaftspolitik zur Durchsetzung verhelfen will. Zweitens bin ich zutiefst davon überzeugt, dass dieser Staat unter seinen Möglichkeiten bleibt. Wir lähmen uns derzeit durch Bürokratismus. Der Staat steht sich selbst im Weg. Er ist enorm kostenträchtig. Und bis heute machen wir keinen Haushalt, der Mittel einspart. Wir begrenzen nur das zusätzliche Ausgabenwachstum. Aber wir schaffen es gegenwärtig trotzdem nicht, mit den enormen Finanzmitteln die wirklichen Probleme zu lösen. Das Problem besteht aus immer mehr Umverteilung durch einen immer weniger treffsicheren Sozialstaat. Deshalb fehlen uns die Mittel dort, wo wir sie für Modernisierungsaufgaben brauchen. Das muss sich ändern, dann wächst auch wieder das Vertrauen der Menschen in den Staat.

Könnte es sein, dass viele Menschen den Eindruck haben, die Bundesregierung wisse selbst nicht, wohin sie wolle?

Lindner: Die Probleme, die unser Land hat, sind über die letzten mehr als zehn Jahre entstanden. Über viele Jahre wurde gedacht, die Betriebe seien unendlich belastbar. Und jetzt stellen wir fest, dass sie es nicht sind. Wir haben es mit Defiziten zu tun, weil die Bundeswehr strukturell vernachlässigt worden ist, weil man glaubte, sie sei das Sparschwein, das man schlachten könnte, um zusätzliche Sozialleistungen einzuführen. Wir haben viel zu lange hingenommen, dass Migration in Deutschland nicht auch nach unseren Interessen gesteuert wird. Damit meine ich, dass Einwanderung in den Arbeitsmarkt erleichtert und gleichzeitig irreguläre Einwanderung in den Sozialstaat unterbunden wird. Das sind strukturelle Aufgaben, die nicht auf den Wahltag 2021 datieren.

Die FDP steht in den Umfragen nicht so da, als würden ihr viele Wähler Lösungen zutrauen.

Lindner: Was die Wähler der FDP zutrauen, wird man bei der Bundestagswahl 2025 sehen. Jetzt, etwa zur Hälfte der Legislaturperiode, steht auf der Habenseite, dass wir zur Schuldenbremse zurückkehren. Auf der Habenseite steht eine der größten steuerlichen Entlastungsmaßnahmen, um die kalte Progression abzuwenden. Auf der Habenseite steht die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren. Auf der Habenseite steht endlich ein marktwirtschaftlicherer Klimaschutz, der die planwirtschaftlichen Sektorziele der vorherigen Regierung überwindet. Auf der Habenseite steht eine modernisierte Gesellschaftspolitik, inklusive einer verbesserten Fachkräfteeinwanderung. Als nächstes kommen noch das Generationenkapital in der gesetzlichen Rente, die Verbesserung der privaten Altersvorsorge, die Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur und ein weiter spürbarer Bürokratieabbau. Und dann werden die Wählerinnen und Wähler 2025 beurteilen, ob ihnen gefallen hat, was die Freien Demokraten positiv erreicht haben, und was sie unterbunden haben, um unser Land in der Mitte zu halten und nicht nach links driften zu lassen, und ob sie sich davon in Zukunft mehr wünschen.

Was Sie auf der Habenseite sehen, sind alles Kompromisse. Anders geht es in Koalitionen ja auch nicht. Die AfD verspricht Kompromisslosigkeit – und ist damit zur Zeit sehr erfolgreich.

Lindner: Die AfD als Partei muss man unterscheiden von ihren Wählerinnen und Wählern. In der Partei gibt es ein Programm, das mit dem Austritt aus der Europäischen Union und der NATO unser Land isolieren, wirtschaftlich ruinieren und dadurch politisch und gesellschaftlich destabilisieren würde. Die Probleme, die sich für Großbritannien aus dem Brexit ergeben, würden um ein Vielfaches übertroffen werden von dem, was sich aus der Umsetzung des AfD-Programms für unser deutsches Vaterland – ich verwende das Wort bewusst – ergeben würde. Bei den Wählerinnen und Wählern der AfD gibt es allerdings auch solche, die diese Partei nur unterstützen, um ein Signal an die etablierten Parteien zu senden. Sie beklagen Bürokratismus, das tue ich auch, sie beklagen ideologischen Klimaschutz und ebensolche Energiepolitik, das tue ich auch, sie beklagen hohe steuerliche Abgabenlast, das tue ich auch, sie fordern eine andere Migrationspolitik, das tue ich auch. Und an all den Punkten arbeiten wir innerhalb der Regierung im Wissen darum, dass man, wenn man nicht die absolute Mehrheit hat, in der Demokratie nur schrittweise mit anderen vorankommt oder gar nicht.