Viele Modernisierungen sind liegen geblieben

Christian Lindner
Stern

Herr Lindner, gerade jetzt, im späten Herbst - riechen Sie den Frühling? 

Lindner: Wenn Sie die Situation in Berlin meinen: Ja, es ist etwas ins Rollen gekommen. 

Es scheint, als gehe ein Ruck durch die CDU. Was erwarten Sie vom CDU-Parteitag Anfang Dezember?

Lindner: Ich setze auf einen Aufbruch für die CDU, aus dem ein neuer Anfang für Deutschland werden kann. 

Und wen wünschen Sie sich persönlich: Jens Spahn, Annegret Kramp-Karrenbauer und Friedrich Merz?

Lindner: Diese Entscheidung überlasse ich der CDU. Annegret Kramp-Karrenbauer hat eine Regierung geführt und Wahlen gewonnen. Sie ist gesellschaftspolitisch konservativ und wirtschaftspolitisch eher links. Jens Spahn war so mutig, Defizite in der Migrationspolitik anzusprechen. Und Friedrich Merz ist ein Anhänger der sozialen Marktwirtschaft, überzeugter Transatlantiker. Das Establishment seiner Partei sieht als Defizit, dass er nie regiert und nie Wahlen gewonnen hat. Ich traue es aber allen dreien zu. 

Eine Regierung mit Ihnen?

Lindner: Das liegt nicht bei uns. Wir sind gesprächsbereit. Im Zeitalter Merkel gab es leider keinen Willen, ein neues Kapitel für das Land aufzuschlagen.

Merz hat gerade das größte Momentum. Könnten Sie mit ihm?

Lindner: Ich schätze Friedrich Merz, kenne ihn lange - vor allem über den Fußball und den Karneval.

In welcher Verkleidung?

Lindner: Orden wider den tierischen Ernst – also mit Kappe. Und ansonsten Dortmund, also schwarz-gelb. Ohnehin mein Lieblingsfarbkombination. 

Was schätzen Sie an ihm – außer, dass er als Neoliberaler gilt?

Lindner: Wir haben nicht vergessen, dass er unser Nein zu Jamaika öffentlich als „verständlich“ bezeichnet hat. Allerdings ist über seine Positionen wenig bekannt. Ich habe seine Forderung nach einer europäischen Arbeitslosenversicherung gelesen. Dadurch würden die deutschen Beitragszahler die negativen Folgen der italienischen Wirtschaftspolitik kompensieren. Ich bin für ein starkes Europa, aber finanzpolitische Eigenverantwortung ist essenziell. Inzwischen distanziert sich Friedrich Merz von seiner Initiative. Es bleiben  Fragezeichen. 

Das klingt nach durchsichtigem Appell an bürgerliche Wähler: Auch wenn der liberale Merz rankäme, es braucht, bitte!, trotzdem die FDP!

Lindner: Nein, Wettbewerb belebt das Geschäft. Herr Merz lobt ja ostentativ die Grünen. Das dürfte taktische Gründe haben, zeigt aber unverändert viel Raum für liberale Wirtschaftspolitik. Unabängig davon ist es gut, wenn wieder mehr über das Erwirtschaften als über das Verteilens des Wohlstands gesprochen würde. Die FDP versteht unter Liberalität allerdings nicht nur Gewerbefreiheit, sondern auch die individuelle Freiheit.  

Stehen wir denn politisch tatsächlich vor einer Zeitenwende?

Lindner: Ja. Viele Modernisierungen sind liegen geblieben. Es muss zudem die innere Einheit wiederhergestellt werden. Es gibt eine Entfremdung, ausgelöst durch die Flüchtlingspolitik. Mit einer Kanzlerin, die 13 Jahre regiert hat, war das nicht mehr möglich. Die Geschichte wird ihr Urteil fällen.

Und wie wird das lauten?

Lindner: Das überlasse ich Historikern. Jetzt richten wir den Blick nach vorn. Unser Land ist stark, aber es muss modernisiert werden – eine Bildungsrevolution mit einer Reform des Föderalismus, neue Technologien wie die Digitalisierung, ein Sozialstaat, der Sicherheit gibt, aber auch bezahlbar und flexibel ist. 

Vor einem Jahr noch hätten Sie fast mit dieser Frau Merkel koaliert.

Lindner: Nein, es gab kein gemeinsames Verständnis. Nicht mal in der Frage „Soli abschaffen“. Frau Merkels Taktik war: Nach der asymmetrischen Demobilisierung, also der Strategie, den Gegnern die Themen wegzunehmen, müssen die Grünen auf Dauer für das bürgerliche Lager eingekauft werden. Die Zeche sollten wir zahlen. 

Ohne Angela Merkel stünde die Tür zu Jamaika sofort wieder offen?

Lindner: Das liegt nicht allein an uns. Klar war, dass mit Frau Merkel keine Regierungsbildung möglich war. Jetzt ändert sich die Konstellation. Angela Merkel ist für mich eine Per-son der Zeitgeschichte. Die CDU bekommt eine neue Spitze. Die Grünen haben bereits eine neue, die CSU in Kürze auch. Das Thema Jamaika 2017 ist beendet. Natürlich bleibt unser Motto „Lieber nicht regieren als falsch“. Andererseits gilt: Wenn man gut regieren kann, darf man das Land nicht den Falschen überlassen. 

Am liebsten aber ohne vorherige Neuwahlen, oder?

Lindner: Darüber entscheidet der Bundespräsident. Wir machen unsere Gesprächsbereitschaft nicht von Neuwahlen abhängig, sondern von zwei Anforderungen: Es muss ein echter Aufbruch für das Land möglich werden, und es muss den Willen zu einem fairen Miteinander geben.

Es klingt mehr nach Krieg als nach Flirt, wenn Sie den Grünen vorwerfen, sie wollten das Volk umerziehen, seien Klimanationalisten. 

Lindner: Die Grünen sagen selbst, sie seien eine linke Partei. Das merkt man am Programm: Steuererhöhungen, Verbote, Umverteilung, keine wirksame Steuerung bei der Migration. Nicht einmal sich illegal bei uns Aufhaltende wollen sie konsequent abschieben. Das darf man so sehen, aber wir haben eine andere Philosophie. In Regierungen muss man da zu Kompromissen kommen. Die zu organisieren, ist insbesondere die Aufgabe eines Regierungschefs. Das ist schwer, aber in einer politischen Partnerschaft ist im Prinzip jeder gleich stark. 

Sagt der Chef jener Partei, die bei Neuwahlen wahrscheinlich deutlich hinter den Grünen landen würde.

Lindner: Das sollte man abwarten. Die Grünen in Rheinland-Pfalz sind in der dortigen Ampel schwächer als wir, werden aber fair behandelt. Ziel einer Koalition muss sein, dass jeder der Beteiligten glänzen kann. Willy Brandt hat 1969 bei Walter Scheel angerufen und gesagt: Herr Scheel, ich will, dass mein Koalitionspartner reüssiert, welche Ministerien brauchen Sie dafür? Sollte eine Regierung gebildet werden, bei der einer am Tisch vorsätzlich und planvoll geschwächt werden soll, kann ich nur davon abraten einzutreten!

So haben Sie damals empfunden? 

Lindner: Klar.

Das klingt nach Kränkung.

Lindner: Nein, das muss man sportlich sehen. Allerdings muss man sagen, dass das Nein zu Jamaika auch nur die bessere von zwei schlechten Alternativen war. Eine erfolgreiche Koalition wäre uns lieber gewesen. Jetzt gilt: Lieber berüchtigt, als politisch tot.

Berüchtigt, aber auch schwächer. Vom Chaos der Großen Koalition profitieren die AfD und vor allem die Grünen. Bei den letzten Wahlen hat sich gezeigt, dass die meisten Stimmen, die die Union verliert, nicht bei Ihnen landen, sondern bei Robert Habeck! Vielleicht sind Sie überflüssig geworden.

Lindner: Die Bedeutung einer Partei hängt doch zuerst von den Inhalten ab. Eine zweite Partei, die Vertrauen auf den einzelnen Menschen, Freude an Schaffenskraft, Technologieoffenheit und Toleranz verbindet, gibt es nicht. Mir ist lieber, die Grünen gewinnen als die AfD. Die profitieren aber vor allem davon, dass sie nicht mit den Berliner Querelen in Verbindung gebracht werden. Wir momentan schon. 

Dann müssen Sie sich aber doch vor Neuwahlen fürchten!

Lindner: Warum? Wir haben bei den beiden Landtagswahlen zugelegt. Ich bin sicher, wir wären auch bei Bundestagswahlen stärker. Es gibt Widerstand, aber eben auch viele Menschen, die unseren klaren Kurs unterstützen.

Die Grünen sind aber in Umfragen zweitstärkste Kraft! Mit fast doppelt so vielen Prozent wie Sie. 

Lindner: Wenn man SPD und Grüne addiert, hat sich nicht viel verändert. Gut wäre es, wenn jenseits der Umfragen einmal wieder über die Sache gesprochen würde. Das Mega-Thema Klimawandel bietet sich an. Die ökologische Sensibilität ist bei allen gewachsen. Ich zweifle aber an der Methode der Grünen, weil sie sehr planwirtschaftlich und national denken. Stichwort Verbot des Verbrennungsmotors in Deutschland. Durch eine solche Politik hat Deutschland inzwischen die höchsten CO2-Vermeidungskosten der Welt. Wir sind das abschreckende Beispiel. Die FDP will die Innovationskraft des Marktes nutzen. Ich mache einmal einen Vorschlag: Wir stärken Technologieoffenheit und den Ideenwettbewerb, indem wir CO2 in Europa einen Preis geben. Und zwar nicht nur für die Emissionen von Energie und Industrie, sondern in allen Sektoren. Das soll nicht alles teurer machen, sondern im Gegenteil die Kosten senken. 

Haben Sie das mit Herrn Habeck schon so besprochen?

Lindner: Er kennt unsere Meinung. Aber die Grünen sind natürlich auch eine Partei mit Interessen, Zielgruppen und Kampagnen. Zudem scheinen sie mir gespalten. Sie haben einen Flügel, mit dem wir zusammenarbeiten können. Der andere Flügel hätte lieber Grün-Rot-Rot. Die denunzieren uns im Bundestag als rechte Partei, obwohl wir in der Außen-, Sicherheits- und Handelspolitik weit europäischer denken als die. Es ist ja ein Zeichen, dass die Partei von Herrn Macron gemeinsam mit unserer liberalen Familie in die Europawahl ziehen will.

Sie sprechen einerseits von Weltoffenheit, andererseits beschreiben Sie die Angst, beim Bäcker nicht mehr zu wissen, wer da in der Schlange steht: ein hoch qualifizierter Entwickler oder ein illegaler Ausländer... So reden Rechtspopulisten.

Lindner: Ich sehe keinen Widerspruch. Die Voraussetzung für Toleranz ist eine funktionierende staatliche Ordnung. Die Anekdote geht nicht auf mich zurück, sondern auf einen schwulen Einwanderer aus Asien, der seit 2015 diese Unsicherheit spürt, wenn er beim Bäcker stehe. Er sagte: Bitte schottet das Land nicht ab, bitte verteidigt Toleranz und Säkularität, aber gebt den Menschen das Vertrauen in ihren handlungsfähigen Rechtsstaat zurück. 

Sie wurden also nur falsch zitiert?

Lindner: Nein, ich wurde ja gar nicht zitiert. Mit Schnipseln wurden falsche Motive unterstellt. Der Vorwurf des Alltagsrassismus war so überdreht, dass er die Überreiztheit von Debatten entlarvt hat. Begriffe wie Rassismus und Rechtsruck werden inflationär genutzt. 

Breitet sich nicht eher das Problem selbst inflationär aus?

Lindner: Wir müssen wehrhaft und wachsam sein, aber zugleich auf dem Teppich bleiben.

Ist die Debattenkultur hysterischer geworden?

Lindner: Härter, hektischer, auf jeden Fall.

Haben Sie manchmal Mitleid mit der Großen Koalition?

Lindner: Das ginge zu weit. Aber die Instabilität der politische Landschaft kann niemanden freuen. Die Regierungsbildung wird künftig viel schwieriger. Und wenn eine Traditionspartei wie die SPD in schweres Fahrwasser gerät, empfinde ich keine Häme. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Wenn so eine Stimme ausfällt, ist das nicht gut für die politische Kultur. 

Der politischen Kultur schadet auch, wenn die Handelnden den richtigen Zeitpunkt für den Absprung verpassen! Angela Merkel, Horst Seehofer – warum fällt es Politikern so schwer, rechtzeitig zu gehen?

Lindner: Horst Seehofer, hat eine politische Lebensleistung, die Respekt verdient. Am Schluss schien er in der Sache verrannt und durch persönliche Verletzungen von Frau Merkel bestimmt. Dass er den Weg freimacht, ist für alle Beteiligten ein guter Schritt. 

Aber warum erst jetzt? 

Lindner: Weil er glaubte, noch gebraucht zu werden. Herr Seehofer hatte noch persönliche Rechnungen mit Frau Merkel offen. Hinzu kam sicher die Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die ich ihm abnehme. Er zog daraus nur die falschen Konsequenzen: Islamdebatten, Kreuze an die Wand, Kuscheln mit Ungarns Präsident Orban. Man kann Liberalität nicht verteidigen, wenn man sie aufgibt. Der richtige Schritt wäre ein modernes Einwanderungsgesetz. Ich bin mir sicher, dass die gesellschaftliche Mehrheit in der Mitte zwischen CSU und Grünen liegt.

Bei den Frauen landet die FDP aber immer noch nicht. 

Lindner: Da müssen wir thematisch weitere Kompetenzen herausstellen. Bei der Frage eines flexiblen, modernen Sozialstaats, der die Menschen in Ruhe lässt, aber nicht im Stich. Bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Da wünsche ich mir Vertiefung. Die gelingt bei Frauen aber erst, wenn du nicht nur redest, sondern machst. 

Haben wir schon verstanden: Sie wollen endlich ran in Berlin!

Lindner: Ja, wir wollen ran. 

Und – warum ist nun die FDP weiter ein Männerverein?

Lindner: Das ist auch für mich eine Mischung aus Rätsel und Herausforderung. Wir haben ein Programm, das für sehr viele Frauen interessant sein müsste. Die FDP steht für ein modernes Gesellschafts- und Familienbild. Aber pragmatisch und entspannt, nicht so ideologisch verbissen. 

Das kommt nicht an, wenn die Bühnen voller Männer und die Attribute der FDP Härte, Leistung, Kälte sind.

Lindner: Das ist eine Karikatur. In den beiden Landtagswahlkämpfen war unser wichtigstes Thema frühkindliche Förderung – und dass das von Männern vertreten wurde, ist zeitgemäß. Wenn man Ihre Argumente umkehrt, heißt das: Frauen wählen Frauen. Und Frauen wählen nur so genannte warme Themen, weil sie kein Interesse an den kalten Themen Wirtschaft und Leistung haben. Richtig ist, dass Frauen anders angesprochen werden wollen. Auf Veranstaltungen applaudieren Männer bei Zitaten von Ludwig Erhard und polemischen Attacken gegen den Gegner. Frauen hören da gar nicht hin. Wir brauchen Geduld.

Was sagen Sie jenen, die sich abgehängt fühlen, die Angst haben, aus der Wohnung zu fliegen oder pflegebedürftig zu werden?

Lindner: Das sind die Aufgaben eines treffsicheren Sozialstaats. Die Sache liegt tiefer. Es gibt jene, die Angst haben vor einem kulturellen Identitätsverlust, vor entfesselter Globalisierung und Digitalisierung. Und es gibt jene, die es kaum erwarten können, dass neue Technologien den Alltag vereinfachen. Diesen Ausgleich glaubwürdig zu schaffen, geht über eine einzelne Partei hinaus. Da sind alle gefordert.