So wie wir die Freien Demokraten erneut haben, wollen wir das Land erneuern

Christian Lindner
Die Welt

Herr Lindner, abgesehen von Ihrem Urlaub, den Sie genießen. Er sei Ihnen gegönnt. Genießen Sie auch, dass Sie und Ihre Partei derzeit so gefragt, fast begehrt sind?

Lindner: Sie spielen auf die taktischen Koalitionsdebatten der SPD an? Die nehme ich nicht ernst. Nach der Niederlage im Saarland will Herr Schulz von der realen Linksoption ablenken. Ich habe meiner Partei geraten, sich daran nicht zu beteiligen. Erst waren wir die Unberührbaren, jetzt sehen uns manche als nützliche Idioten für beliebige Mehrheiten. Wir haben die Freien Demokraten erneuert, weil wir das Land erneuern wollen. Deshalb stellen wir unsere Projekte wie die Modernisierung des Bildungsföderalismus heraus, bevor wir Koalitionen beurteilen.

Für Nordrhein-Westfalen haben Sie schon selbst eine Ampelkoalition ausgeschlossen. Mit der SPD allein aber würden Sie schon regieren, oder?

Lindner: Die grün-rote Wirtschaftspolitik der letzten Jahre war Sabotage. Die Schulministerin hat sogar ihre grüne Parteibasis gegen sich aufgebracht. Hannelore Kraft musste zu dieser Politik nicht gezwungen werden. Denn es hätte ja schon seit 2012 eine sozialliberale Mehrheit gegeben. Natürlich würden wir Gesprächsangebote von SPD oder CDU nicht ablehnen, weil wir gestalten wollen und bereit zu einem Neuanfang sind. Eine SPD, die die bisherige Politik von Hannelore Kraft fortsetzen will, könnte für uns aber nur schwerlich ein Partner sein. Deshalb glaube ich, dass die SPD die CDU in NRW billiger einkaufen kann als die FDP. Wir haben den Ehrgeiz, dritte Kraft bei der Wahl zu werden. Dann hätten wir Verhandlungsmacht bei Koalitionsgesprächen, und im Falle einer großen Koalition würde die Opposition von uns aus der Mitte angeführt statt von den Rändern.

Warum steht Ministerpräsidentin Kraft in den Umfragen so gut da?

Lindner: Das ist ein Rätsel. Nichts ist besser geworden unter Rot-Grün, aber vieles schlechter. Ich vermute einen Effekt wie bei Winfried Kretschmann und Malu Dreier. Beide haben zwar ihre Regierungsmehrheit verloren, konnten aber ihren Koalitionspartner aussaugen. Entscheidend ist, dass am 14. Mai Rot-Grün beendet ist.

Eines haben Sie mit Frau Kraft gemeinsam: Sie profitieren von der Schwäche des Unionskandidaten Armin Laschet.

Lindner: Erstens halte ich Armin Laschet nicht für schwächer als Frau Kraft. Zweitens hatten wir auch bei der letzten Wahl schon 8,6 Prozent. Wir haben also eine feste Basis. Drittens glaube ich nicht mehr an ein System kommunizierender Röhren. Die FDP steht für Tempo bei der Modernisierung, einen handlungsfähigen Rechtsstaat, wieder mehr Eigeninitiative und Weltoffenheit. Dafür gewinnen wir ehemalige Wähler der CDU, ehemalige Wolfgang-Clement-Wähler der SPD und frühere Grüne, die deren Fortschrittsskepsis und deren erhobenen Zeigefinger lästig finden.

Inwiefern beeinflusst Martin Schulz’ Kandidatur die Wahl in Nordrhein-Westfalen?

Lindner: Er beeinflusst die innenpolitische Debatte in ganz Deutschland. Und ich begrüße das. Er redet über Gerechtigkeit. Auch das ist nötig. Denn in der Mitte der Gesellschaft schafft es eine Familie kaum noch, mit Arbeit und Sparsamkeit am Ende des Berufslebens in den eigenen vier Wänden zu leben. Das hat aber nichts mit angeblichem Turbokapitalismus zu tun. Es ist ein maßlos gewordener Umverteilungsstaat, der den Menschen mit zu hohen Steuer- und Sozialabgaben die Kraft nimmt, der die Kosten für das tägliche Leben wie beim Strom verteuert, der von Niedrigzinsen zulasten der Bürger profitiert.

Ist der Gerechtigkeitswahlkampf nicht wohlfeil? Die Forderung nach mehr Gerechtigkeit gilt immer. Gegen „mehr Gerechtigkeit“ darf niemals Widerspruch erhoben werden.

Lindner: Die Frage ist doch, was man unter Gerechtigkeit versteht. Für mich bedeutet Gerechtigkeit nicht, dass alles und jeder gleich sein muss. Im Gegenteil müssen Talent, Fleiß und Risikobereitschaft einen Unterschied begründen dürfen – sonst hat man DDR. Entscheidend für uns ist, dass es faire Chancen gibt. Deshalb legen wir eine Priorität auf Bildungsreformen. Und statt nur über die Steigerung der Rüstungsausgaben zu sprechen, sollte Deutschland bis 2025 bei den Bildungsausgaben vom Mittelfeld der Wirtschaftsnationen in die Spitzengruppe aufschließen. Wer die Gesellschaft fairer machen will, muss auch wieder eine Balance zwischen Bürger und Staat herstellen. Die CDU verspricht vor Wahlen immer Steuerreformen, um danach die FDP auszubremsen. Die SPD ringt mit sich. Wir sagen: Von den 110 Milliarden Euro, die dem Staat bis 2021 neu zuwachsen, muss ein großer Teil bei den Bürgerinnen und Bürgern verbleiben.

Was halten Sie von dem jüngsten Vorschlag Schäubles, den Mittelstand steuerlich zu entlasten?

Lindner: Ein Beispiel für den feinen Humor von Herrn Schäuble. Denn wenn er freiwillig 15 Milliarden Euro ins Schaufenster stellt, dann sind mindestens 30 Milliarden Euro möglich. Man denke nur an die geringen Zinsausgaben. Geradezu lächerlich ist, den Solidaritätszuschlag bis 2030 zu verlängern. Der muss 2019 auslaufen, wie zugesagt. Mit dem aktuellen Haushaltsüberschuss könnte schon in diesem Jahr rückwirkend ein Freibetrag beschlossen werden, der das Einkommen bis 50.000 Euro vom Soli ausnimmt. Das wäre ein Einstieg, für den nicht einmal der Bundesrat benötigt würde, weil Länder und Kommunen finanziell nicht betroffen sind.

Wird die FDP dies zur Bedingung machen? Wird sie nur in eine Regierung eintreten, in der ein solches Entlastungsvolumen vereinbart wird?

Lindner: In unserem Wahlaufruf vor der Bundestagswahl werden wir zehn Projekte beschließen, anhand derer man ablesen kann, wo wir stehen. Klar ist, dass bei der Steuer- und Abgabenquote für die Menschen eine spürbare Trendwende erreicht werden muss.

Es könnte sein, dass Sie nach dem 14. Mai als Koalitionspartner gebraucht werden. Schränkt die nahende Bundestagswahl Ihren taktischen Bewegungsrahmen nicht zu sehr ein?

Lindner: Nein. Wir denken bei unseren Koalitionsoptionen nicht in der Perspektive weniger Monate, es geht um Politik für viele Jahre. Wir treten nur in eine Koalition ein, sofern wir liberale Inhalte umsetzen können. In NRW flirten SPD und CDU miteinander. Frau Kraft und Herr Laschet schonen sich wechselseitig. Die CDU hat aus ihrem Programm jahrelange Positionen getilgt, um sich hübsch zu machen für die SPD. Warum sollte Frau Kraft in ihrer mutmaßlich letzten Amtszeit mit einer ambitionierten FDP regieren wollen, wenn es mit der CDU als Juniorpartner viel einfacher und komfortabler geht?

Komfortabel halten Sie es auch, gehen auf Nummer sicher. Sie kandidieren im Mai für den Landtag NRW, im September für den Bundestag. Wie erklären Sie das den Bürgern?

Lindner: Wer ein Comeback der Freien Demokraten im Bundestag wünscht, der kann ein starkes Signal schon bei der Landtagswahl senden. Ich kämpfe im Mai für einen Politikwechsel in Nordrhein-Westfalen. Während der Phase der Regierungsbildung will ich parlamentarisch handlungsfähig sein und nicht als Zaungast die Entwicklungen verfolgen. Das Ziel ist aber der Wiedereinzug der FDP in den Deutschen Bundestag.

Wer Sie also in Nordrhein-Westfalen wählt, bekommt Sie nur für vier Monate lang als Abgeordneten?

Lindner: Das ist die glasklare Geschäftsgrundlage, weil Landtags- und Bundestagswahl aufeinander aufbauende Termine sind, wie jeder weiß. Das ist übrigens anders als bei Herrn Schulz, der 2014 bei der Europawahl den Eindruck erweckt hat, die ganze Wahlperiode in Brüssel bleiben zu wollen.

Sie setzen in Ihrem Wahlprogramm vor allem auf die Bereiche Bildung und Digitales. Sind diese Themen tatsächlich der „heiße Scheiß“, der Katrin Göring-Eckardt derzeit so schmerzlich fehlt?

Lindner: Für unser Land sind beide Aufgaben zugleich zentral und vernachlässigt. Bildung ist der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben. Der Unterricht muss stattfinden, er muss hohe Qualität haben, digitale Inhalte und Wirtschaftskompetenz wollen wir stärken, die Gebäude modernisieren. Und die Digitalisierung wird von den Regierungen verpennt. Wir verschwenden Lebenszeit mit Formularen auf Papier. Die große Koalition setzt auf das alte Kupferkabel und bremst die Glasfasertechnologie. Innerhalb der Bundesregierung ist niemand richtig zuständig. Das Wirtschaftsministerium sollte zugleich Digitalisierungsministerium werden, das alle Kompetenzen bündelt und Tempomacher wird.

Teile der Union wollen die doppelte Staatsbürgerschaft abschaffen und liebäugeln mit einem Islamgesetz. Was sagt die FDP dazu?

Lindner: Wir brauchen keine schärferen Gesetze, das hat doch der Fall Amri gezeigt, wo die vorhandenen rechtlichen Möglichkeiten schlicht nicht genutzt wurden. Die FDP will, dass die bestehende Rechtsordnung konsequent durchgesetzt wird und Islamismus wie Einbruchkriminalität bekämpft werden – dafür brauchen wir mehr Polizei.

Was stört Sie an der Idee eines Islamgesetzes?

Lindner: Wir brauchen kein Islamgesetz, wir haben das Grundgesetz. Die Forderung ist Symbolpolitik. Wenn die Union neue Gesetze machen will, dann sollte es ein Einwanderungsgesetz sein, das endlich Ordnung schafft. Wer wirklich bedroht ist, sollte bei uns vorübergehenden Aufenthalt und rasch Förderangebote erhalten. Aber wer auf Dauer in Deutschland bleiben will, den müssen wir uns nach klaren Kriterien unbedingt selbst aussuchen können – Arbeit, Rechtstreue, Integrationsbereitschaft.

Kanzleramtsminister Peter Altmaier soll nun den CDU-Wahlkampf verantworten. Wie bewerten Sie diese Doppelfunktion?

Lindner: Es ist sogar eine Dreifachfunktion. Denn Herr Altmaier ist auch noch Koordinator für die Flüchtlingspolitik. Da bin ich von seinen Leistungen nicht beeindruckt. Die Öffentlichkeit wird die Schlüsse daraus ziehen, dass der Kanzleramtschef seine intellektuelle Kapazität von der Bewältigung der Flüchtlingskrise abzieht, um Wahlprogramme zu schreiben.

Ist für Sie klar, dass es am 24. September zur politischen Auferstehung der FDP kommen wird? Oder zweifeln Sie daran?

Lindner: Wir haben über viele Jahre schon als Regierungspartei stets Mitglieder verloren. 2016 haben wir aber den Trend gedreht und allein in diesem Jahr schon 3200 neue Mitglieder gewonnen. Nichts ist sicher in der Politik, aber wir sind guter Dinge. Wir werden weiter im Team arbeiten und einen Bogen um jede unseriöse Versuchung machen.

Erwarten Sie im Bund eine neue große Koalition?

Lindner: Stand heute ist die große Koalition die wahrscheinlichste Variante. Gut ist das nicht. In den vergangenen Jahren hat man gesehen, was passiert, wenn auch noch die Opposition ein Totalausfall ist. Selbst Dietmar Bartsch von den Linken hat ja öffentlich bekannt, dass die FDP fehlt. Deshalb brennen wir darauf, im Deutschen Bundestag entweder das Land zu gestalten oder mindestens die Regierung anzutreiben.