Regional können wir lockern

Christian Lindner
Münchner Merkur

Lesedauer: 4 Minuten

 

Wir stellen uns gerade vor, wie Sie im Lockdown am Dienstagabend zu Hause auf der Couch Frau Merkel in der ARD angeschaut haben. Waren Sie schockiert?

Lindner: Mit dem Satz, dass "im Großen und Ganzen" alles gut gelaufen sei, werden viele wenig anfangen können. Meine 96 Jahre alte Oma hat erst jetzt einen Impftermin bekommen. Wenn meine Eltern nicht massiv bei der Online-Terminvergabe und im Call-Center geholfen hätten, wäre sie hilflos gewesen. Da ist sie leider nicht die Einzige.

Werfen Sie der Kanzlerin Schönrednerei vor?

Lindner: Die Menschen bilden sich selbst ein Urteil.

Es fehlt Impfstoff, massiv. Ist das eher die Schuld der EU-Kommission von Ursula von der Leyen oder der EU-Ratspräsidentschaft von Angela Merkel?

Lindner: Das kann man nicht voneinander trennen. Man war zu zögerlich und zu knausrig. Den Vorsitz im Gesundheitsministerrat in Europa hatte Jens Spahn. Blicken wir nach vorn. Wir müssen raus aus dem Stillstand, der jeden Tag mehr sozialen und wirtschaftlichen Schaden anrichtet.

Was kann denn jetzt noch helfen, um mehr Impfdosen herzubekommen?

Lindner: Wir sollten uns zunächst nicht allein aufs Impfen verlassen. Ich bin anderer Meinung als zum Beispiel Herr Söder, denn wir können und müssen ein öffentliches Leben auch mit dem Virus in einer nicht vollständig geimpften Gesellschaft ermöglichen. Wir können von anderen lernen: Österreich öffnet gerade Teilbereiche mit verschärfter Maskenpflicht und Tests. Schleswig-Holstein legt einen Stufenplan vor. Wir können auf Luftreiniger und andere innovative Konzepte setzen. Daneben müssen wir den Impfprozess besser und schneller organisieren.

Sie riefen nach mehr Geld für die Hersteller – ist das Ihr ganzer Vorschlag?

Lindner: Nicht ganz. Unser Vorschlag ist eine Tempoprämie als Anreiz, die Produktion zu beschleunigen. Wo Kapazitäten geschaffen oder neu genutzt werden könnten, weiß in einer komplexen Lage niemand. Die Marktwirtschaft ist der bewährte Mechanismus, das zu steuern. Der Staat kann die Produktion nicht steuern – da verfügt er nicht über die notwendigen Kenntnisse.

Die EU bietet an, Impfstoff-Fabriken mitzufinanzieren. Top oder flop?

Lindner: Wenn es in der Form von befristeten Anreizen für Tempo geht, wäre das gut. Für Dauersubvention sehe ich keine Notwendigkeit. Vor allem sollten EU-Kommission und Bundesregierung das Gespräch mit den Vereinigten Staaten suchen. Es gibt Anzeichen, dass die Kriegswirtschaftsverordnung und der Exportstopp der USA die Produktion in Europa bremsen könnten. Notwendige Vorprodukte wie Lipide sind ja knapp. Solche negativen Auswirkungen könnten nicht die Absicht von Herrn Biden sein. Paradox, wenn davon Impfstoffe betroffen wären, die in Deutschland entwickelt wurden. Zudem sollten die russischen und chinesischem Impfstoffe einem EU-Zulassungsverfahren unterworfen werden. Wenn sie wirksam und frei von Risiken sind, sollte man den Menschen das Angebot machen, auch mit diesen und dann gegebenenfalls schneller geimpft zu werden.

Was wird aus den Geimpften? Merkel hat gesagt, es werde vorerst keine neuen Freiheiten geben. Ist das DDR-Semantik?

Lindner: Jenseits der Wortwahl geht es mir um die Sache. Es handelt sich um Grundrechte, nicht um Privilegien. Der Staat darf Menschen, von denen keine Gefahr mehr ausgeht, nicht in ihren vom Grundgesetz individuell garantierten Freiheiten beschneiden.

Es gibt Ideen, den Zutritt zu Veranstaltungen nur noch mit Impfpass zu erlauben. Ist das fair?

Lindner: Ich glaube, dass es mit Maske, Abstand, Schnelltests und Luftreinigern auch andere Option gibt. Dennoch werden Geimpfte schneller ihre Grundrechte verwirklichen können. Davon können alle profitieren, wenn die Geimpften von den Kontaktbeschränkungen ausgenommen werden. Die Regel "Ein Haushalt plus eine Person" muss um Geimpfte erweitert werden.

Und der Rest? Wartet ewig im Lockdown?

Lindner: Nein. Regional sollten in Landkreisen mit geringem Pandemiegeschehen zuerst Kitas und Grundschulen, dann Handel und Gastronomie mit Schutzregeln wieder öffnen. Ich glaube nicht daran, dass wir das ganze Land gleichzeitig wieder hochfahren können, aber regional abgestuft geht das – und motiviert, sich vor Ort an Regeln zu halten. Wir brauchen Wenn-Dann-Bestimmungen. Dazu zählt dann auch, dass Schließungen bei Rückschlägen nicht ausgeschlossen wären.

So lange die Friseure noch zu sind: Wer schneidet Ihnen eigentlich die Haare?

Lindner: Der entschiedene Einsatz der Haarschneidemaschine hilft.

Sie sind jung und, hoffen wir, gesund. Ihre Prognose: Wann kriegen Sie die erste Dosis?

Lindner: Ich weiß es nicht. Mir ist wichtig, dass nach den Risikogruppen rasch Lehrer und Erzieher geimpft werden. Sie zu schützen, schafft eine Voraussetzung für die flächendeckende Öffnung von Schulen und Kitas.