Mein Vorschlag zum Abbau der Kalten Progression ist sozial ausgewogen.

Christian Lindner
Deutschlandfunk

Lesedauer: 7 Minuten

 

Herr Lindner, beginnen wir mal damit: Bundeskanzler Scholz hatte gestern bereits Wohlwollen für Ihren Vorschlag signalisiert, gehen Sie also davon aus, dass das jetzt alles ganz schnell und reibungslos in der Koalition durchgeht?

Lindner: Wir werden innerhalb der Bundesregierung jetzt beraten über das Vorhaben, wir haben ja eine Reihe von Dingen in Vorbereitung. Beispielsweise befassen wir uns ja auch mit dem Bürgergeld, das das Hartz-IV-System ab 1. Januar ersetzen soll, wir reden über eine Wohngeldreform. Das sind Vorhaben, die die Menschen entlasten, die sich insbesondere an jene wenden, die ja auch die Solidarität der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler brauchen. Beim Inflationsausgleichsgesetz geht es um etwas anderes: Da geht es ja darum, eine automatische und sich heimlich vollziehende Steuererhöhung, also eine Mehrbelastung, abzuwenden. Der Bundeskanzler hat in seiner früheren Funktion als Finanzminister selbst zweimal die kalte Progression ausgeglichen. Im Unterschied zu Herrn Scholz aber werde ich nur bis 62.000 Euro den Tarif verändern. Herr Scholz hat ja noch bei 277.000 Euro eingegriffen.

Ja, das haben wir gestern, glaube ich, schon ganz gut verstanden, Herr Lindner, meine Frage war ja, rechnen Sie damit, dass Ihr spezifischer Vorschlag gegen die kalte Progression jetzt ganz rasch durchgehen wird.

Lindner: Wir reden über die unterschiedlichen Vorhaben der Entlastung, der Unterstützung für Menschen, die bedürftig sind, wie etwa Wohngeld und Bürgergeld, und wir reden ebenfalls über den Inflationsausgleich bei den Menschen, die sehr viel von ihrer Schaffenskraft abgeben an Steuern und Sozialabgaben, damit dieser Staat handlungsfähig ist. Ein Steuersystem muss vermitteln, es muss fair sein gegenüber denen, die Solidarität empfangen, aber auch eben als fair empfunden von denen, die viel von ihren Leistungen abgeben über das Steuersystem.

Es gibt Kritik an Ihrem Vorschlag dahingehend, jetzt auch von der Wirtschaftsweisen Grimm etwa, das sei ein schlechter Zeitpunkt in einer Situation, wo vor allen Dingen die niedrigen und die kleinen Einkommen eigentlich so hilfsbedürftig sind. 10 Milliarden sind veranschlagt für Ihren Vorschlag zur Abschaffung der kalten Progression – geben Sie uns eine Vorstellung davon: Wird es noch einmal 10 Milliarden zum Beispiel geben, um die anderen Gehaltsgruppen dann zu entlasten mit den von Ihnen genannten Beispielen gerade wie Bürgergeld oder Wohngeld?

Lindner: Es gibt auch unterstützende Stimmen von Ökonomen, die tauchten in Ihrem Beitrag bedauerlicherweise nicht auf. Viele Ökonomen argumentieren ja, dass eine Steuererhöhung in wirtschaftlich fragilen Zeiten die konjunkturellen Risiken noch verstärken würde. Abgesehen davon ist es eine Frage der Gerechtigkeit. Frau Klein, ich muss noch mal unterstreichen, es ist eine Abwendung zusätzlicher Belastung, das heißt, die Menschen auch der Mitte der Gesellschaft – 3.000, 4.000, 5.000 Euro im Monat an Einkommen –, die würden wir zusätzlich belasten. Natürlich, jemand, der 3.000, 4.000, 5.000 Euro verdient, der kann seine Gasrechnung bezahlen, aber auch diese qualifizierte Mitte der Gesellschaft, Facharbeiterinnen und Facharbeiter mit Erfahrung, das sind Menschen, die sollten nicht zusätzlich belastet werden. Mein Vorschlag ist sozial ausgewogen, denn bei etwa 62.000 Euro endet die Phase, bei der man vom Inflationsausgleichsgesetz profitiert. Das ist gedeckelt bei 479 Euro bei einem Single, das steigt nicht weiter an, und das bedeutet, die kleinen und mittleren Einkommen haben prozentual die höchste Entlastung. Aber natürlich kann sich eine Maßnahme im Steuerrecht nur auf die Menschen konzentrieren, die überhaupt Steuern zahlen. Das ist leider mathematisch zwingend.

Das ist klar, Herr Lindner, und ich glaube, wir haben über die positiven Reaktionen auf Ihren Vorschlag hier auch im Programm berichtet, unter anderem gerade heute Morgen in der „Presseschau“ ist mir das aufgefallen. Aber natürlich stellt sich ja die Frage, das Geld kann nur einmal verteilt werden, und es gibt eben auch andere Bevölkerungsgruppen, die nach Entlastung im Augenblick rufen. Sie haben angedeutet, das Bürgergeld ist in der Diskussion, die Wohngeldreform, die zum nächsten Jahr erst kommen soll. Können Sie präzisieren, was die Bürgerinnen und Bürger, die jetzt nicht von Ihrem Vorschlag zum Beispiel profitieren, zu erwarten haben und wann?

Lindner: Zum 1. Januar wird es ja die beiden angesprochenen Maßnahmen – Wohngeld und Bürgergeld – geben. Die Menschen, die wirklich eine schwierige Situation haben, haben wir ja auch in diesem Jahr nicht vergessen, und das wird sich fortsetzen. Es gab Einmalzahlungen für Grundsicherungsempfänger, es gab einen Heizkostenzuschuss für die Wohngeldbezieher und die BAföG-Empfängerinnen und -Empfänger, einen Kinderbonus und anderes mehr. Das sind ja Maßnahmen, die sich insbesondere an Menschen richten, die auf sozialen Ausgleich angewiesen sind. Aber ich möchte ausdrücklich betonen, Frau Klein, wir müssen uns auch an die arbeitende Mitte wenden, die darf nicht vergessen werden – das ist ein Gebot der Fairness, da Belastungen abzuwenden, wie das ständige Staatspraxis in Deutschland ist.

Ist es denn ausreichend, dass zum Beispiel die Wohngeldreform erst zum 1. Januar kommen soll, wenn doch eigentlich zu erwarten ist, dass wir schon im Herbst mit massiven Einschnitten für jeden Einzelnen und für alle Mieter zu rechnen haben aufgrund der massiv steigenden Energiepreise?

Lindner: Wir haben in diesem Jahr ja über 30 Milliarden Euro Entlastungsvolumen, die teilweise noch gar nicht angekommen sind. Ich nenne die Energiepreispauschale für die Beschäftigten, ich nenne die rückwirkende Steuerentlastung, die wir in diesem Jahr schon beschlossen haben für 2022. Das sind Maßnahmen, die sind bei den Menschen noch nicht angekommen, und ich füge hinzu, Frau Klein: Die ganz besonders bedürftigen Menschen, die in der Grundsicherung sind, also im Hartz-IV-System, bei denen übernimmt ja der Steuerzahler bereits die Heizkosten, die sind also vor steigenden Gaspreisen geschützt.

Dennoch, Sie haben es ja auch angedeutet, es wird wohl ein Paket geben, und SPD und Grüne verlangen da bereits Kompromisse und auch Zugeständnisse von Ihnen. Können Sie uns ein Beispiel geben heute Morgen hier im Deutschlandfunk, wo Sie bereit sind, da auf Ihre Koalitionspartner zuzugehen?

Lindner: An mich sind keine entsprechenden Forderungen herangetragen worden, und ich bin auch – jetzt bezogen auf den Inflationsausgleich – unsicher, ob es klug wäre, hier sozusagen Kompensationsgeschäfte vorzunehmen. Ich will dran erinnern, wir haben beim Grundfreibetrag sogar eine verfassungsrechtliche Verpflichtung, ihn anzuheben, das ist das steuerfreie Existenzminimum, das muss ohnehin passieren, und beim Tarifverlauf ist es ebenfalls die ständige Staatspraxis seit gut einem Jahrzehnt, dass regelmäßig der Tarifverlauf angepasst wird. Für mich ist es rätselhaft, dass ausgerechnet in der Phase der Inflation, wo das wirklich nötig ist, dass da genau darauf verzichtet werden soll und Belastungen in Kauf genommen werden. Ich kann verstehen, dass Bündnis 90/Die Grünen auch in der Mitte der Gesellschaft, auch bei den 4.000, 5.000 Euro Einkommen, dass die dort Mehrbelastungen in Kauf nehmen und sogar Steuererhöhungen aktiv in ihrem Wahlprogramm fordern. Dafür gibt es aber keine Mehrheit im Deutschen Bundestag, für Steuererhöhungen, und dann auf dem Weg der heimlichen Steuererhöhung, der Inkaufnahme der kalten Progression statt der politisch legitimierten Progression, diese Mehrbelastungen zu erreichen, das halte ich für demokratisch fragwürdig.

Die Grünen fordern nun ja gerade ja Entlastungen für die kleinen Einkommen, jetzt mal unabhängig von der kalten Progression, und wir halten mal fest, wir können heute Morgen nichts Konkretes verkünden, was an weiteren Entlastungen da möglicherweise zu erwarten ist. Ist es denn eigentlich überhaupt möglich, alles abzufedern, was auf uns zukommt, oder müssen Sie als Finanzminister den Bürgerinnen und Bürgern sagen, es wird weniger Geld in euren Taschen sein und weniger Wohlstand geben, und das hat auch, aber nicht nur, mit dem Krieg in der Ukraine zu tun. Also müssen Sie sich an der Stelle dann vielleicht doch ehrlich machen.

Lindner: Frau Klein, ich hab ja schon vor Wochen und Monaten darauf hingewiesen, dass der Staat nicht in der Lage ist, die Folgen des Ukraine-Kriegs und höhere Kosten für den Import von Energie beziehungsweise Gas aufzunehmen. Ich habe immer davon gesprochen, was wir tun können, das ist ein Stoßdämpfer. Wir können also Härten abfedern, Strukturbrüche verhindern, aber wir können nicht dauerhaft das Wohlstandsniveau mit staatlichem Geld, möglicherweise sogar mit Schulden sichern. Das gelingt nicht, und genau das ist ja auch die Strategie der Bundesregierung: Da, wo die besonders vulnerablen Haushalte sind, da helfen wir, da unterstützen wir, da haben wir Solidarität in unserem Land. Wir verhindern, wenn es nach mir geht, die zusätzliche Belastung im Steuerrecht von Menschen, die selbst ihre Gasrechnung bezahlen müssen. Wir sorgen für eine gute wirtschaftliche Entwicklung im Übrigen, indem wir die Planungsverfahren beschleunigen, den Fachkräftemangel ansprechen, indem wir Bürokratie abbauen…

…aber wenn das so ist, Herr Lindner, um da kurz noch mal nachzuhaken bitte, wir haben nur noch eine Minute …

Lindner: … das sind Maßnahmen, die geeignet sind, die wirtschaftliche Entwicklung zu stabilisieren und die Inflation zu bekämpfen.

Ja, aber ganz kurze Nachfrage noch mal mit Blick auf die Uhr, mit Bitte um eine kurze Antwort: Wenn das so ist, erwarten Sie dann soziale gesellschaftliche Verwerfungen in dieser Gesellschaft, die das Land dann hinnehmen muss?

Lindner: Nein, gerade eben nicht. Gerade weil wir die besonders vulnerablen Haushalte im Blick haben, weil wir die breite Mitte im Land nicht belasten und weil wir die wirtschaftliche Entwicklung stabilisieren, wie ich gerade sagte, durch Maßnahmen, insbesondere im Bereich des Abbaus von Fesseln, die die wirtschaftliche Entwicklung bremsen – wie Bürokratie, wie Planungsprobleme –, stabilisieren wir auch die mittelfristige wirtschaftliche Entwicklung.