Geld ist genug da.

Christian Lindner Sozialetat
WELT am Sonntag

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Herr Lindner, ist die Ampel die Bundesregierung, über die Historiker einst sagen werden, mit ihrer schlechten Regierungsarbeit habe sie den Aufstieg der Rechtsextremisten befördert?

Lindner: Nein. Generell ist es zu früh für ein historisches Urteil. Sicher wird man sagen, dass diese Regierung die Freiheitseingriffe der Pandemiepolitik beendet hat und die Existenzängste wegen zweistelliger Inflationsraten und der Abhängigkeit von russischen Energieimporte abwenden konnte. Die Bewältigung dieser Krisen ist nichts Kleines. Wenn es gelingt, die jahrelange Wachstumsschwäche unserer Wirtschaft zu überwinden, dann wäre das eine ordentliche Bilanz.

Das ist ein sehr optimistischer Blick auf ihre Regierungsarbeit. Die Ergebnisse sehen sie ja bei der Europawahl, bei der Osten mehrheitlich AfD gewählt hat.

Lindner: Die Wahlergebnisse verdienen eine präzisere Betrachtung. Da spielen die unkontrollierte Einwanderung nach Deutschland seit 2015 eine Rolle, planwirtschaftlicher Klimaschutz mit Verboten, die Bürokratisierung des Lebens und Sorgen um die wirtschaftliche Zukunft. Das sind Probleme, die nicht in der Zeit dieser Koalition begründet wurde.

Aber sie haben es nicht besser gemacht. Viele Menschen sagen von sich zwar, dass es ihnen derzeit wirtschaftlich gut geht. Sie haben aber Angst davor, dass sich dies bald ändert. Verstehen Sie das?

Lindner: Ich verstehe das nicht nur, sondern ich arbeite deshalb ja für eine Wirtschaftswende. Allerdings bestreite ich, dass sich nichts bewegt. Bei der Migration haben wir schon eine neue Realpolitik mit drastischen Veränderungen. Auch das Klimaschutzgesetz ist jetzt marktwirtschaftlicher. Und gegen Bürokratie aus Brüssel wehren wir uns, Stichwort Lieferkettenrichtlinie. Gemessen an dem, was wir von der Großen Koalition vorgefunden haben, gab es Fortschritte. Aber die Ambition muss größer werden. Ich halte es für falsch, wenn manche sagen, durch mehr Sozialausgaben bekämen wir die AfD klein. Ich bin viel unterwegs. Da höre ich nicht, das Bürgergeld ist zu niedrig, deshalb wähle ich AfD. Da werde ich gefragt, warum dieser Staat toleriert, dass Menschen sich mit Bürgergeld und Schwarzarbeit gut einrichten. Ich toleriere das nicht. Deshalb gehen wir dagegen vor.

Hören Sie nicht die Frage, warum Deutschland die Ukraine unterstützt und immer neue Sanktionen gegen Russland verhängt? 

Lindner: Ja, die Frage höre ich. Und diese Debatte müssen wir offen führen. Es geht nicht um einen Krieg für die USA, wie verbreitet wird. Es sind Länder wie Polen und Tschechien, die Angst vor Putin haben. Lassen wir die Ukraine fallen, fühlen die sich auch im Stich gelassen. Daran könnten EU und NATO scheitern. Die Kosten für die Unterstützung der Ukraine stellen auch viele in Frage. Aber dann frage ich die Leute, wollt ihr lieber, dass Putin seine Kriegsziele erreicht und weitere Millionen Ukrainer nach Westeuropa flüchten. Wir unterstützen die Ukraine also wegen geteilter Werte. Aber Deutschland hat auch Interessen.

Verändert der Osten den Westen gerade stärker als der Westen den Osten?

Lindner: Es sind zwei politische Kulturen. Bestimmte Fragen kommen in Ostdeutschland schärfer auf den Tisch.

Sie meinen das Thema Migration?

Lindner: Migration, aber auch Maßhalten beim Zugriff des Staates auf das Privatleben, auf die Freiheit des Einzelnen, Skepsis gegenüber überbordender Bürokratie. All das taucht in westdeutschen Milieus nicht so scharf und so früh auf. Der Ton bei einer Meisterfeier des Handwerks in Dresden unterscheidet sich von einer in Düsseldorf.

Sie wollen weniger Staat. Wirtschaftsminister Robert Habeck hält dagegen Staatshilfen für unerlässlich, um sich im Wettbewerb gegen die USA und China durchzusetzen. Wie kann man sich die Gespräche zwischen Ihnen und dem Vizekanzler vorstellen?

Lindner: Diese zwei Politikansätze gibt es nicht nur innerhalb des Bundeskabinetts. Das ist die wirtschaftspolitische Diskussion in Deutschland. Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie hat bekanntlich schuldenfinanzierte Sondervermögen ins Gespräch gebracht, während die Familienunternehmer eher auf Bürokratieabbau und Steuersenkung setzen. Meine Haltung ist klar: Die Politik sollte nicht mit Subventionen entscheiden, welche Branche, welches Unternehmen und welche Technologie Zukunft hat. Das ist Sache des Wettbewerbs. Wir brauchen nicht mehr Subventionen, sondern geringe Lasten, wettbewerbsfähige Energiepreise und Fachkräfte. Selbst wenn es übrigens eine Zwei-Drittel-Mehrheit gegen die Schuldenbremse gäbe, ließen die europäischen Fiskalregeln die gigantischen Milliardensummen gar nicht zu. Wenn Deutschland den EU-Stabilitätspakt aber vorsätzlich brechen würde, dann setzen wir die ganze Währungsunion aufs Spiel. Man würde Merci und Grazie hören, aber niemand wäre mehr diszipliniert.

Muss Deutschland etwa sparen, weil Frankreich und Italien bereits hochverschuldet sind?

Lindner: Deutschland muss durch Vorbild führen. Von hartem Sparen kann aber keine Rede sein, denn die Staatsquote ist immer noch höher als vor der Pandemie. Es geht um ein Umsteuern. Wir müssen mehr tun für Bildung, für die Infrastruktur von digitalen Netzen über Bahn bis Autobahn, für die harte Sicherheit von Bundeswehr über Bundespolizei bis Zoll. Aber zugleich müssen wir Menschen und Betriebe steuerlich entlasten – und zwar innerhalb der Grenzen der Schuldenbremse. Das geht. Dass der Staat so groß geworden ist, hängt ja damit zusammen, dass die Politik über zehn Jahre versucht hat, mit immer großzügigeren Subventionen und Sozialausgaben populär zu sein.

Hat der Kanzler das Anspruchsdenken gegenüber dem Staat mit seinem Spruch „You’ll never walk alone“ nicht noch befördert?

Lindner: Die Worte des Kanzlers zensiere ich nicht. Aber als Freier Demokrat bin ich überzeugt, dass Wertschöpfung und Sicherheit nicht von Umverteilung und Subventionen kommen, sondern von Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft und unternehmerischem Risiko.

Die jüngsten Wahlergebnisse der Liberalen sprechen nicht dafür, dass Ihre Position geteilt wird.

Lindner: In der Sache teilt oft eine Mehrheit der Bürger unsere Position.

Gewählt werden Sie trotzdem nicht?

Lindner: Das ist eine momentane Tragik, aber an solche Phasen sind wir leider gewöhnt. Wir haben starke Nerven. Als Teil der Ampel sind wir momentan in der Defensive am Wählermarkt. Das wird sich ändern.

Bereiten Sie gerade verbal den Austritt aus der Ampel vor?

Lindner: Nein. Aber in die nächste Bundestagswahl gehen die Freien Demokraten nicht als Teil irgendeiner Koalition, sondern als eigenständige Kraft. 

Wie groß ist Ihre Sorge, dass die SPD die Koalition wegen der Schuldenfrage sprengt?

Lindner: Es ist bedauerlich, dass Sie überhaupt diese Frage stellen müssen, weil fortwährend Koalitionsvertrag und Grundgesetz angegriffen werden. Die Bürgerinnen und Bürger können sich selbst darauf einen Reim machen.

Die Regierung will den Haushaltsentwurf nun doch nicht nächste Woche verabschieden, sondern erst Mitte Juli. Woran hakt es?

Lindner: Am Geld.

Wird es für dieses Jahr einen Nachtragshaushalt geben?

Lindner: Wir sprechen über die Haushaltsfragen im Zusammenhang, weshalb wir auch nur im Zusammenhang kommunizieren. Jedenfalls ist es meine Amtspflicht, die Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben zu beobachten. Nötigenfalls müsste ich handeln. Etwa durch eine Haushaltssperre, die aber auch öffentliche Investitionen betreffen würde. In der jetzigen Wirtschaftslage wäre das falsch. Die Alternative wäre ein Nachtragshaushalt, wenn es nötig sein sollte.

...mit weiteren Schulden.

Lindner: Das wäre im Falle des Falles so. Denn die Konjunkturkomponente der Schuldenbremse erlaubt ja gerade, dass die Nettokreditaufnahme des Staats an die Wirtschaftslage anpasst werden kann. Die Regierung Wüst in Nordrhein-Westfalen hat deshalb das Instrument genutzt.

Haben Sie zu Jahresbeginn falsch gerechnet oder schon damals auf einen Nachschlag spekuliert?

Lindner: Der Haushalt 2024 basiert auf der Herbstprojektion der wirtschaftlichen Entwicklung. Erst im Frühjahr gab es neue Zahlen zu Konjunktur und Steuereinnahmen.

Verschaffen Sie sich mit dem Nachtragshaushalt 2024 auch mehr Ausgabenspielräume für 2025?

Lindner: Sie setzen das schon als Realität voraus. Allerdings sprechen die Zahlen eine andere Sprache. Allein das Erneuerbare-Energien-Gesetz kostet bald neun Milliarden Euro mehr, weil der zum Glück wieder niedrige Strompreis zu einem höheren Zuschussbedarf führt. Übrigens fällt das nur deshalb ins Gewicht, weil diese Regierung die EEG-Umlage für die Stromkunden abgeschafft hat und stattdessen Steuermittel einsetzt.

Welche konkreten Sparmaßnahmen planen Sie?

Lindner: Darüber verhandeln wir gerade. In jedem Fall müssen wir auch das Erneuerbare-Energien-Gesetz an die Realitäten anpassen. Solar und Wind sind keine Nische mehr, sondern Masse und marktgängig.

Bestehende Preisgarantien können Sie nicht einfach streichen. Der Effekt würde sich also erst in einigen Jahren zeigen. Die drängendere Frage ist, mit welchem Geld können Straßen, Schienen und Schulen möglichst schnell modernisiert werden?

Lindner: Geld ist genug da. Wir können mehr in die marode Infrastruktur investieren, sofern wir nicht auch an anderer Stelle immer mehr ausgeben wollen.

Konkret?

Lindner: Das Wachstum unserer Sozialetats muss gebremst werden. Wir haben seit 2022 in dieser Bundesregierung zusätzliche Sozialausgaben in Höhe von 15 Milliarden Euro jährlich beschlossen – von der Ausweitung des Wohngelds bis zum 49-Euro-Ticket. Bei der Ausweitung brauchen wir eine Pause, bis wir wieder mehr Wachstum erreicht haben.

Wollen Sie das 49-Euro-Ticket streichen?

Lindner: Nein, das bundesweit einsetzbare Ticket mit seinem einheitlichen Tarif wird bleiben. Das war ein Gamechanger. Aber irgendwann muss die Politik entscheiden, ob wir eher in die Schiene investieren wollen oder ob der Preis von 49 Euro bleiben soll.

Was ist mit dem Bürgergeld?

Lindner: Das Bürgergeld muss in seinem fordernden Charakter gestärkt werden. Es muss jedem klar werden, dass das Bürgergeld kein bedingungsloses Grundeinkommen ist, sondern das es Anforderungen gibt. Der Lohnabstand und damit der Arbeitsanreiz werden zum 1. Januar zudem größer werden. Beim Bürgergeld erwarten wir für das kommende Jahr nämlich eine Nullrunde, während es für die arbeitende Bevölkerung spürbare steuerliche Entlastungen geben wird.

Ihre Regierungspartner sind dagegen.

Lindner: Das lese ich leider auch. Mit einem liberalen Finanzminister wird es aber nicht passieren, dass die Freibeträge und der Steuertarif nicht an die Inflation angepasst werden.

Apropos Entlastung, im Koalitionsvertrag steht das Klimageld. Wann kommt es?

Lindner: Immer dieselbe Frage, immer dieselbe Antwort. Im Koalitionsvertrag steht, dass wir in dieser Legislaturperiode einen Mechanismus für eine einheitliche Auszahlung an alle Bürger schaffen. Ein solcher Mechanismus steht 2025 bereit.

In Österreich ist das Klimageld nach Postleitzahl gestaffelt – in Städten gibt es weniger, in ländlichen Regionen mehr. Wäre das technisch auch möglich?

Lindner: Das ist nicht das Konzept. Hier ist ein einheitlicher Betrag pro Kopf vorgesehen. Für die Zukunft kann man die IT aber anpassen.

Ist in den Haushaltsverhandlungen für 2025 ein Klimageld ein Thema?

Lindner: Nein, das kommt später. Mein Kollege Robert Habeck verweist darauf, dass wir die Stromkunden ja jährlich um gut 19 Milliarden Euro EEG-Umlage entlasten und dies quasi ein Klimageld sei. Er hat Recht.