Es muss das Verständnis wachsen, dass der Wohlstand erst erwirtschaftet werden muss, bevor er verteilt werden kann.

Christian Lindner Wirtschaft
Stuttgarter Zeitung

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Herr Lindner, was glauben Sie, werden die Menschen zum Ende der Legislaturperiode über die Ampel-Regierung sagen?

Lindner: Zur Lage Deutschlands kann ich etwas sagen. Unser Land ist gut durch die Krise gekommen. Die Rückkehr zu geordneten Staatsfinanzen ist vollzogen. Jetzt geht es um die erforderliche Wende bei der Migration und einen wirtschaftlichen Aufschwung. Bis 2025 können wir da viel erreichen.

Ihre Prognose ist – angesichts der derzeitigen Lage – optimistisch. Sie haben gesagt, wenn die Ampel eine Chance auf Wiederwahl haben wolle, müsse sie das Land auf den wirtschaftlichen Erfolgsweg zurückführen. Was ist der wichtigste Schritt?

Lindner: Es muss das Verständnis wachsen, dass der Wohlstand erst erwirtschaftet werden muss, bevor er verteilt werden kann. Man kann Probleme der Wettbewerbsfähigkeit nicht auf Dauer mit Subventionen heilen, die die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler tragen müssen. Deshalb plädiere ich für einen Bürokratie-Stop in Brüssel und Berlin, schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren, eine Energiepolitik, die nicht alles immer teurer macht, und dafür, dass sich Arbeit immer mehr lohnt als nicht zu arbeiten. Die Menschen und die Betriebe können zudem darauf vertrauen, dass die Steuern nicht erhöht werden, sondern dass die Steuerlast sinkt.

Ist jetzt Zeit für eine große Steuerreform?

Lindner: Mit dem Wachstumschancengesetz setzen wir kommendes Jahr bereits einen Impuls für zusätzliche Investitionen und Forschung. Darüber hinaus arbeitet mein Ministerium auch an weiteren Steuerreformen. Beispielsweise habe ich gerade zwei Gruppen aus Praktikerinnen und Experten eingesetzt, die Vorschläge für alltagstaugliche Steuervereinfachungen machen werden.

Noch in dieser Legislaturperiode?

Lindner: Das liegt nicht bei mir allein. Ich bin der Überzeugung, die einfachste Steuerreform wäre der vollständige Verzicht auf den Solidaritätszuschlag. Dafür gab es 2017 keine Mehrheit mit der CDU, 2021 keine mit SPD und Grünen. Ich bleibe am Ball. Ich ahne, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der nächsten Bundestagswahl entscheiden müssen. Wollen wir einen immer stärker umverteilenden Staat, der auch die Wirtschaft mit immer mehr Subventionen und Bürokratie lenkt? Oder wollen wir stärker auf Eigenverantwortung und den Ideenwettbewerb der Marktwirtschaft vertrauen? Dafür muss man den Menschen dann Freiheit und die finanziellen Mittel lassen.

Wirtschaftsminister Robert Habeck hat gerade ein Industriekonzept vorgelegt und dringt auf einen befristeten, vom Staat subventionierten Industriestrompreis.

Lindner: Ich fürchte eine Wettbewerbsverzerrung zwischen Industrie, Handwerk und Mittelstand. Die einen sollen die günstigen Preise der anderen zahlen. Wenn der Staat die Stromrechnung für Konzerne subventioniert, schließen diese auch keine langfristigen Verträge mehr mit Energieversorgern. Das reduziert den Anreiz, in neue Kraftwerke und erneuerbare Quellen zu investieren. Außerdem ist mir ein Rätsel, woher die Milliarden kommen sollen.

Deswegen stellt Habeck die Schuldenbremse erneut infrage.

Lindner: Er hat sich auf die Zeit nach der nächsten Wahl bezogen. In der Tat urteilen die Bürgerinnen und Bürger erst 2025 neu. Bis dahin ist alles klar. Ich werde aber dafür werben, dass auch in der nächsten Bundesregierung die Tassen im Schrank bleiben.

Die Steuerschätzung vor einigen Tagen hat auch gezeigt: Neuen Spielraum für höhere Staatsausgeben gibt es nicht. Steht die Ampel denn noch zu ihrem Haushalt?

Lindner: Die Bundesregierung hat einen Haushaltsentwurf vorgelegt, der auf Steuererhöhungen verzichtet, der Rekordinvestitionen vorsieht und die Schuldenbremse einhält. Diese Leitplanken stehen. Dass der Haushaltsgesetzgeber einzelne Positionen justiert, das ist völlig klar, dafür haben wir ja das parlamentarische Verfahren.

Die Verhandlungen waren ein zähes Unterfangen. Haben Sie sich manchmal unwohl dabei gefühlt, der Nein-Sager der Koalition zu sein?

Lindner: Meine Aufgabe ist es nicht, als der spendable Onkel am Kabinettstisch beliebt zu sein. Ich bin der Vertreter der Interessen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Wenn wir die Finanzpolitik der Krisenjahre fortgesetzt hätten, würden wir bald Investitionen oder Sozialleistungen kürzen und Steuern erhöhen müssen, um die Zinsen für die Schulden der Vergangenheit zu zahlen. Deshalb war es wichtig, dass wir die Trendwende geschafft haben. Die Schuldenquote sinkt in diesem Jahr wieder, das Defizit liegt wieder unter drei Prozent.

Auch durch die Migrationsdebatte wächst der Druck auf die Ampel. Hat der Kanzler für den eingeschlagenen Kurs, der zu einer Begrenzung der Asylbewerberzahlen führen soll, die ungeteilte Unterstützung der gesamten Koalition?

Lindner: Die Unterstützung der FDP ist klar. Mehr noch, eine Asylwende ist dringend nötig. Ohne Kontrolle des Zugangs würde jede öffentliche Ordnung zusammenbrechen. Die jetzigen Maßnahmen sind wichtig, wenn es nach mir geht, dann gehen wir noch darüber hinaus.

Wir hören gespannt zu.

Lindner: Wir sollten alle Möglichkeiten ausschöpfen, um zum Beispiel über die konsequente Einführung von Sachleistungen und Bezahlkarten die Attraktivität der Einwanderung in den deutschen Sozialstaat zu reduzieren. Diese Umstellung ist dringend notwendig.

Wer ist in der Pflicht – Bund oder Länder?

Lindner: Das ist Aufgabe der Länder. Der Bund ist weiterhin bereit, sich an den finanziellen Belastungen zu beteiligen. Die Länder verweisen aber oft nur auf den Bund, wenn es um die Reduzierung der Zahlen geht. Dafür sei der Bund zuständig. Das ist falsch. Denn über die Gewährung von Sach- statt Geldleistungen oder Bezahlkarten haben die Länder einen wesentlichen Hebel, um den Magnetismus des deutschen Sozialstaats und damit die finanziellen Lasten zu reduzieren. Wenn die Länder eine Übereinkunft mit dem Bund in Finanzfragen über die Kosten der Migration haben wollen, dann erwarte ich umgekehrt die flächendeckende Einführung von Bezahlkarten oder Sachleistungen.

Hat Scholz Beinfreiheit, in Gesprächen mit den Ländern und Unions-Chef Friedrich Merz weitere Kompromisse zu schließen?

Lindner: Ich gehe nicht davon aus, dass der Bundeskanzler ohne den Finanzminister verhandelt. Allerdings sehe ich auch keine unzumutbaren Forderungen der Union. Die Probleme, die wir bewältigen müssen, gehen ja seit 2015 stark auf die CDU-geführte Bundesregierung von Frau Merkel zurück. Ich sehe das Bemühen bei Friedrich Merz, jetzt gemeinsam eine Wende zu erreichen. Das begrüße ich.

Das dürften Teile der Grünen und SPD nur ungern hören.

Lindner: Eine Übereinstimmung wie es der Asylkompromiss Anfang der 1990er-Jahre war, wäre von hohem Wert. Wenn es gelänge, das brennende Thema Migration gemeinsam anzugehen, brächte das eine Beruhigung der polarisierenden Debatten. Wir müssen gemeinsam zeigen: Es herrscht wieder Steuerung und Kontrolle.

Die FDP hat erklärt, die Ampel müsse ihre Prioritäten neu ordnen.

Lindner: Wir sind bald zwei Jahre im Amt. Selbstverständlich ist das Anlass zu einer Inventur. Wir haben viel erreicht, müssen aber schauen, wo die Politik offensichtlich nicht den Erwartungen entspricht. Priorität muss jetzt haben: die Stärkung der wirtschaftlichen Entwicklung, die Bekämpfung der illegalen Einwanderung, eine Klimapolitik mit Augenmaß verantwortungsvoll zu gestalten, statt ideologisch und für die Menschen belastend, und dass wir deutlich machen, dass wir die Freiheit der individuellen Lebensführung nicht tangieren wollen.

Und ist eine Priorität auch geräuschloseres Regieren?

Lindner: Ich begrüße immer Einigungen hinter den Kulissen, sodass man die Öffentlichkeit nicht mit Streit behelligt. Umgekehrt aber würde ich nicht schweigend einer links-grünen Agenda zustimmen, die gegen unsere Grundüberzeugungen ist.

Bei Wirtschafts- und Steuerpolitik sowie bei der Migration tickt die FDP eher wie die Union. Sind Sie im falschen Bündnis gefangen?

Lindner: Wenn ich in Erinnerung rufe, dass auch die CDU mit Steuererhöhungen liebäugelt, würde ich nicht per se sagen, dass wir wie die Union ticken. Richtig ist, wir sind in einer Koalition mit zwei linken Parteien. Was an Herrn Söder liegt, der Armin Laschet nach der Wahl die Gefolgschaft verweigert und die Jamaika-Option vom Tisch genommen hat. Wir bleiben aber eine eigenständige Partei. Und wir setzen mehr von unseren Zusagen an unsere Wählerinnen und Wähler um, als man erwarten konnte.

Viele Menschen fühlen sich angesichts der andauernden Krisen überfordert. Mal ehrlich, liegen Sie angesichts der Weltlage auch manchmal nachts wach? Oder kann man sich das als Spitzenpolitiker nicht leisten?

Lindner: Die Sorgen und Ängste, die es gibt, nehme ich ernst. Aber man darf sich davon nicht gefangen nehmen lassen. Ja, die Krisen sind sehr fordernd, und ihre Dimension verlangt auch Demut bei dem, was wir entscheiden. Aber wir sind keine Objekte des Schicksals. Wir haben vieles in der Hand und können gestalten. Ich möchte dazu ermuntern, die Möglichkeiten zu nutzen, die wir haben, und nicht fatalistisch zu werden.

Manchmal träumt man ja von einem anderen Leben. Wenn Sie nicht Finanzminister wären, was wären Sie dann heute gern?

Lindner: Wenn man von einem anderen Leben träumt, sollte man sein Leben zu ändern versuchen. Was ich mache, mache ich aus Überzeugung. Ich bin ein freiheitsliebender Mensch. Der Respekt vor Freiheit, vor anderen Meinungen, vor Leistung und vor Eigentum ist in Deutschland aber oft in der Defensive. Das stachelt mich an.