Ein Minister, der das Falsche vertreten muss, ist ein trauriger Minister

Christian Lindner
SonntagsBlick

Herr Lindner, wie haben Sie die vergangenen Wochen erlebt?

Lindner: In Deutschland tobt ein politischer Hagelschauer. Der Wettbewerb wird schärfer geführt als vor der Bundestagswahl. Dennoch bin ich mit der Entscheidung im Reinen: Deutschland braucht eine Regierung, die das Land nach vorne bringen kann. Eine solche Regierung hätte es mit Jamaika nicht gegeben. Deshalb wäre es falsch gewesen, sie nur aus machtpolitischen Erwägungen heraus zu bilden.

Sie verweigern Ihren Auftrag: Die Bürger haben gewählt, damit eine Regierung entsteht.

Lindner: Eine Mehrheit zu bilden ohne eine gemeinsame Idee dahinter, das kann niemals im Sinne der Demokratie sein. Eine Mehrheit der Deutschen will nicht weitermachen wie bisher. Jamaika aber wäre eine Weiterführung gewesen, verbunden mit zahlreichen Rückschritten, wie sie die Grünen wollten. Die Grünen sind eine linke Partei. Wir aber möchten eine europäische, bürgerliche Alternative, wir stehen für eine Politik der vernünftigen Mitte.

Als Sie in jener Sonntagsnacht vor die Presse traten und Jamaika killten: War das durchdacht? Oder hatten Sie die Nerven verloren?

Lindner: Vor Beginn der Gespräche sagte ich, ich könne mir nicht vorstellen, wie Jamaika inhaltliche Gemeinsamkeiten finden soll. Während der Sondierungen schätzte ich die Chance auf 50 zu 50. Am Donnerstag äußerte ich Zweifel. Am Freitag sagte ich an die Adresse der Verhandlungspartner, dass die Erfolgschancen nur noch gering seien. Sonntagmittag sagte ich, dass wir gern abbrechen würden. Niemand ist davon kalt erwischt worden. Die Entscheidung war nicht spontan.

Warum war dann ganz Deutschland überrascht?

Lindner: Das weiß ich nicht. Tatsächlich war es fast immer so, dass Parteien, die über eine Regierung sprachen, sie dann auch gebildet haben. Aber als 2013 die Grünen Sondierungsgespräche mit CDU und CSU abbrachen und damit einer Großen Koalition den Weg ebneten, reagierte so gut wie niemand empört.

Bei uns bilden vier Parteien gemeinsam die Regierung. Erklären Sie mal einem Schweizer, warum die Deutschen das nicht schaffen.

Lindner: Die beiden politischen Systeme kann man nicht vergleichen. In der Schweiz kann das Referendum ergriffen werden. Deshalb ist die Frage nach Regierung und Opposition in Deutschland eine ganz andere. Hier vertritt die Regierung eine gemeinsame Politik – und niemand greift mehr korrigierend ein.

Hoffen Sie auf eine Große Koali­tion von CDU/CSU und SPD, um sich als Oppositionsführer besser positionieren zu können?

Lindner: Solche Verschwörungstheorien lese ich auch. Die Wahrheit ist anders: Wir wollen eine gute Regierung. Sie soll wegkommen von Bürokratismus, von der Ausdehnung des Staates, von Umverteilung statt guter Bildungspolitik. Wir wollen eine Erneuerung aus den Kraftquellen der Freiheit und der Selbstverantwortung.

Wie wollen Sie diese Ideen außerhalb der Regierung umsetzen?

Lindner: In einem Jamaika-Bündnis wäre es jedenfalls unmöglich gewesen. In der Energiepolitik hätte es nicht mehr Markt-, sondern mehr Planwirtschaft gegeben. Die individuelle Mobilität wäre mit Maßnahmen gegen das Auto eingeschränkt worden. Bürokratische Eingriffe in das Leben der Bürger hätten zugenommen – und so weiter. Wir hätten das alles mittragen müssen. Wir hätten unsere Wähler verraten. Wir stehen zu dem, was wir vor den Wahlen gesagt haben. Wir haben viele Kompromisse gemacht – am Ende aber wäre eine liberale Handschrift nicht mehr erkennbar gewesen.

Sind die Verhandlungen wegen der Bundeskanzlerin gescheitert?

Lindner: Es ist klar, dass Frau Merkel nach einer Kanzlerschaft von zwölf Jahren Interesse an Kontinuität hat. Sie war bereit, Zugeständnisse an die Grünen zu machen, die wir für die Entwicklung des Landes als schlecht empfunden haben.

Die Kanzlerin ist bekannt für ihr Verhandlungsgeschick. Hat sie Ihre Entschlossenheit unterschätzt?

Lindner: Ralf Fücks, einer der Vordenker der Grünen, hat dazu etwas sehr Wahres gesagt: „Die FDP will die Liberalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft. Wir haben unterschätzt, dass die das ernst meinen.“

Reut es Sie, dass Sie durch das Scheitern der Jamaika-Koalition nicht Minister werden?

Lindner: Ich wäre vielleicht gerne Minister geworden. Aber ein Minister, der das Falsche vertreten muss, ist ein trauriger Minister.

Ein Minister hat immer Spielraum.

Lindner: Nein. Wolfgang Schäuble forderte einst als Finanzminister einen Schuldenschnitt für Griechenland mit anschließendem Grexit. Am nächsten Tag erklärte die Kanzlerin, das gelte nicht. So viel zum Spielraum.

Wie ist Ihr Verhältnis zu Frau Merkel?

Lindner: Professionell und entspannt. Ich schätze sie als Persönlichkeit. Allerdings hat sie versucht, eine Regierung vor allem mit Hilfe von Formelkompromissen zu bilden: Die einen wollten Stühle, die anderen Tische – in den Verhandlungen wurden dann „Möbel“ bestellt und es hieß, dass wir die Details später klären sollten. So werden Konflikte nur zugedeckt und nicht gelöst. Ich habe in den Gesprächen immer gefragt, was die Sätze, die wir aufgeschrieben haben, in der Realität bedeuten sollen.

Angela Merkel wurde über Nacht von der unangefochtenen Kanzlerin zur Übergangslösung – wegen Ihnen. Sind Sie stolz darauf?

Lindner: Ich hätte lieber eine gute Regierung mit Beteiligung der FDP gebildet. CDU und CSU unter Führung von Angela Merkel hätten sich inhaltlich mit der FDP gefunden. In dieser Konstellation aber war es nicht möglich. Die Entscheidung war keine gegen CDU/CSU und Merkel – im Übrigen auch nicht prinzipiell eine gegen die Grünen. Sondern gegen eine Konstellation, die unserem Land nichts gebracht hätte.

Ist die Weiterführung der Großen Koalition, also CDU/CSU und SPD, aus liberaler Sicht besser?

Lindner: Leider ja. Denn wir hätten unsere Ziele nicht durchsetzen können.

Dann haben Sie also schlecht verhandelt.

Lindner: Nein. Wir haben gesagt, dass wir die Gespräche nicht weiterführen wollen, weil auf unsere Anliegen nach vier Wochen intensiver Gespräche zu wenig eingegangen wurde.

Ist die Große Koalition besser als eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen?

Lindner: Vieles spricht für eine Große Koalition. Die ist immerhin stabil, während Jamaika vom Streit geprägt gewesen wäre und höchstens 18 Monate gehalten hätte. Falls die SPD einen zu hohen Preis fordert und die Große Koalition nicht zustande kommt, dann sieht das Grundgesetz eine Minderheitsregierung vor. Das ist nicht ideal, für eine Übergangszeit aber eine Option. Ich kann versichern, dass die FDP im Parlament konstruktiv mitarbeiten wird. Wir begreifen uns nicht als Fundamentalopposition.

Aber Deutschland steckt jetzt in einer Regierungskrise.

Lindner: Keinesfalls. Deutschland ist ein stabiles und starkes Land. Es hat eine geschäftsführende Regierung und ein voll funktionsfähiges Parlament. Verantwortung für das Land kann auch zeigen, wer in der Opposition für eine gute Politik kämpft.

Aber Deutschland als Stabilitäts­anker in Europa wird geschwächt.

Lindner: Die Rolle Deutschlands muss wieder stärker werden, indem wir Ideen einbringen und uns am Gespräch beteiligen, das es über Europas Zukunft gibt. Da gibt es neue Akteure und eine neue Art zu denken. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat mit En Marche ein bürgerliches Erneuerungsprogramm auf den Weg gebracht. Darauf muss Deutschland antworten. Seine Vorschläge für eine europäische Verteidigungsgemeinschaft zum Beispiel sind bemerkenswert. Einen neuen Hilfs­mechanismus für die Eurozone, bei dem Kreditlinien ohne konkrete Programme für Staaten zur Verfügung gestellt werden, halte ich hingegen nicht für sinnvoll.

Aber Macron …

Lindner: Fällt Ihnen auf, dass Sie jede Frage mit „Aber“ beginnen?

Es ist meine Aufgabe, Sie zu hinterfragen. Dies bringt das „Aber“ mit sich. Zu Macron: Er nimmt stets Bezug auf Frau Merkel. Stehen auch Sie für ein starkes Europa ein oder wollen Sie die Nationalstaaten stärken?

Lindner: Darin liegt kein Widerspruch. Ich bin für ein starkes Europa, das die Aufgaben übernimmt, die jedes Land einzeln überfordern würde: Verteidigung, Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung, Investition in neue Technologien. In anderen Bereichen ist mehr Vergemeinschaftung nicht erforderlich. Eine gemeinsame Sozialpolitik etwa würde Europa schwächen, weil die Menschen in den zahlenden Ländern das nicht akzeptieren würden.

Sie erwähnen immer wieder Macron. Ist er Ihr Vorbild?

Lindner: Nein. Ich bin Vorsitzender einer kleinen Oppositionspartei in Deutschland, er ist Präsident von Frankreich.

Er war auch Chef einer kleinen Bewegung.

Lindner: Die FDP ist keine Bewegung, sondern eine liberale Partei. Bei uns steht nicht die politische Eruption im Zentrum, sondern ein über Jahrhunderte gefestigtes Denken. Unser Blick ist geprägt von der deutschen Aufklärung, der Französischen Revolu­tion und der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Und auch ein wenig von der Willensnation Schweiz.

Wie tauschen Sie sich mit der FDP Schweiz aus?

Lindner: Ich bin jedes Jahr mindestens einmal in Ihrem Land und habe die Veränderungen der Schweizer FDP verfolgt – wie sie sich von der SVP abgegrenzt und ihr liberales Profil geschärft hat. So wurde sie stärker.

Warum hat die FDP Schweiz einen höheren Wähleranteil als Ihre Freien Demokraten?

Lindner: Wir sind beide staatstragende Parteien. Nur sind die deutsche Seele und die politische Kultur nicht mit Ihrer vergleichbar. In der Schweiz wurde der Hut von Geßler nicht gegrüßt, bei uns wäre er gegrüßt worden. Der Staat wird bei uns von vielen als unfehlbar betrachtet. Man traut zuerst dem Staat und dann sich selber. In der Schweiz ist das gerade umgekehrt – das gefällt mir.

Sie werden häufig im gleichen Atemzug mit Emmanuel Macron (39) und Sebastian Kurz (31) genannt, dem künftigen Kanzler Österreichs: Tauschen sich die drei jungen Erneuerer aus?

Lindner: Sebastian Kurz kenne ich seit vielen Jahren, Herrn Macron nicht. Beide vertreten politisch völlig unterschiedliche Auffassungen. Insbesondere ist die ÖVP in Österreich die Partnerpartei der CDU. Die einzige Gemeinsamkeit besteht darin, dass wir der gleichen Generation angehören. Die FDP ist, wie gesagt, keine Bewegung wie En Marche oder die neue ÖVP-Liste „Sebastian Kurz“. Ich selber bin kein Newcomer: Ich bin seit 18 Jahren Abgeordneter und stolz darauf, Vorsitzender einer Traditionspartei zu sein.

Warum kommen plötzlich sehr junge Politiker in hohe Ämter?

Lindner: Es gibt einen großen Wunsch nach Veränderung. Wenn es – vorsichtig betrachtet – eine Gemeinsamkeit gibt, dann die, dass wir mit dem Bisherigen nicht einverstanden sind und Veränderung wollen.

Sie haben früh begonnen. Woher kommt Ihre Lust an Politik?

Lindner: Das liegt mir im Blut. Ich hatte früh den Wunsch nach einem individuellen Leben. Mit 18 hatte ich eine eigene Wohnung und ein Auto. Ich meldete ein Gewerbe an, um neben der Ausbildung Geld zu verdienen.

Wann werden Sie Bundeskanzler?

Lindner: Ich bin Realist. Bundeskanzler zu werden war nie mein Ziel. Ich bin mit Leib und Seele Parlamentarier. Selbstverständlich bleibt es ein Ziel, Deutschland aus der Regierung heraus zu modernisieren. In einer Jamaika-Koalition aber wäre dies nicht möglich gewesen. Unser Wählerauftrag wäre verfälscht worden.

Sieben schnelle Fragen: Große Koalition oder Neuwahlen? 

Lindner: Nach einer Großen Koalition werden Neuwahlen kommen. Die Frage ist nur, wann.

Macron oder Kurz? 

Lindner: Macron.

Limousine oder Straßenbahn?

Lindner: Privat fahre ich auch Straßenbahn. In der Limousine kann man besser arbeiten.

Schweiz oder Österreich? 

Lindner: Nichts gegen Österreich. Aber die Schweiz als Willensnation ist mir näher.

Die Linke oder AfD? 

Lindner: Beide nicht staatstragend, beide nicht konstruktiv. Die Linke will Sozialismus, die AfD steht für eine völkische Fantasie.

Porsche oder Mercedes?

Lindner: Porsche.

Kompromiss oder Konfrontation? 

Lindner: Kompromiss versuchen, Konfrontation nicht scheuen.