Die Zeitenwende brauchen wir jetzt auch für die Marktwirtschaft

Christian Lindner Technologieführerschaft
Perspektiven

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In der deutschen Wirtschaft gibt es immer mehr Skepsis, wie zukunftstauglich Deutschland noch ist. Was macht Sie optimistisch, dass es uns allen am Ende der Legislaturperiode besser geht?

Lindner: Wir sind nicht Objekte des Schicksals, sondern wir haben es in der eigenen Hand. Richtig ist, dass Deutschland sich selbst sehr lange im Weg stand. Die gute Nachricht ist: Wer sich selbst im Weg steht, kann sich auch selbst den Weg freimachen. Die enorme Geschwindigkeit, mit der wir uns aus der Abhängigkeit von russischem Gas befreit haben durch neue Infrastrukturen im LNG-Bereich, ist für mich eine Lehre: Wenn es sein muss, geht es in Deutschland. Jetzt muss es auch gehen, wenn wir wollen.

Und was wollen Sie?

Lindner: Wir müssen Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen, steuerliche Rahmenbedingungen verbessern, insbesondere, um Innovationen zu ermöglichen. Wir brauchen Technologiefreiheit bei den Maßnahmen der Dekarbonisierung, Verzicht auf immer mehr Bürokratismus, stattdessen Digitalisierung auch von Verwaltungshandeln. In diese Richtung müssen wir uns entwickeln, damit wir auch zukünftig unsere Wettbewerbsfähigkeit und damit unseren Wohlstand behaupten können.

Ihre Partei und Sie selbst haben in den vergangenen Monaten immer wieder für Technologieoffenheit gestritten. Sind die Deutschen denn noch das Land der Techniker und Tüftlerinnen?

Lindner: Ich bin zutiefst davon überzeugt. Politisch wurde der Versuch unternommen, Spitzentechnologien zu verabschieden. Wir können aber nicht immer nur über Ausstiege nachdenken, sondern wir müssen auch über Einstiege sprechen. Und wir müssen Technologiepfade offenhalten, von denen wir jetzt noch gar nicht wissen können, ob wir sie nach 2035 nicht vielleicht doch noch brauchen.

Welche sind das?

Lindner: Wir werden mit Sicherheit der Leitanbieter und der Leitmarkt von Elektromobilität sein. Aber neben den batterieelektrischen Autos haben die Otto- und Dieselmotoren unverändert eine Perspektive – vielleicht in einer gewissen Nische bei uns, aber weltweit sicherlich in einem größeren Umfang. Also sollte diese Technologie auch klimafreundlich bei uns weiterentwickelt werden.

Deswegen Ihr Kampf für E-Fuels?

Lindner: Ja. Da wird ja gelegentlich eingewendet, E-Fuels seien unwirtschaftlich. Dann aber müsste man diese Technologie ohnehin nicht politisch verbieten. Ich glaube aber, dass es starke Anreize geben wird, synthetische Flüssigkraftstoffe in den Verkehr zu bringen. Wir können damit die Bestandsflotte dekarbonisieren und klimafreundlich machen. Ich habe vor, in Kürze eine Gesetzgebung vorzulegen, mit der wir die steuerlichen Rahmenbedingungen bis hin zur Besteuerung des Dienstwagens zwischen batterieelektrischem Antrieb und Fahrzeugen mit synthetischem Kraftstoff gleichstellen.

So dass praktisch ...

Lindner: … ein Level Playing Field entsteht. Mehrheitlich sieht die Bevölkerung Verbote und Ideologien kritisch. Die Mehrheit hat ein sehr gutes Sensorium für das, was physikalisch möglich und ökonomisch vernünftig ist. Gelegentlich setzt sich die Politik darüber hinweg. Damit wir uns nicht missverstehen: Ich bin absolut dem Ziel verbunden, Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen. Ich sehe darin sogar eine Chance, deutsche Spitzentechnologie in der Dekarbonisierung zu entwickeln und auf die Weltmärkte zu bringen als Weiterentwicklung unseres Geschäftsmodells. Aber der Weg dahin muss auf die Stärken dieses Landes setzen. Und die Stärken dieses Landes sind nicht Bürokratismus, Verbote und staatliche Kommandos. Die Stärken dieses Landes sind im Unternehmergeist und Erfindungsreichtum von Investorinnen, Gründern, Ingenieuren und Technikern begründet.

In welchen Bereichen der Wirtschaft sehen Sie Deutschland noch oder wieder als globalen Technologieführer?

Lindner: Im Bereich des Maschinenbaus, des Fahrzeugbaus, im Bereich Chemie, im Bereich Energietechnik, im Bereich Pharmazie haben wir weltweit Toppositionen – nicht nur in der Industrie, sondern auch bei den Hidden Champions im Mittelstand. Das müssen wir erhalten. Es ist nicht die Schwäche der Wirtschaft, die gegenwärtig dazu führt, dass die Wachstumszahlen nicht überzeugen und wir sogar gerade eine Rezession diagnostiziert bekommen haben. Es sind die Rahmenbedingungen, die nicht stimmen. Wenn wir es nüchtern betrachten, haben wir uns über ein Jahrzehnt darauf verlassen, dass die USA unsere Sicherheit übernehmen. Wir haben uns lange darauf verlassen, dass wir günstiges Gas aus Russland importieren. Und wir haben uns – das gehört zur Wahrheit dazu – auch darauf verlassen, dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in globaler Perspektive automatisch gegeben ist.

Was also tun?

Lindner: Die Zeitenwende, die wir zum Beispiel bei der Bundeswehr herbeiführen, brauchen wir jetzt auch in der Marktwirtschaft. Also Anreize geben für private Investitionen und für Forschungstätigkeit, weniger Bürokratismus am Arbeitsmarkt, keine Technologieverbote, keine überzogenen Standards und Vorgaben beispielsweise bei Fragen der Energieeffizienz. Das stellt sich von alleine über die nächsten Jahre ein. Aber jetzt brauchen wir so etwas wie eine Pause bei Belastungen, wie es der französische Präsident unlängst vorgeschlagen hat.

Sehen Sie denn neue Technologien, auf die wir uns konzentrieren sollten?

Lindner: Neben den genannten Branchen, von denen ich glaube, dass sie ihre starken Rolle als Innovationsführer verteidigen können und müssen, hat man natürlich neue Bereiche etwa im Feld der Künstlichen Intelligenz, der Umwelttechnologien, der personalisierten Medizin und Pharmazie. Und im Bereich der Energie etwa bei der nächsten Generation der Nutzung von Nukleartechnik, also der Fusion statt Spaltung. Das sind alles Dinge, die hierzulande entstehen. Aber gerade auch im Greentech-Bereich gibt es unglaublich viel an Innovation. Eigentlich müsste man sagen, Klimaschutz in Deutschland sollte sein: „engineered by german technology“ statt Verbot, Askese und Verzicht auf Wachstum.

Würden Sie sich da eine stärkere Unterstützung der Wirtschaft wünschen?

Lindner: Ja! Es gibt viele Begegnungen mit führenden Köpfen der deutschen Wirtschaft, wo zunächst einmal der Bundesregierung gedankt wird. Aber eben nur im Stillen, nicht öffentlich. Bei der Frage, wie wir die kalte Progression verhindern, habe ich mich recht einsam gefühlt. Dabei ist das Inflationsausgleichsgesetz ein wesentlicher Bestandteil, um den Druck von Lohnforderungen zu nehmen. Beim Kampf um die Zukunft des Verbrennungsmotors habe ich zunächst auch zu wenige Stimmen aus der deutschen Wirtschaft gehört.

Wo steht die deutsche Wirtschaft global? Auf dem jüngsten G7-Treffen wurde viel über De-Risking gegenüber China gesprochen. Große deutsche Konzerne wie BASF oder Siemens haben hingegen steigende statt sinkende Investitionen in China angekündigt.

Lindner: Was auch nachvollziehbar ist. Das ist ein großer Binnenmarkt, der auch in den nächsten Jahren weiter Wachstum hat. Würde die deutsche Wirtschaft nicht dort mitspielen und gewinnen wollen, würde es sie in der weltweiten Wettbewerbsposition zurückwerfen.

Auf der anderen Seite des Globus lockt die USA mit massiven Subventionen des Inflation Reduction Acts.

Lindner: Ja, aber in unserer Rezeption in Deutschland wird übersehen, dass damit gleichzeitig auch erhebliche Steuererhöhungen verbunden sind. Eine im Auftrag meines Ministeriums erarbeitete Studie des ifo Instituts hat ein ambivalentes Bild für die neue Standortqualität der USA gezeigt – jedenfalls für Unternehmen, die noch nicht dort sind. Wer dort schon präsent ist und seine Investitionen verstärkt, etwa im Automotive-Bereich, was spricht dagegen?

Wie soll Europa darauf reagieren?

Lindner: Wir haben in Europa auch Fördermittel. Die 370 Milliarden US-Dollar der USA beeindrucken mich jedenfalls nicht angesichts der über 800 Milliarden Euro, die auf dem Tisch liegen im Programm NextGenerationEU. Wir müssen allerdings effektiver und schneller dabei werden, versprochene Mittel auch wirklich einzusetzen, sodass sie einen Hebel für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit darstellen. Und ferner müssen wir unsere eigenen Rahmenbedingungen verbessern. Die Wachstumshemmer sind zu wenige Fachkräfte, zu hohe Steuern, Technologieverbote, schlechte Infrastrukturen, hohe Energiepreise. Damit ist die Agenda doch klar. Los geht’s!

Sie haben vor Kurzem gesagt, Deutschland müsse in Sachen Wirtschaft „auf Angriff spielen“. Wo können Sie überhaupt angreifen? Wo sind Ihnen die Hände gebunden?

Lindner: Die Stellschrauben sind klar. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz kommt. Planungs- und Genehmigungsverfahren werden beschleunigt. Wir bekommen einen Paradigmenwechsel im Naturschutz, dass die Fläche nicht mehr durch Fläche kompensiert wird, sondern auch durch eine Zahlung. Das bringt Tempo. Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung bringen wir voran. Es wird ein Paket geben von steuerlichen Änderungen, die auch die Wettbewerbsfähigkeit stärken. Mehr wird kommen, wenn wir die Inflation durch restriktive Haushaltspolitik unter Kontrolle gebracht haben. Jetzt können wir nicht so viel tun in dem Bereich, wie ich es mir wünschen würde, weil wir als Priorität die Inflation runterbringen müssen. Sobald das unter Kontrolle ist und wir im Haushalt wieder Spielräume erarbeitet haben, wird es auch stärkere Wachstumsimpulse noch im steuerlichen Bereich geben.

Und wann?

Lindner: Wenn die Inflation reduziert ist auf dem Pfad, den wir als verantwortbar erachten, und die Notenbank ebenfalls Signale sendet, dass sie ihre Politik verändert. Gegenwärtig wäre es unsinnig, gegen die Geldpolitik fiskalpolitische Impulse zu setzen. Das kann man nicht machen, das hebt sich auf. Also Preisstabilität, Schuldenbremse im Bundeshaushalt, Konsolidieren im Staatshaushalt. Erst in den Ausgaben mit dem Geld auskommen, das die Bürgerinnen und Bürger uns zur Verfügung stellen, und dann werden uns in den nächsten Schritten auch wieder Spielräume zuwachsen, um steuerliche Wachstumsimpulse zu senden, etwa im Bereich von großzügigeren Abschreibungen.

Waren denn die massiven Subventionen des letzten Jahres im Nachhinein zu viel?

Lindner: Nein, das war notwendig, um Strukturbrüche zu verhindern. Die 200 Milliarden Euro des wirtschaftlichen Abwehrschirms für die Strom- und die Gaspreisbremse werden jedenfalls nicht voll genutzt werden, so viel kann man jetzt schon sagen. Die große Maßnahme des Inflationsausgleichsgesetzes, die war in der Tat teuer. Aber eine vierköpfige Familie mit 55.000 Euro Einkommen würde in diesem Jahr 800 Euro mehr Steuern zahlen ohne diesen Inflationsausgleich. Das ist gut angelegtes Geld. Das schützt die Menschen. Das erlaubt ihnen auch weiter Konsum. Es nimmt ein Stück weit auch Druck von noch höheren Tarifforderungen. Und die steuerfreie Einmalzahlung als Inflationsprämie ist ebenfalls ein gutes Instrument gewesen, um eine Lohn-Preis-Spirale abzuwenden.

Sie haben angekündigt, das Steuersystem „zum Taktgeber“ dieser anstehenden Transformation der Wirtschaft machen zu wollen. Wann geht es los mit dem Dirigieren?

Lindner: Es sind im Dirigat hier interessanterweise zwei Stöcke, nicht einer. Der eine ist der CO₂-Preis als marktwirtschaftliches Instrument. Wir sollten noch schneller aus den dirigistischen Vorgaben hin zu einem CO₂-Preismechanismus insgesamt für alle Bereiche wechseln. Der andere Stab im Dirigat ist das Steuerrecht. Ich ziehe eine Abschreibung, eine steuerliche Forschungsförderung, eine Investitionsprämie im Steuerrecht regelmäßig der zu beantragenden und dann von einer Behörde zu genehmigenden Subvention für ein Einzelvorhaben oder eine Technologie vor. Die Instrumente liegen auf dem Tisch. Wir hatten schon einmal die degressive AfA. Sobald es die Haushaltslage erlaubt, werden wir wieder in diese Richtung gehen. Aber ich bekenne mich auch gegenüber der deutschen Wirtschaft eineindeutig dazu: Die Bekämpfung der Inflation und die Wiederherstellung von Preisstabilität ist von überragender wirtschaftlicher Bedeutung.

Sie haben jüngst gesagt, wir seien „am Beginn einer neuen Epoche der Globalisierung, nicht am Anfang ihres Endes“. Wie wird diese neue Epoche aussehen? Wo ist der Platz Deutschlands?

Lindner: Er ist in Europa und als Teil multilateraler Zusammenarbeit. In diesem Jahrhundert wird es stärker noch als im letzten um internationale Kooperation gehen, denn es verschieben sich die Gewichte geopolitisch. Und Deutschland mag in Europa ein starkes Land sein, aber auf der Weltbühne alleine wären wir auch einflusslos bei den großen Trends und bei den großen Gestaltungsfragen. Deshalb kommt der Einbindung Deutschlands in internationale Formate und vor allen Dingen der Einbindung Deutschlands in Europa die überragende Bedeutung zu. Wir müssen deutsche Außenpolitik, deutsche Handelspolitik weniger denn je national geprägt denken, sondern im europäischen Umfeld.