Die Ukraine kann sich auf uns verlassen.

Christian Lindner
tagesschau.de

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Herr Lindner, warum ist es Ihnen wichtig, gerade jetzt, 18 Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges, persönlich in Kiew zu sein?

Lindner: Es hat jetzt einige Monate keinen Besuch Deutschlands oder deutscher hochrangiger Regierungsvertreter hier in Kiew gegeben. Deshalb ist jetzt der richtige Zeitpunkt, nochmal durch einen Besuch politisch zu unterstreichen, dass wir unverändert an der Seite der Ukraine stehen. Hier werden auch unsere Werte verteidigt. Hier geht es um die Friedens- und Freiheitsordnung Europas insgesamt. Und deshalb darf man weiter auf uns zählen. Zum anderen haben wir eine konkrete Verwaltungsvereinbarung unterzeichnet mit dem Finanzministerium der Ukraine, weil wir nicht nur mit Geld und militärisch helfen wollen, sondern auch mit Know-how und unseren Erfahrungen, damit es eine gute wirtschaftliche Entwicklung gibt.

Deutschland leistet nach den USA die zweitgrößte militärische Unterstützung für die Ukraine. Sie haben heute viele Gespräche geführt, unter anderem mit Verteidigungsminister Oleksij Resnikow. Sie haben sicherlich auch Nachfragen bekommen in Richtung „Taurus“, weitreichende Raketen, Marschflugkörper. Wie ist Ihre persönliche Haltung zu dieser Frage? Sollte Deutschland „Taurus“ liefern an die Ukraine?

Ich verstehe Ihre Frage. Tatsächlich hatten die Gespräche aber einen anderen Charakter. In den Gesprächen ging es zunächst und überwiegend darum zu würdigen, was Deutschland bereits getan hat und tut. Insbesondere unsere Luftverteidigungssysteme wurden mir gezeigt und erläutert, welch große Bedeutung sie für den Schutz der Zivilbevölkerung haben. Mit ganz weitem Abstand wurde dann die Frage zusätzlicher militärischer Mittel angesprochen, etwa der Marschflugkörper „Taurus“. Hier haben wir etablierte Verfahren. Deutschland berät das insbesondere im Kreis der Verbündeten, berücksichtigt seine eigenen Möglichkeiten zur Landesverteidigung - und was dann möglich ist und uns nicht zur Kriegspartei werden lässt, das stellen wir zur Verfügung. Ich habe Sympathie für eine weitere Unterstützung, aber wir werden das im Rahmen der bestehenden Verfahren entscheiden. Allerdings gehe ich davon aus: wesentlich schneller und kurzfristiger als bei vergangenen Projekten dieser Art.

Aber Sie sagen, das höre ich heraus: Deutschland sollte „Taurus“ liefern.

Lindner: Wir haben etablierte Verfahren und meine Ausgangsposition ist Sympathie. Aber im Verfahren muss mit den Verbündeten und mit den militärischen Möglichkeiten geklärt werden, was geht und was gemeinsam verfolgt wird. Und danach kann aus der Offenheit und Sympathie eine konkrete Position werden.

Russland zerstört ukrainische Städte. Diese Zerstörung geht weiter. Das haben wir jetzt in Odessa gesehen. Was kann Deutschland beim Thema Wiederaufbau leisten? Wie kann Deutschland da konkret unterstützen? Wie können Sie als Finanzminister da unterstützen? Das war ja auch eines der Themen.

Lindner: Ein Beitrag ist, dass wir die Ukraine unterstützen beim Aufbau guter Verwaltungsstrukturen, der Bekämpfung der Korruption, der Privatisierung der sehr vielen Staatsunternehmen, die es aus historischen Gründen hier noch gibt, also bei der Stärkung der marktwirtschaftlichen Strukturen. Der Wiederaufbau wird nämlich nicht gelingen nur mit dem Geld öffentlicher Unterstützer, also etwa der westlichen Staatengemeinschaft. Sondern er kann nur gelingen, wenn private ausländische Investitionen in die Ukraine fließen und wenn die vorhandenen eigenen Ressourcen genutzt werden - neben der Offenheit, auch wirtschaftlich zusammenzuarbeiten. Als Staaten wollen wir die Grundlagen durch Strukturreformen stärken, auf deren Fundament dann neue wirtschaftliche Erfolge gelingen können.

Wiederaufbau mitten im Krieg - wie kann es denn überhaupt gelingen, dass die Ukraine die militärischen Ziele sehr schnell erreichen kann? Auch weil militärische Unterstützung ja tröpfchenweise kommt und nicht en masse.

Lindner: Wir machen sehr viel militärisch, aber ich will jetzt auf den Aspekt nicht im Einzelnen nochmal eingehen. Wiederaufbau ist natürlich vor allen Dingen eine Aufgabe für die Zeit nach dem Ende des Krieges. Jetzt geht es darum, schnell dort zu ertüchtigen, wo kritische Infrastrukturen zerstört worden sind. Da kann man nicht warten. Das muss sofort erfolgen. Aber der große Impuls für den wirtschaftlichen Fortschritt in der Ukraine, den Wiederanschluss an eine prosperierende Perspektive, das ist für den Zeitpunkt nach dem Krieg wahrscheinlicher. Dafür müssen aber jetzt die Voraussetzungen geschaffen werden, eben durch Strukturreformen in der Verwaltung und Bekämpfung der Korruption. Es braucht international koordinierte Plattformen, wo die Geber sind, und gute Kontakte in den privaten Sektor im Ausland, wo Investitionen in die Ukraine fließen sollen. Man kann jetzt das Fundament dafür schaffen, aber die eigentliche Aufgabe, die wird fraglos erst dann angegangen werden können, wenn wieder Frieden ist.

Was ist Ihre Botschaft an die Ukrainerinnen und Ukrainer als Finanzminister, als Parteichef der FDP?

Lindner: Ihr könnt euch auf uns verlassen.

Und was nehmen Sie mit an Eindrücken aus Kiew für Ihre konkrete politische Arbeit in Berlin?

Lindner: Ich habe ja einen sehr engen Austausch mit meinem Pendant, dem Finanzminister, den Premierminister habe ich verschiedentlich schon getroffen. Insofern sind wir fachlich in sehr engem Austausch. Aber ich nehme vor allen Dingen für mein Gefühl etwas mit. Wenn man hier in Kiew durch die Straßen fährt und die Menschen sieht, das ist ein Alltag, der hier stattfindet mit Straßencafés, und man hat das Gefühl, es könnte jede andere europäische Metropole sein. Hier herrscht aber Krieg. Das ist eine doppelte Botschaft. Dieser Alltag hier ist eine Illusion, weil es eben keinen Alltag geben kann, wenn Krieg herrscht. Aber umgekehrt ist das auch eine Botschaft an uns. Nur weil wir einen liberalen Lebensstil leben und uns auch in solchen Städten bewegen, bedeutet das nicht, dass nicht wir morgen die Nächsten sein könnten, die Opfer von Aggression werden. Deshalb sind Wehrhaftigkeit, Verteidigungsbereitschaft und Solidarität unverzichtbar, um in Freiheit zu leben.