Die einzige Umfrage, die mich interessiert, ist die am 8. Oktober.

Christian Lindner
Abendzeitung München

Lesedauer: 10 Minuten

 

Herr Lindner, sind Sie ein Biergarten-Fan?

Lindner: Durchaus! Mir gefällt die Gemütlichkeit und ich mag Herzhaftes.

Was zum Beispiel?

Lindner: Ich bin ein großer Sauerkraut-Fan und die Beilage ist fast egal, wobei ich Nürnberger präferiere – was aber keine politische Aussage ist.

Wieso wollen Sie dann der bayerischen Gastronomie den Würstlgrill abdrehen? Laut Branchenverband Dehoga droht im Freistaat 2393 Betrieben das Aus, wenn die Mehrwertsteuer auf Speisen 2024 wieder von sieben auf 19 Prozent angehoben wird.

Lindner: Das ist nicht die Absicht. Die frühere Bundesregierung unter Führung von CDU und CSU hat den ermäßigten Mehrwertsteuersatz für die Speisegastronomie wegen der Corona-Schließungen befristet gesenkt. Ich habe veranlasst, dass die befristete Senkung 2023 vor dem Hintergrund der Energiekrise fortgesetzt wird. Unter der früheren Regierung wäre sie 2023 ausgelaufen, sie hatte keine Vorsorge getroffen. Aber die Fortsetzung war wegen der gestiegenen Energiepreise notwendig. Jetzt muss der Deutsche Bundestag im Lichte der nächsten Steuerschätzung entscheiden, wie es 2024 und darüber hinaus weitergeht. Ich habe vielfach gesagt, dass ich Sympathie für eine Verlängerung habe. Aber die Entscheidung trifft der Haushaltsgesetzgeber.

Es ist ja durchaus kurios, dass – gesetzt den Fall, die Steuer steigt wieder – eine Pizza, die man abholt oder sich liefern lässt, mit sieben Prozent besteuert wird, eine Pizza, die man im Restaurant isst, aber mit 19. Wie erklären Sie das den Menschen?

Lindner: Das Mehrwertsteuer-System in Deutschland ist seit vielen Jahren reform- und korrekturbedürftig. Da gibt es viele Paradoxien. Eine Amtszeit als Finanzminister reicht gar nicht aus, um all die vielen Dinge im Steuerrecht anzugehen, an denen wir arbeiten müssen.

Ist das eine Bewerbung für die nächste Legislaturperiode?

Lindner: Ich bin noch nicht fertig mit meinen Ideen. Es gibt noch viel zu tun.

Bayerns FDP-Chef und Spitzenkandidat Martin Hagen bei der Landtagswahl denkt mit Blick auf den Freistaat vermutlich ähnlich. Wie zuversichtlich sind Sie, dass sich das liberale Desaster von Berlin, Niedersachsen und dem Saarland am 8. Oktober nicht wiederholt?

Lindner: Ich bin sehr optimistisch. Bayern ist immer ein schwieriges Pflaster für die Freien Demokraten gewesen, das war bei der letzten Landtagswahl auch so. Eine Sache hat sich seitdem aber verändert: Es gab eine politische Charakterprobe durch die Corona-Pandemie. Die FDP war die einzige Partei, die vor pauschalen Schulschließungen, Ausgangssperren und unverhältnismäßigen Maßnahmen gewarnt hat, ohne die Pandemie zu leugnen – während CSU und Freie Wähler, teilweise auch präventiv, unverhältnismäßige Freiheitseingriffe auf den Weg gebracht haben.

Diese Haltung scheint aber nicht auf das Konto der bayerischen FDP einzuzahlen. Aktuell liegt sie in den Umfragen bei vier bis fünf Prozent.

Lindner: Die einzige Umfrage, die mich interessiert, ist die am 8. Oktober.

Hubert Aiwanger, der sich derzeit gerne populistischer Parolen bedient, und seine Freien Wähler liegen bei zwölf bis 14 Prozent. Wie kommt’s?

Lindner: Ich sehe bei Herrn Aiwanger vor allem die bescheidenen Ergebnisse in der Sache. Im Technologie- und Innovationsland Bayern mit seinem wirtschaftlichen Potenzial sind Veränderungen dringend notwendig – und nicht nur Stammtischparolen.

Meinen Sie nicht, dass die ständigen Streitereien der Ampel auf Länderebene einen gewissen Gegenwind erzeugen?

Lindner: Würde die FDP all das machen, was zum Beispiel die Grünen an linker Politik vorschlagen – wie etwa bei den Heizungen–, würden wir doch unsere Wählerinnen und Wähler verraten. Die Millionen von Menschen, die liberal gewählt haben, erwarten doch, dass wir uns einsetzen für wirtschaftliche Vernunft, für Selbstbestimmung statt Bürokratie, für eine ideologiefreie und marktwirtschaftliche Energie- und Klimapolitik, für mehr Bildung statt immer mehr Umverteilung. Und das tun wir. Auch wenn der Preis dafür ist, dass es ein Ringen gibt, von dem ich mir wünsche, dass es öfter hinter den Kulissen stattfindet.

Das scheinen sich aktuell alle zu wünschen. Olaf Scholz hat am Wochenende mit Blick auf den Streit um Kindergrundsicherung und Wachstumschancengesetz gesagt: „Und vielleicht gewöhnt sich der eine oder andere dann daran, erst dann zu reden, wenn die Verständigungen gelungen sind.“ Fühlen Sie sich angesprochen?

Lindner: Nein.

Dabei haben Sie quasi zeitgleich noch einen draufgelegt – und die Kindergrundsicherung auch inhaltlich infrage gestellt.

Lindner: Tatsächlich erlaube ich mir, weiter die Frage zu stellen, wie wir Kindern und Jugendlichen am besten helfen. Das ist seit Beginn meiner politischen Laufbahn mein Anliegen: dass die Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen nicht abhängig sein dürfen vom Elternhaus. Kinderarmut in Deutschland steht aber heute mehr denn je im Zusammenhang mit Einwanderung. Wir dürfen nicht verkennen, dass in den Familien, in denen nicht gearbeitet und nicht Deutsch gesprochen wird und die teilweise erst seit wenigen Jahren in unserem Land leben, die Probleme am größten sind. Das ist keine Geldfrage. Denn eine fünfköpfige Familie, die nicht arbeitet, erhält vom Steuerzahler gut 37.000 Euro. Wenn das jetzt 39.000 oder 42.000 Euro sind, verbessert das die Situation nicht zwingend. Nachhaltig besser wird sie nur, wenn die Eltern die Sprache beherrschen, arbeiten können und wenn die Kinder gute Kitas und gute Schulen haben, damit sie selbst sich auf einen Weg ins Leben machen können, auf dem ihre Entscheidungen den Platz im Leben bestimmen und nicht die Herkunft.

Brauchen arme Kinder nicht sowohl Investitionen in Bildung und Förderprogramme – als auch Geld für Schulranzen und Bustickets?

Lindner: Glauben Sie nicht, dass es einen Unterschied machen muss, ob jemand arbeitet oder nicht? Wenn man über Sozialtransfers immer mehr Geld erhält, reduziert das doch die Notwendigkeit, sich um Arbeit zu bemühen. Was sagen dann all die Menschen, die hart arbeiten müssen für ihr Geld und keine Sozialleistungen bekommen, wenn der Abstand zwischen jenen, die arbeiten, und jenen, die nicht arbeiten, zu gering wird? Auch diese Perspektive der Gerechtigkeit muss gesehen werden.

Laut Bundesagentur für Arbeit beziehen 890.000 Minderjährige ausländischer Herkunft Sozialleistungen – aber auch eine Million mit deutschem Pass, von denen viele bei alleinerziehenden Müttern leben.

Lindner: Ja, hier haben wir große Defizite insbesondere im Bereich der Kinderbetreuungsinfrastuktur – zumal in Bayern auf dem Land. Wenn eine alleinerziehende Mutter aufgrund der Unmöglichkeit, eine verlässliche, qualitätsvolle Betreuung für ihr Kind oder ihre Kinder zu finden, zu Hause bleiben muss, ist das ein enormes Problem. Ein Problem, das über das Erwachsenwerden des Nachwuchses hinausreicht. Denn wenn diese alleinerziehende Mutter wegen der fehlenden Kinderbetreuung gar nicht in der Lage ist zu arbeiten, wird der Einstieg später umso schwieriger. Der Schlüssel ist deshalb die Verbesserung der Betreuungsinfrastruktur.

Sie haben mit dem Wachstumschancengesetz ein Programm aufgelegt, das hierzulande die Wirtschaft wieder auf die Beine bringen soll. Kann das Gesetz überhaupt noch – und auch rechtzeitig – zum Erfolg werden, oder ist es, wie man sagt, zu wenig, zu spät?

Lindner: Wir haben ganz strukturelle Herausforderungen. Seit mehr als einem Jahrzehnt haben wir nicht nur die Bundeswehr vernachlässigt, sondern auch unsere Wirtschaftskraft und die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe. Wir müssen grundlegend etwas verändern. Das Wachstumschancengesetz ist ein erster Baustein. Da geht es um verbesserte Investitionsmöglichkeiten, steuerliche Anreize dafür, Forschungsförderung, bessere Abschreibung. Aber wir müssen auch die Gewinnung von Fachkräften optimieren, brauchen weniger Bürokratie und schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren. An beidem arbeiten wir und haben auch schon, siehe LNG-Terminals, Erfolge erzielt. Wir benötigen mehr Kapazitäten in der Energieerzeugung, damit die Preise wieder runtergehen. Und, ganz klar: Wir müssen die Steuersätze reduzieren, die sind nicht mehr wettbewerbsfähig. Das Leichteste wäre, auf den Solidaritätszuschlag zu verzichten. Bedauerlicherweise gibt es dafür schon seit vielen Jahren im Deutschen Bundestag keine Mehrheit. Aber mit fröhlicher Penetranz bleibe ich dabei, das Notwendige zu fordern.

Als Wachstumsbremse wird auch die sehr hohe steuerliche Belastung der Mittelschicht beklagt, zuletzt vom Ifo-Institut, das sie am Rande des Erträglichen sieht. Vergisst die Ampel die Mittelschicht?

Lindner: Auf gar keinen Fall! Wir haben mit dem Inflationsausgleichsgesetz auf meinen Vorschlag gerade vollständig die kalte Progression beseitigt: Eine vierköpfige Familie, die 55.000 Euro verdient, zahlt in diesem Jahr 800 Euro weniger Steuern. Dadurch haben wir verhindert, dass die Menschen noch mehr Kaufkraft verlieren. Aber richtig ist: Ich würde gerne mehr tun. Wer allerdings Betriebe und Beschäftigte entlasten und in Zeiten der Inflation nicht mehr Staatsschulden machen will – was die Inflation anheizen würde –, der muss eben dann an anderer Stelle sagen, diese Subvention wollen wir nicht. Auf diesen Weg haben wir uns begeben schon mit dem Haushalt 2023, der die Schuldenbremse einhält, und erst recht mit den Haushalten 2024 und folgende, weil wir sie ohne Sondervermögen und ohne Rücklagen aufstellen. Wir werden einfach mit dem Geld auskommen, das uns die Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung stellen. Das müssen wir auch.

Auf der anderen Seite gibt es Millionäre in Deutschland wie die Initiative taxmenow, die geradezu darum bitten, höher besteuert zu werden. Sie lehnen das ab – warum?

Lindner: Diejenigen, die glauben, zu gering besteuert zu werden, können ein vom Finanzministerium eingerichtetes Konto nutzen, dorthin überweisen und der Staatshaushalt profitiert. Ansonsten sind wir ein Höchststeuerland. Das geht voll zulasten der Wettbewerbsfähigkeit. Wir dürfen nicht vergessen: Ein Betrieb, der mehr Steuern auf seinen Gewinn zahlt, hat weniger Eigenkapital, weniger Krisenfestigkeit, weniger Möglichkeiten aus eigenen Mitteln zu investieren. Er muss sich im Zweifel höher verschulden für notwendige Investitionen. Deshalb ist das keine kluge Idee im Interesse der Beschäftigten und der transformativen Aufgaben bei Digitalisierung und Klimaschutz.

Diese hohe Steuerbelastung dürfte – neben anderen Punkten – auch qualifizierte Einwanderer von Deutschland abschrecken. Ist vor diesem Hintergrund der Ruf nach jährlich mindestens 400.000 Fachkräften aus dem Ausland nicht vergebens?

Lindner: Sie sprechen absolut zutreffend ein Dilemma an, eine Herausforderung, die wir haben. Wir haben es zu lange den Menschen schwergemacht, in den Arbeitsmarkt zu kommen, die wir brauchen – und es denen leicht gemacht zu bleiben, die irregulär in den Sozialstaat eingewandert sind. Das ändern wir mit der neuen Einwanderungspolitik. Aber das heißt nicht, dass wir einen Riesenmagnetismus hätten für die fleißigen Hände und klugen Köpfe. Das Bildungssystem ist nicht, wie es sein sollte, die öffentliche Infrastruktur auch nicht. Die Digitalisierung ist nicht auf dem Stand, den die Menschen international kennen. Und dann die hohe Steuern- und Abgabenlast und eine Gesellschaft, die oft genug neidisch ist auf Menschen, die mehr wirtschaftlichen Erfolg haben.

Wie meinen Sie das?

Lindner: Wenn hier in Deutschland jemand erfolgreich ist, wird sofort gefragt: Können wir ihn höher besteuern? Woanders wird gesagt: Danke für den Erfolg, danke für die Steuern, die du zahlst, danke für die Arbeitsplätze, die du geschaffen hast, wir sind stolz, solche Persönlichkeiten zu haben. Es muss sich bei uns sehr viel ändern, auch an unserer Mentalität, damit wir wirklich attraktiv werden für die Toptalente. Ich bin absolut überzeugt, dass wir ein ganz tolles Land sind und ganz viel können, aber wir stehen uns selbst im Weg.

Das eine sind die Fachkräfte aus dem Ausland. Ihr Kabinettskollege Hubertus Heil reist um die Welt, um beispielsweise Pflegekräfte anzuwerben. Wären nicht höhere Löhne und Steuererleichterungen für die, die schon hier sind, aber wegen schlechter Arbeitsbedingungen aufgeben wollen, einfacher?

Lindner: Wenn ich mit Pflegenden oder Menschen in Care-Berufen spreche, wird mir oft nicht mehr gesagt, das größte Problem in ihrem Beruf sei, dass die Löhne zu niedrig seien.

Was wird Ihnen dann gesagt?

Lindner: Dass die Arbeitsbelastung zu hoch sei. Die Schichten sind körperlich zu belastend. Es sind zu wenige da, die die Arbeit schultern müssen. Dann gehen die Leute aus der Vollzeit in die Teilzeit, und dann ist noch weniger Personal da. Das heißt, wir müssen tatsächlich den großen Schritt gehen durch machtvolle Politik, also: schnellere Berufsanerkennung von Menschen, die aus dem Ausland kommen mit einer entsprechenden Qualifikation. Wir müssen Einwanderungsregelungen verbessern und dadurch schnell die Arbeitssituation, -belastung und -verdichtung reduzieren, damit es zum Beispiel möglich ist, dass eine Pflegekraft, die länger arbeiten will, sich mehr Stunden zutraut.

Kommen wir von zu viel zu wenig Arbeit: Als Wachstumsbremse werden immer wieder zu wenig Arbeitsstunden genannt. Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Diskussion um die Vier-Tage-Woche?

Lindner: Ich bin für Selbstbestimmung. Ich bin Liberaler, ist doch klar. Ich bin für Flexibilität. Ich habe nichts dagegen, wenn Menschen vier Tage arbeiten wollen. Wer seine 40 Stunden auf vier Tage aufteilt, bitte. Wer vier Tage arbeitet und insgesamt weniger Stunden leisten will, soll das auch tun. Aber was nicht geht: vier Tage arbeiten und den Lohn für fünf bekommen.