Das Europäische an Europa ist die Idee der Vielfalt

Christian Lindner MdL
Politico

Diesen Monat haben die Euro-Länder die Auszahlung weiterer Milliarden-Hilfen an Athen zugesagt. Was halten Sie von dem Deal?

Lindner: Es gibt keine Lösung und keinen echten Fortschritt. Es gibt einen Deal, um über die deutsche Bundestagswahl zu kommen. Es ist eine Missachtung unseres Parlaments, dass der Deutsche Bundestag dazu nicht erneut befragt wird. Die jetzigen Auszahlungen entsprechen nicht den Bedingungen, die der Bundestag vor zwei Jahren in seinem Entschluss getroffen hat, unter anderem zur Frage, ob sich der Internationale Währungsfonds (IWF) mit Kapital beteiligt. Wenn Griechenland seine Schulden nicht tragen kann, wie der IWF sagt, dann muss man sich unabhängig von Wahlen ehrlich machen. Ein Schuldenschnitt muss verbunden werden mit einem zumindest zeitweiligen Verlassen der Eurozone. Eine eigene Währung für Griechenland ist mit Risiken verbunden, aber zugleich ein chancenreicher Strategiewechsel für Athen.

Sie schlagen also vor, dass Griechenland, zumindest vorläufig, aus dem Euro aussteigt?

Lindner: So hatten das die europäischen Finanzminister 2015 ja eigentlich auch beschlossen – bis es die Regierungschefs wieder aufgehoben haben. Selbstverständlich muss Griechenland gleichzeitig in der EU verbleiben können. Das muss in den Verträgen neu verankert werden. Die Idee ist also: Griechenland verlässt den Euro, aber bleibt weiter in der EU und erhält weiter Unterstützung aus Brüssel. Diese Summen sind dann aber nicht mehr als Kredit getarnt, der irgendwann zurückgezahlt werden muss. Sie sind Subventionen, die nicht zurückgezahlt werden müssen, die aber eine Zweckbindung für Investitionen in Infrastruktur, Mittelstand und die Modernisierung des Staates haben.

Ein Schuldenschnitt für Griechenland, ohne dass das Land den Euro verlassen muss, ist keine Option für Sie?

Lindner: Das produziert moral hazard. Dann würden sich beispielsweise die Portugiesen fragen, warum sie sich all ihren Mühen unterzogen haben, während andere einen Schuldenerlass bekommen, aber im Euro bleiben können. Es muss schon klarwerden, dass es sich bei einem Schuldenerlass um etwas Anderes handelt. Aus dem Euro auszuscheiden, ist tatsächlich nicht easy. Ein solcher Strategiewechsel im Fall Griechenland hätte ökonomisch eine geringe Bedeutung, aber symbolisch sehr wohl. Das könnte für den Rest der Eurozone eine Art Neustart bedeuten.

Warum hört man dazu keine Kritik aus Merkels Union?

Lindner: Die CDU / CSU ist eine Machtmaschine. Da jetzt eine Bundestagswahl ansteht und die Kanzlerin gut dasteht, wird es dort niemanden geben, der laut und öffentlich vernehmbar eine Beteiligung des Bundestags und eine offene Debatte fordert. Das ist alles andere als aufrichtig. Wäre die FDP jetzt im Bundestag, kann ich Ihnen versichern, dass es eine intensive Debatte über die Frage gäbe, dass hier ein Bundestagsbeschluss nicht beachtet wird.

Stichwort Eurozone: Der neue französische Präsident Emmanuel Macron hat vorgeschlagen, dafür einen eigenen Haushalt einzurichten.

Lindner: Wozu brauchen wir den? Wir haben einen Haushalt der Europäischen Union. Daraus werden bereits Maßnahmen zur Anpassung der Wirtschaftskraft finanziert. Wenn deren Wirksamkeit einmal kritisch diskutiert wird, könnte man danach über deren Volumen sprechen. Ein eigener Haushalt für die Eurozone läuft hingegen auf rein umverteilende Maßnahmen und am Ende noch ein eigenes Steuerrecht hinaus. Eine Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) halte ich für vorstellbar, wenn es um eine fiskalische Sicherheitsarchitektur geht. Die Kontrolle der Reformfortschritte in den Programmländern könnte an den ESM übergehen. Der IWF sollte nach unserer Überzeugung als unabhängige Institution und als Anwalt der stabilitätsorientieren Mitglieder der Eurozone an Bord bleiben.

Was denken Sie über Macrons Vorschlag für ein eigenes Parlament der Eurozone?

Lindner: Sehe ich nicht. Der momentane, intergouvernmentale Ansatz hat seine Vorteile.

Und seine Idee eines Euro-Finanzministers?

Lindner: Wir wissen nicht, was Herr Macron meint, wenn er vom Euro-Finanzminister spricht. Denkbar ist, die Aufgaben des Vorsitzenden der Euro-Gruppe und des für Finanzen zuständigen EU-Kommissars zu bündeln. Dieses Amt müsste aber politisch unabhängig und den Verträgen verpflichtet sein. Macron schlägt vor, in Richtung Vereinheitlichung, am Ende auch Schuldengemeinschaft zu gehen. Ich bin hingegen dafür, die Regeln endlich wieder scharf zu stellen. Einen Erfolg des Wegs von Transfers und Umverteilung sehe ich nicht. An dessen Ende stünde ein System Sowjetunion, bei dem die systematischen Verlierer sich irgendwann gegen die Union und gegen den Euro stellen würden. Das dürfen wir nicht riskieren.

Befürchten Sie nicht, dass schärfere Regeln langfristig zu einem Auseinanderbrechen der EU führen?

Lindner: Es ist genau andersherum: Langfristig hätte ein vereinheitlichtes Europa keine Zukunft. Nach meiner Überzeugung ist das Europäische an Europa die Idee der Vielfalt: die Toleranz gegenüber historisch gewachsenen Unterschieden.

Ein „two-speed Europe“ also?

Lindner: Ja, ich bin sehr für die Idee eines differenzierten Europas. 

Warum sollte man Frankreich und Deutschland untersagen, gemeinsam bilateral eine gleiche Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer zu schaffen?

Lindner: Es darf kein „closed shop“ sein. Aber wenn Deutschland und Frankreich in der Frage der gemeinsamen Unternehmensbesteuerung vorangehen, mit einem französischen und einem deutschen Steuersatz auf einer vergleichbaren Bemessungsgrundlage, dann sagen irgendwann vielleicht auch die Benelux-Staaten: Das ist eine tolle Idee, wir machen mit, dann sagt Österreich, wir machen mit – und so weiter. Das wäre gegen niemanden gerichtet und bedeutet eine Einladung, beispielsweise an Polen, sich ebenfalls daran zu orientieren. Wenn es darum geht, ob alle EU-Mitglieder auch dem Euro beitreten sollten, teile ich die Euphorie von Herrn Juncker nicht vorbehaltlos. Die Eurozone hat bislang noch eine Reihe von systematischen und ökonomischen Problemen, die erst mal gelöst werden müssen, bevor wir den Kreis erweitern können.

Zur Haushaltsdisziplin: Sollten EU-Subventionen daran geknüpft werden, dass die Empfänger-Länder ihre Haushaltskriterien erfüllen?

Lindner: Das ist denkbar. Es sollte schließlich auch im eigenen Interesse der Staaten sein, dass sie ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Der großangelegte Lissabon-Prozess, die EU zur wettbewerbsfähigsten Region bis 2020 zu machen, ist krachend gescheitert. Aber statt das nun neu anzugehen, wird vermessen, wie groß der deutsche Außenhandelsüberschuss innerhalb Europas ist. Das ist unsinnig. Der Handelsüberschuss Deutschlands korrespondiert ja mit deutschen Direktinvestitionen in anderen Ländern: Wir leihen den anderen das Geld für deutsche Waren – und können uns dann nicht sicher sein, ob wir das Geld jemals zurückerhalten.

Wie beurteilen Sie die Position der Bundesregierung zum Brexit?

Lindner: Es gibt widersprüchliche Äußerungen. Am Anfang hatte ich das Gefühl, es solle ein abschreckendes Beispiel an Großbritannien statuiert werden. Das war die falsche Strategie. Europa und Deutschland geht es nicht besser, wenn die Briten geschwächt sind – ganz im Gegenteil. Wir haben ein Interesse an einem starken und wirtschaftlich prosperierenden Großbritannien. Das Ziel muss sein, mit den Briten einen fairen Deal zu vereinbaren. Zollunion, Freihandelszone, Binnenmarktzugang – alle Optionen müssen auf den Tisch. Abstriche an den Grundfreiheiten des Binnenmarktes dürfte es aber nicht geben. Wenn die Briten Probleme mit der Freizügigkeit innerhalb Europas haben, können sie vielleicht überzeugt werden, wenn man daran erinnert, dass es sich nur um Arbeitnehmerfreizügigkeit handelt. Angst vor Einwanderung in Sozialsysteme ist unbegründet. Nötigenfalls muss die EU ihr diesbezügliches Recht präzisieren, was im Interesse aller EU-Mitglieder wäre. Die Konsequenzen werden hier unterschätzt. Es gibt generell in Deutschland ein trügerisches Gefühl der wirtschaftlichen Unverwundbarkeit. Das ist vielleicht die größte Gefahr der nächsten Jahre. Wir befinden uns auf einem historischen Hochplateau in Deutschland, aber das Ende ist absehbar, voraussichtlich Ende dieses Jahrzehnts. Aber ich glaube auch, es hat jetzt eine Wende zum Realismus gegeben, was die Brexit-Verhandlungen betrifft.