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Verschiedentlich haben Regierungsmitglieder – zumal von CDU und CSU – vor einer Zweiklassengesellschaft gewarnt. So lange nicht alle wieder ihre Freiheit leben könnten, sollten es die Geimpften ebenfalls nicht tun. Dies sei eine Frage der Solidarität. Tatsächlich ist es sozialer Sprengstoff, wenn ein Teil der Bevölkerung den anderen Teil beim öffentlichen Leben beobachten kann.

Auch deshalb muss Deutschland beim Impfen schneller werden. Wie viele andere habe ich mir die Abwägung nicht leicht gemacht. Ginge es, wie man im vergangenen Jahr noch dachte, nur um eine kurze Zeitspanne, könnte man vielleicht um Einsicht und Geduld bitten?

Noch ist nicht sicher, ob Impfen oder das Überwinden der Krankheit nicht nur Immunität herstellt, sondern auch die Weitergabe des Virus unterbindet. Wenn es dazu aber wissenschaftliche Evidenz gibt, kann es für mich am Ende des Abwägens nur eine Beurteilung geben: Wenn von einem Menschen keine Gefahr ausgeht, dann darf man ihn nicht mehr an der Verwirklichung seiner Grundrechte hindern!

Denn genau darum geht es: um Grundrechte. Sie sind keine Privilegien oder Vorrechte, sondern individuelle Garantien, die unsere Verfassung jeder Einzelnen und jedem Einzelnen garantiert.

Der Staat darf überhaupt nur dort in Freiheiten eingreifen, wo es eine ernsthafte Gefahr gibt. In einer freiheitlichen Gesellschaft muss der Staat begründen, warum er die Freiheit eines Menschen einschränkt. Dass diese Grundanlage unserer Verfassungsordnung mit Begriffen wie „Vorrechte“ in ein falsches Licht gerückt wird, zeigt, wie sehr die Politik des Ausnahmezustands während der Pandemie Werturteile und Debatten geradezu deformiert.

Das Grundgesetz verlangt keine „Gleichheit im Elend“, sondern – im Gegenteil –, dass wesentlich Ungleiches unterschiedlich behandelt wird. Es handelt sich auch nicht um eine „faktische Impfpflicht“, wie der Bundesinnenminister meint. Wir respektieren, dass jemand sich nicht impfen lassen will. Dann sind aber auch individuell Konsequenzen zu tragen.

Es ist nicht unsolidarisch, Menschen die Freiheit wiederzugeben, während andere zu Hause auf ihre Impfung warten müssen. Denn wir impfen zuerst diejenigen, die sich als Risikogruppe in den letzten Monaten besonders einschränken mussten oder sich in Medizin und Pflege besonderen Risiken ausgesetzt haben. Und umso mehr Menschen mit hohem Gesundheitsrisiko geimpft sind, desto mehr Aktivitäten können mit einem entsprechenden Hygienekonzept auch für die noch nicht Geimpften wieder stattfinden.

Die Fortschritte beim Impfen könnten also insgesamt auch wieder mehr öffentliches Leben für alle eröffnen, wenn die Regierungen (endlich) einen Stufenplan für das schrittweise Hochfahren des Landes verabreden würden. Das ist im Übrigen nicht nur eine Frage der Bürgerrechte – wenn es zu einer schrittweisen Lockerung von Einschränkungen kommt, dann reduziert sich auch der soziale und wirtschaftliche Schaden der Lockdown-Politik für alle.

Außerdem gibt es keinen Grund, bei den Kontaktbeschränkungen zukünftig geimpfte Personen noch mitzuzählen. Auch von diesen zusätzlichen Kontakten profitieren alle. Und wir sollten dafür Sorge tragen, dass niemand einen langfristigen Nachteil erleidet (zum Beispiel gekündigt wird), nur, weil er noch länger auf seine Impfung warten muss. In Europa kann Handlungssicherheit und Bewegungsfreiheit wiedergewonnen werden durch ein Impfzertifikat mit dem Nachweis, dass von Menschen keine Gefahr mehr ausgeht.

Wir werden diese Debatte führen müssen. Wir können die Freiheitsbeschränkungen schlecht in Kraft lassen, bis die letzte Person, die geimpft werden möchte, sich hat impfen lassen. Können wir vielen Millionen Geimpften in Zukunft die Freiheit verwehren? Wohl kaum. Wir sollten daher so vielen Menschen so schnell wie möglich den Weg in die Normalität ermöglichen. Warum sehen wir darin keine Perspektive, die allen anderen Mut macht?

Die gesamte Debatte ist auch ein Symptom, wie sehr die Corona-Pandemie an den Nerven unserer Gesellschaft zehrt und wie hoch die Erwartungen an die Impfung sind, weil damit im wahrsten Wortsinne Lebenschancen verknüpft sind – vor allem, wenn die Regierung parallel organisatorisch versagt und sich die Impftermine immer weiter verschieben. Es hätte der Akzeptanz in der Gesellschaft gutgetan, wenn wir die Impfreihenfolge politisch diskutiert und als Gesetz im Bundestag beschlossen hätten. Leider hat die Bundesregierung auch diese öffentliche Diskussion gescheut.