Im Global Risk Report 2023 malt das Weltwirtschaftsforum ein düsteres Bild: „Diese Zeit ist der erste Rückschritt in der menschlichen Entwicklung seit Jahrzehnten“, heißt es in der Analyse. Vor Beginn des Treffens in Davos predigen viele Stimmen puren Pessimismus. Die Globalisierung sei gescheitert. Jetzt bestätige sich, dass die weltweite Verflechtung der Volkswirtschaften Teufelszeug sei. Die hohe Inflation, steigende Zinsen, fragile Lieferketten, die schwierige Energieversorgung und nicht zuletzt die Folgen des russischen Angriffskriegs – all das wird zusammengerührt als Beleg dafür, dass Freihandel und Marktwirtschaft an ihre Grenzen gelangt seien.

Dabei wird übersehen: Die Weltwirtschaft hat Energiekrise, Lieferschwierigkeiten und Leitzinserhöhungen bis jetzt viel besser verkraftet als erwartet. International haben Staaten entschlossen gehandelt, um Strukturbrüche zu verhindern. Auch wir in Deutschland haben Entlastungspakete geschnürt, die es in diesem Umfang bisher noch nicht gegeben hat. Aber auch Produzenten und Verbraucher haben weltweit ihren Beitrag geleistet. Sie reagieren auf Preisanreize, suchen nach neuen Wegen und finden kreative Lösungen. Hier zeigt sich der Wert von marktwirtschaftlichen Ordnungen: Als Innovationstreiber, Kostensenker und Wegbereiter für neue Ideen und Technologien sind sie unverzichtbar.

Ich warne deshalb davor, aus der Gegenwart die falschen Schlüsse zu ziehen. Die Lösung geopolitischer Krisen liegt nicht in weniger Globalisierung und mehr Protektionismus. Im Gegenteil: Wer mehr Resilienz will, muss der Globalisierung einen Neustart verpassen. Die jetzige Krise verlangt ein Update, das Schwächen behebt, Prozesse beschleunigt und neue Zusammenarbeit ermöglicht.

Auch unser „Betriebssystem Europa“ erfordert ein Nachrüsten. Wir müssen auf den Wachstumspfad zurückkehren, um international unseren Platz behaupten zu können. Öffentliche und private Investitionen müssen sich dafür gegenseitig ergänzen, denn sie sind das Fundament für Transformation und nachhaltigen Wohlstand. Wir müssen marktwirtschaftlichen Mut stärken, nicht Verbote und Regularien.

Ohne Wachstum ist sozialer Aufstieg individuell und für Gesellschaften nur im harten Verdrängungs- und Verteilungsstreit möglich. Das kann nicht unser Ziel sein. Für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Investitionen ist in Europa eine realistische, aber ambitionierte Haushaltskonsolidierung unabdingbar.

In fragilen Zeiten entsteht Stabilität durch mehr, nicht durch weniger Freihandel. Wir brauchen einen verstärkten und verlässlichen Austausch insbesondere unter Wertepartnern, die eine ähnliche Vorstellung von Demokratie und Marktwirtschaft haben. Dies ist das beste Mittel, um einseitige Abhängigkeiten gar nicht erst entstehen zu lassen. Das hat uns das vergangene Jahr gelehrt.

Unsere Vision ist eine Weltfreihandelszone der liberalen Demokratien mit gleichen Wettbewerbsbedingungen zwischen engen Verbündeten. Gerade nach dem amerikanischen Inflation Reduction Act brauchen wir dringend einen neuen Anlauf für ein Handelsabkommen mit den USA. Die CETA-Ratifizierung mit Kanada darf erst der Anfang gewesen sein.

Ein breites Portfolio an Wirtschaftsbeziehungen schafft Widerstandskraft. Demokratie, Freihandel und Marktwirtschaft bedingen sich gegenseitig. Eine Abkopplung beispielsweise vom chinesischen Markt kann deshalb nicht die Lösung sein. Wir müssen dafür sorgen, dass China auch mit unserer Spitzentechnologie verbunden bleibt. Dafür braucht es eine gemeinsame europäische Haltung. Dabei ist selbstverständlich: Globale wirtschaftliche Zusammenarbeit kann nur auf Grundlage fairer Regeln und der Achtung des Völkerrechts und der Menschenrechte funktionieren.

Das stärkste Argument pro Globalisierung liefern - last but not least - ihre Gegner selbst: Lange warnten Politikwissenschaftler vor einer globalen „demokratischen Rezession“, weil wirtschaftlicher Erfolg auch offenbar ohne politische Freiheit zu funktionieren schien. Aber auch hier befindet sich die Welt im Wandel: Mächtige Systeme wie Russland, China oder Iran sehen sich mit ungewohntem Widerstand konfrontiert. Die Menschen kämpfen gegen eine Diktatur und für ihre Freiheit. Die Folge: Die Kluft zwischen Willkür- und Volksherrschaften wird größer. Aber ebenso die Solidarität der Demokratien.

„Politische Konflikte sind ein Zeichen der Stärke, weil sie Korrekturen fördern“, sagt der amerikanische Demokratieforscher Daniel Ziblatt. Das USP unserer westlichen Welt muss es sein, die Herausforderungen der Gegenwart als wesentliche und wertvolle Weiterentwicklung zu begreifen, als Neuausrichtung und Antrieb von Fortschritt. Wir befinden uns gemeinsam am Beginn einer neuen Epoche der Globalisierung, nicht am Anfang ihres Endes.