Würde es die FDP nicht geben, müsste man sie gründen

Christian Lindner
BILD am Sonntag

Herr Lindner, mit welchen Vorsätzen starten Sie ins neue Jahr?

Lindner: Ich habe keine Vorsätze, ich habe Ziele: Ich kämpfe dafür, dass die FDP im Mai in Nordrhein-Westfalen stark in den Landtag einzieht und dann dafür, dass es wieder eine liberale Stimme im Bundestag gibt. 2017 wird das wichtigste Jahr in der Geschichte der FDP.

Kann die Partei es überleben, erneut den Sprung in den Bundestag zu verpassen?

Lindner: Noch vor Schließung der Wahllokale, als unser Ergebnis absehbar war, habe ich mich 2013 entschieden, als Vorsitzender zu kandidieren. Ich liebe meine Freiheit und deshalb muss es auch eine liberale Partei geben. Ich verschwende keinen Gedanken an ein Scheitern.

Halten Sie beim Dreikönigstreffen nächste Woche eine Mut- oder eine Wutrede?

Lindner: Ich werde eine Mut- und Wutrede halten. Wütend bin ich darüber, dass unser Rechtsstaat in atemberaubender Weise an Autorität verliert.

Woran machen Sie das fest?

Lindner: Meine Friseurin erzählt mir, dass bei ihr der Zoll in den Laden einfällt. Da werden alle befragt, ob die Arbeitszeit sauber dokumentiert ist. Gleichzeitig werden Banken in Italien mit Milliarden gerettet. Wer mal einen Kilometer zu schnell Auto fährt, bekommt sofort sein Knöllchen zugestellt. Auf der anderen Seite kann ein Terrorist im Visier der Sicherheitsbehörden mit gefälschter Identität Sozialleistungen ergaunern, sich bewaffnen und Menschen umbringen. Da stimmen die Prioritäten nicht! Das wird ein zentrales Thema des Wahlkampfs. Wolfgang Kubicki ist dafür seit 2013 unser Experte. Wie ich ihn kenne, wird er im Frühjahr die Debatten prägen.

Und die Mutrede?

Lindner: Damit wir unseren Wohlstand erhalten, muss sich vieles ändern. Also tun wir es doch. Mit weltbester Bildung, moderner digitaler Infrastruktur und weniger Bürokratie liegen die besten Tage noch vor uns. Das Erwirtschaften des Wohlstands muss wieder wichtiger als das Verteilen werden.

Ohne die FDP in Regierung und Bundestag sind Wohlstand und Wirtschaft gewachsen, die Arbeitslosigkeit gesunken, Löhne und Renten gestiegen. Wofür braucht es bitte schön die Liberalen?

Lindner: Zur guten wirtschaftlichen Lage trägt Mario Draghi mit seinen Niedrigzinsen mehr bei als Angela Merkel und Sigmar Gabriel zusammen. Wir leben in einer Zeit der Wohlstandshalluzination. Die Regierung erzählt, unser Wohlstand sei sicher. Dabei leben wir auf brüchigem Grund. Niedrigzinsen, schwacher Euro, die arbeitenden Babybommer – unsere Wirtschaft müsste viel mehr wachsen.

Sie ziehen mit dem Versprechen in den Wahlkampf, die Steuern um 30 Milliarden Euro im Jahr zu senken. Ein tolles Versprechen, wenn man es nicht umsetzen muss…

Lindner: Ich will das gern umsetzen. Wir leben in Zeiten einer beispiellosen Umverteilung von Privat zu Staat. Wir brauchen eine faire Balance. Wer Immobilien oder wertvolle Gemälde besitzt, der profitiert von den niedrigen Zinsen. Aber die Millionen in der Mitte haben nichts vom Aufschwung. Die zahlen mehr Steuern und Abgaben und müssen in Sorge um ihre Altersvorsorge sein. Für die muss etwas getan werden. Weil die anderen nur über Flüchtlinge und über Superreiche sprechen, also die Ränder, wird die Mitte vergessen.

Wie sieht Ihr Steuerkonzept konkret aus?

Lindner: Schluss mit der Steuerfreiheit für Apple, Google, Starbucks und Ikea. Es ist ein Skandal, dass diese Konzerne hier Gewinne erwirtschaften, aber sich an der Finanzierung unseres Gemeinwesens nicht beteiligen. Wo bleibt da die Initiative von Herrn Schäuble? Wir wollen eine Entlastung bei Steuern und Sozialabgaben. Abschaffung des Soli bis Ende des Jahrzehnts, Verschiebung des Einkommensteuertarifs nach unten und deutlich höhere Freibeträge.

Viele Deutsche sehen nach dem Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt die Zuwanderungspolitik kritisch. Sind die Toten von Berlin „Merkels Tote“ wie AfD-NRW-Chef Pretzell behauptet?

Lindner: Das war charakterlos. Merkels Flüchtlingspolitik ist falsch, unabhängig vom Terror. Das Versagen der Sicherheitsbehörden erinnert an den Fall des rechtsextremistischen Terrornetzwerkes NSU. Das muss aufgeklärt werden. Ich habe kein Vertrauen in eine Untersuchung, die allein von den Innenministern de Maizière und Jäger kommt. Ein Untersuchungsausschuss des Bundestags wäre das richtige Instrument für Aufklärung. Mir ist unbegreiflich, warum die schlafmützige Opposition aus Linken und Grünen den nicht fordert. In Nordrhein-Westfalen hat Innenminister Jäger beim Schutz der Freiheit der Menschen nach der Silvesterschande erneut versagt. Er gehört abgelöst.

Und was hat Merkel in der Flüchtlingspolitik falsch gemacht?

Lindner: Die Politik der grenzenlosen Aufnahmebereitschaft war ein Fehler. Merkel hat hier mit derselben moralischen Überheblichkeit wie die Grünen gehandelt. Wir haben ein Chaos an den Grenzen erlebt, das das Vertrauen in unseren Rechtsstaat erschüttert hat. Wir brauchen klare Regeln – und deren Durchsetzung.

Brauchen wir eine Obergrenze, wie sie CSU-Chef Seehofer seit einem Jahr unbeirrt fordert?

Lindner: Ich fordere Herrn Seehofer auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Dann könnte man prüfen, ob das überhaupt mit der Verfassung vereinbar ist. Wir haben Zweifel. Solange das nicht passiert, sind das nur Show-Effekte. Ich schlage vor, dass Deutschland besser den Schutz der Außengrenzen der EU vorantreibt.

Ist der Rechtsstaat im Umgang mit straffälligen Asylbewerbern überfordert?

Lindner: Eigentlich ist es doch ganz einfach: Qualifizierte Zuwanderer, die dauerhaft bleiben, suchen wir selbst aus. Wer als Flüchtling kommt, weil er Schutz bei uns sucht, muss in der Regel wieder gehen, sobald die Lage im Ursprungsland wieder sicher ist. Wer ausreisepflichtig ist und sich strafbar macht, gehört in einen Abschiebearrest. Dafür müssen die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Menschen, von denen eine Gefahr ausgeht, dürfen sich in Deutschland nicht mehr frei bewegen. Hier sehe ich drei Abstufungen: Meldeauflage bei der Polizei, elektronische Fußfessel, Abschiebearrest. Und mit den Maghreb-Staaten muss Klartext zur Rücknahme ihrer Staatsangehörigen gesprochen werden.

Nach den aktuellen Umfragen gibt es im nächsten Jahr nur zwei Koalitionsmöglichkeiten. Weiter mit der Großen Koalition oder ein Jamaika-Bündnis, also Union, Grüne und FDP. Was wäre denn für Deutschland besser?

Lindner: Die Große Koalition hat so viel Schaden angerichtet wie selten eine Regierung zuvor. Das muss enden. Und bei einem rot-rot-grünen Bündnis haben wir nur die Wahl, ob wir mit dem Kopf oder mit den Füßen voran in Richtung Moskau beerdigt werden.

Also stehen Sie bereit und sitzen dann gemeinsam mit Jürgen Trittin und Anton Hofreiter am Kabinettstisch von Frau Merkel?

Lindner: Die Antwort ist: Ich weiß es nicht. Wenn man nichts ändern kann, geht man in die Opposition. Mir fehlt die Fantasie, wie das mit Union und Grünen funktionieren sollte. Bei den Grünen gibt es kluge Leute wie Cem Özdemir. Der steht aber nicht für seine Partei.

Und wenn alles schiefgeht und die FDP im September wieder bei 4,8 Prozent landet, was macht Christian Lindner dann?

Lindner: Es geht nicht um mich und nicht um die FDP. Es geht darum, dass unser Land mit den schwarzen, roten und grünen Sozialdemokraten im Bundestag und der autoritären AfD vor der Tür nicht allein gelassen wird. Würde es die FDP nicht geben, müsste man sie sofort gründen.