Wir wollen Teil einer Modernisierungskoalition sein

Christian Lindner
Heilbronner Stimme

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Herr Lindner, seit einer Woche gilt die gesetzliche Bundes-Notbremse. Wie fällt Ihre erste Bilanz aus?

Lindner: Die Fragen sind eher größer und nicht kleiner geworden. Wir wissen jetzt, dass die sogenannte Oxford-Studie sogar von einem ihrer Hauptautoren als nicht einfach auf Deutschland übertragbar eingeschätzt wird. Diese Studie war aber eine der zentralen Stützen der Argumentation der Bundesregierung für die mit der Bundes-Notbremse vielerorts einhergehenden Ausgangssperren. Die Notbremse ist ein einschneidendes Instrument, das aber bei der Pandemiebekämpfung nur symbolische Wirkung hat – mit andererseits sehr fragwürdigen Eingriffen in die Freiheitsrechte der Menschen. Schon eine Woche nach Verabschiedung der Novelle des Infektionsschutzgesetzes wird sehr deutlich: Wir sollten uns auf wirklich wirksame Maßnahmen konzentrieren.

Was haben Sie hierbei im Fokus?

Lindner: Ich vermisse nach wie vor eine systematische Teststrategie. Wir sind nicht da, wo wir sein sollten. Die Erfassung, wann und bei wem ein Test durchgeführt wurde und welches Ergebnis der Test hatte, ist unzureichend. Auch beim Impfen haben wir längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um Tempo zu machen. Vor allem mit Blick auf die geplante Aufhebung der Impfpriorisierung spätestens ab Juni sollten wir die Logistik bei Haus-, Betriebs- und Fachärzten tatsächlich auch vollständig nutzen.

Manche Bundesländer sitzen tatsächlich immer noch auf großen Impfstoffreserven. Experten kritisieren die Vorratshaltung.

Lindner: Die Kritik ist berechtigt. Nach Auffassung der FDP sollten wir im Mai alle vorhandenen Impfstoffreserven auflösen und verimpfen. Dann wären fünf Millionen zusätzliche Impfungen im Mai möglich. Danach erwarten wir eine große Zahl von Impfdosen. Deshalb müssen wir jetzt auch keine Dosen für mögliche Zweitimpfungen auf Halde legen.

Gegen die Bundes-Notbremse haben Sie auch Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.

Lindner: Ja, denn nicht die Bürger müssen begründen, warum sie ihre Freiheitsrechte wahrnehmen wollen. Vielmehr muss der Staat begründen, warum er diese einschränken will. Die Regelung zu Ausgangssperren ist unverhältnismäßig, da sie vor allem nur auf der 100er Inzidenz fußt. Bei 100 Infektionen pro 100.000 Einwohner in einer Woche greifen massive Freiheitsbeschränkungen, unerheblich, ob sich die Menschen beispielsweise auf einer einzigen Baustelle infiziert haben, oder ob Ansteckungen auf viele unterschiedliche Orte und Ereignisse zurückzuführen sind. Ich gehe davon aus, dass sich Karlsruhe mit unserer Verfassungsklage befassen wird.  Wir sind derzeit mit einem Überschuss an staatlichem Handeln konfrontiert, und die Ausgangssperren sind aus unserer Sicht ein zu tiefer Grundrechtseingriff.

Andreas Kruse, Kommissionsvorsitzender des Bundes-Altenberichtes und Mitglied im Deutschen Ethikrat, fordert mehr Lockerungen für Senioren. Kruse sagt: Die Tatsache, dass die meisten Bewohner von Pflegeheimen geimpft seien, lege schon an sich nahe, großzügige Kontakt- und Besuchsregelungen einzuführen. Ihre Meinung?

Lindner: Ich teile die Einschätzung von Professor Kruse. Wir dürfen die Menschen und ihre Nöte nicht vergessen. Im Kampf gegen das Virus dürfen wir soziale Gesichtspunkte nicht aus den Augen verlieren. Mit den Einschränkungen in Heimen geht leider oft Isolation und Einsamkeit einher. Betroffen sind aber auch Singles, die nun alleine im Homeoffice arbeiten, virtuelle Konferenzen können die Sozialkontakte im Arbeitsleben nicht ersetzen. Beim Thema Familien frage ich: Warum dürfen geimpfte Großeltern nicht ohne weiteres zu Besuch kommen, oder warum darf man sie nicht besuchen, wenn doch von ihnen keine Gefahr ausgeht? Warum werden sie mitgezählt bei der Begrenzung von Kontakten pro Haushalt? Diese Kontaktbeschränkung sollte man neu regeln und dann Geimpfte komplett ausklammern. Menschen, die geimpft oder nach einer Erkrankung immunisiert sind und von denen keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht, müssen ihre Freiheiten zurückerhalten.

Unsere Nachbarn in den Niederlanden oder der Schweiz sind offenkundig einige Öffnungsschritte weiter . . .

Lindner: Wenn man sich umschaut in der Welt, gibt es Länder, in denen die Impfkampagnen besser gelaufen sind bisher. Ich sehe vor allem mit großer Sorge auf die enormen gesellschaftlichen und sozialen Schäden, die zögerliches oder zu bürokratisches Handeln zur Folge haben kann. Auf der einen Seite gibt es zweifellos die Notwendigkeit des Gesundheitsschutzes, aber auf der anderen Seite gibt es Einsamkeit, Kinder, die den Anschluss verlieren, Verzweiflung, weil die Menschen ihre wirtschaftliche Existenz zerstört sehen.

Laut RKI ist es jetzt gelungen, die dritte Welle der Pandemie abzubremsen. Auch mit Blick auf weitere Impf-Fortschritte könnte es doch bald Öffnungsperspektiven für Handel, Gastronomie, Beherbergungsbetriebe oder Kunst und Kultur geben. Wie kann der Staat konkret Anschubhilfe leisten?

Lindner: Wir können den Neustart fördern, indem wir Fairness herstellen. Die FDP fordert hier unter anderem, die steuerlichen Verluste dieses Jahres und des letzten Jahres mit Gewinnen der Vorjahre zu verrechnen. Das wäre eine echte Hilfe und ein ganz wesentlicher Beitrag. Auch die allgemeinen Rahmenbedingungen sollten wir dauerhaft verbessern.

Ein Beispiel bitte?

Lindner: Fairness schaffen für den stationären Handel gegenüber Onlinehandel. Auf rechtssicherer Basis sollten gelegentliche Sonntagsöffnungen möglich sein – nicht an jedem Sonntag natürlich, aber zumindest an geplanten Aktionstagen. Ich erwarte auch eine Art Nachholeffekt, eine Art Sonderkonjunktur für die Gastro-Branche, weil wir uns doch alle nach unbeschwerten Begegnungen mit Familie und Freunden sehnen. 

Es sind nur noch wenige Monate bis zur Bundestagswahl. Sie stehen zur Übernahme von Regierungsverantwortung bereit – aber in welcher Konstellation?

Lindner: Wir wollen sehr gerne Teil einer Modernisierungskoalition sein. In NRW haben wir in der schwarz-gelben Koalition gute Erfahrungen mit Armin Laschet als Verhandlungspartner gemacht. Allerdings ist aufgrund der Schwäche der Union Schwarz-Gelb im Bund derzeit eher nicht im Bereich des Möglichen. Wir wissen außerdem noch nicht, mit welchem Programm die Union in den Wahlkampf ziehen wird, welche Ideen sie beispielsweise in der Gesellschafts- oder Finanzpolitik formulieren wird.

Welche Regierungsoptionen sind denn denkbar?

Lindner: Das wichtigste Ziel lautet zunächst: Wir wollen so stark werden, dass es weder eine schwarz-grüne noch eine grün-rot-rote Mehrheit gibt. Wir wollen als FDP auch stärker als die AfD werden, weil es ein Zeichen wäre, wie unser Land denkt und tickt, wenn die Partei der Freiheit vorne liegt. Die Regierungsoptionen sind vielfältig, von Jamaika über eine Deutschland-Koalition bis hin zur Ampel. Für uns zählen aber die Inhalte, nicht Farbenspiele. Und hier sieht man: Grüne, SPD und Linkspartei wollen Gesellschaft und Wirtschaft stärker lenken, sie möchten die Bürger be- statt entlasten. Wir dagegen möchten für eine Entlastung arbeiten. Ich kann die Garantie abgeben, dass es mit uns in einer Regierung keine weitere Belastung für die Steuerzahler geben würde und auch nicht für die, die Arbeitsplätze schaffen in unserem Land. Unsere Position ist hier klar. Viele Bürger dürfen sich eher fragen, in welche Richtung denn die Grünen streben. Frau Baerbock sollte deshalb im Wahlkampf die Frage beantworten, ob sie sich von der Linkspartei zur Kanzlerin wählen lassen würde.