Wir wissen, wofür wir stehen

Christian Lindner
BILD am Sonntag

Herr Lindner, die Wirtschaft wächst, Löhne, Renten und Steuereinnahmen steigen, die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Wofür braucht Deutschland da noch die FDP?

Lindner: Es wachsen Staatsgläubigkeit, Bevormundung und Ängstlichkeit. Wir sind Stimme aller, die ihre Freiheit lieben, Leistung anerkennen und Toleranz und Selbstverantwortung leben. Außerdem: Es sieht wirtschaftlich längst nicht mehr rosig aus. Wir müssen gegensteuern, damit Deutschland nicht in eine Rezession rutscht.

Was sollte die Regierung tun?

Lindner: Ich bin für ein Moratorium bei Umverteilung und Subventionen. Trotz Rekordbeschäftigung sind die Lohnzusatzkosten in den vergangenen Jahren gestiegen. Die Schuldenbremse des Grundgesetzes muss ergänzt werden. Politikern darf nicht länger der Griff in die Rentenkasse möglich sein, um populäre Versprechen abzugeben, die künftige Beitragszahler finanzieren müssen. Versicherungsfremde Leistungen müssten aus Steuern geleistet werden. Zudem müssen wir Investitionen und Konsum anschieben, um zum Beispiel weniger abhängig von China-Exporten zu sein. Der Bund hat 2018 einen Überschuss von 11,2 Milliarden Euro erzielt. Das ist Geld, das den Menschen abgenommen wurde, ohne dass eine Leistung dafür erbracht wurde. Im Geschäftsleben gibt man das zurück. Das sollte der Staat auch tun.

Wie soll das gehen?

Lindner: Entweder sollte es eine sofortige Schuldentilgung oder eine Einmalzahlung an alle Menschen geben. So könnten jeder 125 Euro pro Kopf erhalten. Für eine vierköpfige Familie wäre es ein Scheck über 500 Euro vom Finanzamt. Das stärkt die Massenkaufkraft.

Arbeitsminister Heil will mit einem Teil der Steuereinnahmen eine Respekt-Rente für Geringverdiener einführen. Die FDP lehnt diese strikt ab. Haben Sie keinen Respekt vor der Lebensleistung von Menschen, die nach 35 Jahren Arbeit von 600 oder 700 Euro leben müssen?

Lindner: Vielleicht handelt es sich um eine Arztgattin, die Teilzeit in der Praxis ihres Mannes ausgeholfen hat. Deren Rente soll vom Facharbeiter erhöht werden, obwohl sie überhaupt nicht bedürftig ist? So wird Geld rausgeworfen wie am Rosenmontag die Kamelle. Bei der Digitalisierung von Schulen hat der SPD-Finanzminister dagegen Finanzierungssorgen. Durch unsere Basis-Rente würde die Bedürftigkeit wie bei der Grundsicherung geprüft, aber 20 Prozent der selbst erworbenen Rentenansprüche und der Eigenvorsorge würden nicht angerechnet. Unser Modell ist treffsicher gegen Armut und günstiger.

Das erste Jahr der GroKo ist jetzt um. Was wäre in einer Jamaika-Koalition mit Ihnen als Finanzminister besser gelaufen?

Lindner: Nichts.

Warum?

Lindner: Die Abschaffung des Solidaritätszuschlags ist an der CDU gescheitert. Die Grünen wollten mit Frau Merkel die Vergemeinschaftung der Schulden und Finanzen in Europa. Gegen diese schwarz-grüne Phalanx hätte ein FDP-Finanzminister nichts ausgerichtet.

Erste SPD-Politiker sagen gerade, sie würden die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer nicht zur Kanzlerin wählen. Stehen Sie bereit, um mit AKK und Grünen Schwarz-Rot abzulösen?

Lindner: Die SPD wird die GroKo nicht verlassen, sondern im Zweifel auch AKK zur Kanzlerin wählen. Für uns gilt wie im Herbst 2017: Wir übernehmen Verantwortung, wenn jeder eigene Akzente setzen kann. Damals kamen wir nicht zusammen. Seitdem sind die Grünen nach links gerückt, zum Beispiel in der Migrationspolitik. Und den Kurs der CDU empfinde ich noch als widersprüchlich.

Wie kommt das - Ihre Lieblingsgegnerin Angela Merkel hat den Vorsitz doch abgegeben?

Lindner: Fraktionschef Brinkhaus spekuliert über einen muslimischen Kanzler im Jahr 2030, obwohl wir die Integration im Alltag diskutieren sollten und Religion bei Eignung sowieso egal sein muss. Zugleich macht die Parteichefin Kramp-Karrenbauer Gags über Minderheiten. Der Parteitag beschließt die Abschaffung des Soli, aber Wirtschaftsminister Altmaier lässt sich von staatsfixierter Industriepolitik aus Frankreich inspirieren, die den Wettbewerb zugunsten von Großkonzernen aushebeln soll. Im Gegensatz zu diesem Schlingerkurs wissen wir, wofür wir stehen.

Und warum liegen sie in Umfragen dann nur bei acht Prozent?

Lindner: Wir stehen zwischen acht und zehn Prozent. Das ist eine gute Ausgangslage, um nach einem Wahlkampf deutlich zweistellig zu sein.

Sie wollen an der Seite von Frankreichs Präsident Macron in den Europawahlkampf ziehen. Macron fordert u.a. einen europäischen Mindestlohn und eine Klimabank. Nicht gerade das FDP-Programm...

Lindner: Nein, das teilen wir nicht. Wir teilen dafür seine Ambition, Europa wieder handlungsfähig zu machen bei Digitalisierung, Klima, Asyl, Handel und Sicherheit. In Fragen der Wirtschaftspolitik ist Macron zwar marktwirtschaftlicher als andere Franzosen, aber doch ein Franzose. Hier wäre es eine Aufgabe der Bundesregierung, die Soziale Marktwirtschaft genauso entschieden in der EU einzubringen wie es der französische Präsident mit seinen Ideen macht. Klar ist: Uns steht Macron näher als Viktor Orban dem EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber. Orbán macht mit antisemitischen Anspielungen Wahlkampf. Solange sich die EVP das gefallen lässt und Orban nicht ausschließt, läuft der parteiübergreifende Führungsanspruch von Herr Weber ins Leere.

Hat der Gymnasiast Christian Lindner eigentlich mal die Schule geschwänzt?

Lindner: Ja, nach dem Führerschein bin ich mit Freunden lieber zu McDonalds gefahren, als in den Englisch-Unterricht zu gehen. Da musste ich dann eine zusätzliche mündliche Prüfung machen.

Wie finden Sie die Schüler-Demos für Klimaschutz?

Lindner: Ich finde politisches Engagement von Schülerinnen und Schülern toll. Aber das sollte nach der Schule stattfinden. In der Unterrichtszeit sollten sie sich lieber über physikalische und naturwissenschaftliche sowie technische und wirtschaftliche Zusammenhänge informieren.

Das klingt aber sehr streng.

Lindner: Ich bin für Realitätssinn. Von Kindern und Jugendlichen kann man nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen. Das ist eine Sache für Profis.

Zählen Sie dazu auch die Umweltministerin?

Lindner: Svenja Schulze versucht sich an ihrem Schreibtisch mit weltfremden Ein-Jahres-Plänen für den Klimaschutz. Das ist schlimmer als in der DDR. Wenn wir die Menschen bei diesem Thema nicht mitnehmen, werden viele Autofahrer ihre Gelbwesten in Zukunft nicht nur bei Pannen anziehen, sondern auch zum Demonstrieren. Wer den Menschen von Berlin-Mitte aus und mit dem erhobenen Zeigefinger Wohlstand, Mobilität und Fleisch verbieten will, wird den Druck der Straße zu spüren bekommen. Wir sollten stattdessen einen marktwirtschaftlichen und damit günstigeren Weg gehen, um das Klima zu retten. Wenn man zum Beispiel Klimagasen einen Preis gibt, wird der Fortschrittsmotor der Kostenvermeidung angeworfen. 

Sie waren gerade mit Ihrer Lebensgefährtin eine Woche in Namibia auf Safari. Ist dem Jäger Lindner etwas vor die Flinte gelaufen?

Lindner: Nein, wir waren nicht auf Safari, sondern auf einer Farm. Von dort wird eine private Schule für 125 bedürftige Kinder versorgt. Und ich saß nach 35 Jahren wieder einmal auf einem Pferd. 

Im Januar sind Sie 40 Jahre alt geworden. Was hat das verändert?

Lindner: Wenig. Aber ich versuche, bewusster mit meiner Zeit umzugehen. Ich arbeite seit meinem 18. Geburtstag, also seit 22 Jahren, gut sechs Tage die Woche volle Pulle mit wenig Urlaub. 

Was wären Sie in fünf Jahren lieber – Familienvater oder Minister?

Lindner: Das treffe ich keine alternative Entscheidung, sondern schaue, was das Leben bringt.

Ist es eigentlich als Politiker schwieriger, eine glückliche Ehe zu führen?

Lindner: Da wage ich keine generelle Aussage.

Und wo sehen Sie sich an Ihrem 50. Geburtstag in zehn Jahren?

Lindner: Wenn Sie mich das vor zehn Jahren gefragt hätte, hätte ich total daneben gelegen. Deshalb schaue ich nicht in die Glaskugel.