Wir sehen den Staat als Schiedsrichter, der faire Regeln durchsetzt

Christian Lindner
Weser-Kurier

Herr Lindner, Ihre Stimme klingt etwas mitgenommen. Wie viele Wahlveranstaltungen haben Sie schon hinter sich?

Lindner: Das weiß ich gar nicht genau. Aber für die Zeit unseres außerparlamentarischen Bildungsurlaubs habe ich Buch geführt. Seit 45 Monaten bin ich FDP-Vorsitzender. Wenn am 24. September die Wahllokale schließen, werden es 951 Reden auf Veranstaltungen gewesen sein.

Politiker behaupten unverdrossen, dass ihnen Wahlkampf richtig Spaß macht. Ihnen bestimmt auch, oder?

Lindner: Wenn es nicht so wäre, sollte man sich was anderes suchen. Ich bin Politiker, weil ich gerne mit Menschen diskutiere und für meine Überzeugungen werbe. Ich reise gerne durch Deutschland. Aber mein Dauerwahlkampf der letzten Jahre war ein Ausnahmezustand, der so nicht weiterginge.

Sie überraschen im Wahlkampf mit ungewöhnlichen Positionen, jedenfalls für einen Liberalen. So vergrätzen Sie zum Beispiel die Manager der Autokonzerne, weil Sie von ihnen eine Entschädigung der Kunden verlangen. Ist die FDP gar nicht so wirtschaftsnah wie gedacht?

Lindner: Die FDP ist die Partei von Menschen und Marktmarktwirtschaft, aber nicht die Partei von Kapital und Konzernen. Wir sehen den Staat als Schiedsrichter, der faire Regeln durchsetzt.

Tatsächlich?

Lindner: Mehr als jede andere Partei. Deshalb haben Kollegen von Ihnen geschrieben, ich sei ein Börsenschreck, weil die Kapitalmärkte befürchten, dass die neuen Geldtöpfe, die Kanzlerin Merkel und der französische Präsident Macron in der Währungsunion ausgeheckt haben, mit der FDP in einer Regierung nicht kämen. Und natürlich gehören für uns Haftung und Verantwortung dazu. Deshalb sind wir kritisch bei Bankenrettung, bei Protegierung einzelner Luftfahrtgesellschaften am Markt, bei großen Fusionen, die zu einer zu großen Marktmacht führen, oder bei Steuerdumping von Apple. Das ist die EU-Wettbewerbskommissarin angegangen, eine Parteifreundin von uns.

Haben sich schon Bosse von Autokonzernen bei Ihnen gemeldet?

Lindner: Wenn Kunden ein Fahrzeug in dem Glauben an bestimmte Abgaswerte gekauft haben, müssen die Hersteller dafür sorgen, dass das zutrifft. Notfalls auch mit technischen Nachrüstungen – auf Kosten der Hersteller. Zugleich teilen wir aber nicht die Lust der Grünen am Untergang dieser Branche. Die Fixierung auf Elektromobilität und das Verbot des Verbrennungsmotors sind nicht zwingend ökologisch überzeugend. Wir sollten offen für alle Technologien bleiben. Statt Manipulation durch Manager und grüne Planwirtschaft vertrauen wir auf die Kreativität von Ingenieuren.

Sie umwerben Kritiker von Windkraftanlagen, dabei ist das doch eine Technik der Energiegewinnung, die die FDP nicht per se verteufeln kann?

Lindner: So ist es. Wir wollen die Windenergie moderat ausbauen, aber nur dort, wo der Strom gespeichert oder in Netze eingespeist werden kann. Außerdem lehnen wir Subventionen ab. Durch die grün geprägte Energiepolitik der vergangenen Jahre haben die Rentnerin oder der Bafög-Empfänger über die Stromrechnung die garantierten Renditen der Windinvestoren gezahlt, obwohl die Energie vielfach gar nicht genutzt werden konnte. Das ist nicht ökologisch, das ist unsozial.

Sie wehren sich also wie CSU-Chef Seehofer gegen eine Verspargelung der Landschaft?

Lindner: Tatsächlich muss die Akzeptanz der Menschen beachtet werden, die zu Recht auf Landschafts- und Naturschutz bestehen. Große Windkraftanlagen in Wäldern gefährden auch das ökologische Gleichgewicht. Beispielsweise vor der Küste bestehen diese Probleme nicht.

Sie haben heftige Diskussionen als Putin-Versteher ausgelöst, weil Sie dafür werben, die russische Annexion der Krim-Halbinsel vorerst zu akzeptieren. Was hätte Hans-Dietrich Genscher dazu gesagt?

Lindner: Von ihm stammt ja dieser Vorschlag, er hat ihn im August 2015 in einem seiner letzten Interviews gemacht.

Also sehen Sie sich ganz in der Tradition der FDP?

Lindner: Ja, in der Tradition der deutschen Entspannungspolitik, die Egon Bahr …

… unter Willy Brandt der Architekt der deutschen Ost-Politik…

Lindner: …einmal beschrieben hat als feste Wertorientierung, ohne den realistischen Blick zu verlieren. Ich bemängele gleichzeitig die mangelnde Konsequenz und die mangelnde Dialogbereitschaft der jetzigen Bundesregierung gegenüber Russland.

Geht das konkreter?

Lindner: Deutschland fehlt die Konsequenz, auf die atomare Aufrüstung Putins zu reagieren. Und uns fehlt die Konsequenz, bei einem Völkerrechtsbruch Putins auch aktuelle Pipelineprojekte auf Eis zu legen. Durch Nord Stream 2 vergrößert sich unsere Abhängigkeit von Russland. Viele unserer Partner in Europa sind skeptisch.

Würden Sie denn zu solchen Konsequenzen raten, das hätte ja massive Folgen?

Lindner: So ist es. Aber nur wer diese Entschlossenheit hat, wird im Kreml ernstgenommen. Aber gleichzeitig müssen wir Russland Möglichkeiten eröffnen, die Eskalations- und Aufrüstungsspirale zu verlassen. Dabei wird die Krim als schwerstes Problem nicht als erstes gelöst werden können. Deshalb möchte ich den Völkerrechtsbruch auf keinen Fall akzeptieren, den Konflikt aber einfrieren, und an anderen leichteren Fragen schauen, ob es Dialogbereitschaft gibt.

Sie geben den harten Hund in der Asyl- und Flüchtlingspolitik, weil Sie sagen: Wer unserer Kriterien nicht erfüllt, muss gehen. Kritiker werfen Ihnen Populismus vor. Was sagen Sie denen?

Lindner: Dass ich nur die Rechtslage darstelle. Wenn man deshalb als Populist bezeichnet wird, ist unsere Debattenkultur hysterisch. Der Verzicht auf Regeln und Grenzen wäre nicht liberal, sondern das Recht des Stärkeren und Chaos. Flüchtlingen gewähren wir Förderung und Schutz, so lange sie nicht in ihre alte Heimat zurückkehren können. Wenn sie aber nicht mehr bedroht sind, muss die Regel die Ausreise sein. Die Regeln für den dauerhaften Aufenthalt wollen wir nach kanadischem Vorbild für alle neu regeln. Wer kommen oder bleiben will, muss klaren Kriterien genügen. Akzeptanz unseres Rechts, Kenntnisse der deutschen Sprache, berufliche Qualifikation – wer das erfüllt, ist willkommen. Egal, ob er in der Bibel oder dem Koran liest.

Die „taz“ lobt Sie für Ihre Überzeugungsarbeit, den Rechten die Deutungshoheit im Umgang mit Flüchtlingen streitig zu machen. Hat Sie das irritiert oder gefreut?

Lindner: Ich habe das mit heiterer Gelassenheit registriert. Der AfD geht es aber nicht wie uns um Rechtsstaatlichkeit und aktiv gesteuerte Zuwanderung, sondern zu oft um Ressentiments und völkische Abschottung. Da ist für uns nichts zu holen.

Viele Menschen sorgen sich, dass die AfD drittstärkste Kraft im neuen Bundestag wird und damit Oppositionsführer. Wie ist Ihre Einschätzung?

Lindner: Meine Empfehlung ist, die FDP zur dritten Kraft zu machen.

Das war aber nicht meine Frage.

Lindner: Wer sich darum sorgt, sollte die FDP stark machen. Dritte Kraft sollte eine Partei der Mitte sein, die sich zu Freiheit, Menschenwürde und Europa bekennt. Denn hier würde die Opposition angeführt. Die Linke will sozialistische Experimente, die AfD Europa in die Luft sprengen und die Grünen wollen uns jeden Tag belehren. Das wären keine guten Kontrapunkte zu einer neuen großen Koalition.

Die FDP will sich tatsächlich in der Opposition einrichten. Herr Lindner, das kann ich nicht glauben?

Lindner: Am wahrscheinlichsten ist eine Große Koalition. An Jamaika glaube ich nicht mehr, die Unterschiede zu den Grünen sind zu groß. Die setzen sowieso auf Schwarz-Grün und versuchen, die FDP zu dämonisieren. Die gleiche Strategie hatten wir übrigens 2013, das war nicht so erfolgreich.

Sie flogen mit 4,8 Prozent aus dem Bundestag.

Lindner: Genau, ich bin gespannt, wie das bei den Grünen ausgeht.

Und wenn es eine Mehrheit für Union und FDP gibt?

Lindner: Dann würden wir sondieren, aber es gäbe keinen Automatismus, dass daraus eine Regierung wird. Wir haben aus 2009 unsere Lehren gezogen. Wenn wir hinreichend viele Trendwenden für weltbeste Bildung, Flexibilität, Digitalisierung, Entlastung in unserem Sinne bewirken können, regieren wir gerne. Sonst machen wir Opposition.

Guido Westerwelle stolperte 2009planlos in die schwarz-gelbe Koalition und wählte das Amt des Außenministers. Sie schließen das aus – das sei nicht Ihr Metier. Dass Sie auf solche Fragen überhaupt antworten zeigt mir: Sie sind schon ins Mitregieren verliebt?

Lindner: Nein, ich habe mich niemals zu Kabinettspositionen für die FDP oder gar zu eigenen Ambitionen geäußert. Wir sind nicht im Bundestag vertreten, da wäre das respektlos. Ich habe lediglich gesagt, dass ich selbst meinen Themenfeldern Finanzen und Wirtschaft, Bildung und Digitalisierung treu bleibe, egal welche Rolle die Wähler der FDP auch zuweisen.

Also übernehmen Sie das neue Super-Ressort – wie der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Jürgen Kaube, ironisch schrieb – und werden Finanz-, Innen- und digitalisierter Wirtschaftsminister zugleich.

Lindner: Noch witziger an dem Beitrag von Herrn Kaube war, dass er analytisch sehr ernsthaft dargestellt hat, dass die Anhänger von CDU, SPD und Grünen alle taktisch gute Gründe hätte, nicht ihre Partei, sondern die FDP zu wählen. Nach der Wahlschlappe 2013 sind Sie als FDP-Chef mit dem Ziel angetreten, die Liberalen zurück in den Bundestag zu führen. Danach sieht es nun aus.

Woher kommt dieser neue FDP-Hype?

Lindner: Das ist kein Hype. Wir haben das Jahr 2014 genutzt, um uns darüber klar zu werden, warum es uns gibt. Wir wollen den einzelnen Menschen stark machen, ihm vertrauen. Deshalb wollen wir in seine Bildung investieren, ihn schützen vor übermächtigen Monopolkonzernen, vor Bürokratismus, Abkassieren und Bespitzelung. Dann kamen 2015 die ersten Wahlerfolge, unter anderem mit Lencke Steiner in Bremen, 2016 die ersten Regierungsbeteiligungen und in diesem Jahr sehr gute Ergebnisse. Wir haben es geschafft, weil gut 60.000 Freie Demokraten zu ihren Überzeugungen gestanden haben.

Ihre Bescheidenheit in Ehren, aber Sie sind derzeit das einzige Gesicht der FDP. Und Ihr ohnehin nicht kleines Ego wird mächtig gefüttert. Der Psychologe Stephan Grünewald hat Sie im „Spiegel“ gerade mit der Aura eines modernen Serienhelden umgeben, ja sogar als 007 geadelt. Haben Sie sich den Artikel eingerahmt?

Lindner: (lacht) Den werde ich für meine Mutter aufbewahren. Klar ist, dass man eine Partei vier Jahre durch Häme und Spott nur führen kann, wenn man von ihren Inhalten überzeugt ist und sich nicht so schnell einschüchtern lässt. Wenn wir wieder im Bundestag sind, wird die personelle Breite wieder sichtbar.

Einst hat Ihnen Jürgen W. Möllemann den Spitznamen „Bambi“ verpasst, jetzt werden Sie zu James Bond. Sie wissen, Hybris ist gefährlich – Guido Westerwelle hat das erfahren müssen. Können Sie es besser als er?

Lindner: Sie unterstellen mir Hybris, weil andere mir Etiketten anheften? Das lassen wir mal so stehen. Ich mache einfach meine Arbeit.