Wir müssen jenseits der fünf Prozent wachsen

Christian Lindner Arbeit
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Lesedauer: 6 Minuten

 

Herr Lindner, wie wichtig ist Ihnen Arbeit, und wie gerne mögen Sie derzeit Ihren Job?

Lindner: Arbeit ist nicht nur Einkommensquelle, sondern grundlegender Teil des Lebens. Sie vermittelt uns Sinn, bringt uns mit anderen Menschen zusammen und beflügelt die eigene Persönlichkeit - wenn es gut läuft. Mir macht meine berufliche Aufgabe jedenfalls viel Freude. Sie ist meine Leidenschaft.

Immer mehr Deutsche scheinen Ihre Einstellung zu teilen und suchen einen Sinn im Job. Inwiefern bedeutet das einen veränderten Handlungsauftrag für die Politik?

Lindner: Es ist zunächst einmal ein Handlungsauftrag für die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. Insbesondere hochqualifizierte Beschäftigte stellen die Frage, ob die Dienste und Produkte, die vom Unternehmen hergestellt werden, der Gesellschaft dienen. Das ist insgesamt eine gute Botschaft, denn sie zeigt, dass Fortschritt auch aus der Mitte der Gesellschaft, aus der Wirtschaft, von verantwortungsbewussten Individuen gemacht wird. Für den Staat stellt sich die Aufgabe, gute Rahmenbedingungen für diesen sich verändernden Arbeitsmarkt zu stellen.

Welche sind das für die FDP?

Lindner: Zum einen müssen wir die Flexibilität im Arbeitsrecht wie der Arbeitsstättenverordnung erhöhen. Und wir müssen unser Sozialsystem auf Zick-Zack-Lebensläufe zwischen Privatwirtschaft, öffentlichem Dienst, Selbstständigkeit und Angestelltenverhältnis vorbereiten - und auf Zwischenstationen wie Sabbaticals und Weiterbildungsphasen. Zum anderen müssen wir die Einstiegschancen von Menschen verbessern, die mit ihrer Lebenssituation nicht zufrieden sein können. Ich denke da vor allem an die alleinerziehende Mutter, die Hartz IV bezieht und einen Minijob hat. Ihr müssen wir den sozialen Aufstieg erleichtern, indem der Staat nicht länger 80 Prozent Ihrer Bezüge aus dem Minijob einzieht.

Sind Sie für ein Recht auf Homeoffice?

Lindner: Wenn eine Angestellte oder ein Angestellter Homeoffice wünscht, dann sollte die Arbeitgeberseite immer erörtern, unter welchen Bedingungen das möglich ist. Ein generelles Recht auf Homeoffice im Sinne eines Rechtsanspruchs könnte allerdings der Corporate Identity, dem Teamzusammenhalt oder der Teilhabe entgegenstehen. Deshalb bin ich überzeugt, dass Erörterung der richtige Weg ist.

Solche Erörterungen münden in vielen Unternehmen derzeit in die größten Kulturkämpfe seit Einführung der Gewerkschaften. Im Wahlkampf spielte das Thema Wandel der Arbeit dagegen bisher kaum eine konkrete Rolle. Warum?

Lindner: Die Frage ist berechtigt. Gerade das Thema Arbeit und ihre Transformation würde sehr viel mehr Aufmerksamkeit verdienen. Ich denke da zum Beispiel an das Gender Pay Gap, also die Einkommenslücke, die Frauen im Vergleich zu Männern in vergleichbaren Positionen immer noch erfahren. Auch die Rente ist für viele Beschäftigte eine enorm wichtige Frage. Wir wissen, dass für die nach 1965 Geborenen die heutige Finanzierung unserer Rentensystem an seine Grenzen stößt. Deshalb sollten wir nach schwedischem Vorbild einen Rentenfonds mit einer Aktienrente an internationalen Kapitalmärkten anlegen. Dass diese fundamentalen Fragen keine große Rolle spielen, ist beklagenswert.

Als Vorsitzender Ihrer Partei könnten Sie das Thema doch setzen.

Lindner: Genau das mache ich gerade.

Was ist für Sie ein gerechter Lohn?

Lindner: Das ist jener, den qualifizierte Beschäftigte mit ihrer Arbeitgeberseite aushandeln, beziehungsweise ihre Vertreter, also Arbeitgeber und Gewerkschaften.

Ist es demnach gerecht, wenn eine Bankerin mehr verdient als eine Pflegekraft im Altenheim?

Lindner: Den gerechten Beitrag zum Gelingen einer Gesellschaft kann man nicht kraft höherer Entscheidungsgewalt bemessen. Das hat die DDR viele Jahrzehnte probiert und ist daran gescheitert. Nur in der Vertragsfreiheit, im Aushandlungsprozess, im Alltag von Millionen von Menschen ergibt sich jeden Tag die von der Gesellschaft als angemessen empfundene Bezahlung. Und diese verändert sich ja auch.

Woran denken Sie genau?

Lindner: Beispielsweise bei den Pflegefachkräften. Hier ist in den vergangenen zehn Jahren die Entlohnung um etwa ein Drittel gestiegen und damit stärker als im Durchschnitt der allgemeinen Lohn- und Einkommensentwicklung in Deutschland. Woraus sich ja ergibt, dass die Gesellschaft während der vergangenen Jahre offensichtlich - und das auch zu Recht - der Meinung war, dass diese Aufgabe stärker vergütet werden muss.

Wo sehen Sie konkrete Hindernisse beim Thema Arbeit zwischen der FDP und möglichen Koalitionspartnern?

Lindner: Ich sehe mit Sorge, dass die flexiblen Möglichkeiten, die unser Arbeitsmarkt heute bietet, seitens der politischen Linken sehr geringgeschätzt werden. Insbesondere beim Thema Minijob sehe ich hier unterschiedliche Auffassungen. Für viele Menschen ist er nicht prekär, sondern eine Gelegenheit, sich etwas dazuzuverdienen. Deshalb sollte der Minijob dynamisiert werden auf eine Grenze des 60-Fachen des jeweiligen Mindestlohns. Sonst führt eine Erhöhung des Mindestlohns durch die unabhängige Mindestlohnkommission nur dazu, dass die Arbeitszeit eingeschränkt wird, ohne dass das Einkommen sich vergrößert. Ein Student will aber mehr verdienen, nicht weniger arbeiten.

2017 sagten Sie: „Lieber gar nicht regieren, als schlecht regieren.“ Gilt das 2021 immer noch?

Lindner: Absolut. Inhaltliche Überzeugungen, Sinn und Glaubwürdigkeit gegenüber den Wählerinnen und Wählern müssen immer wichtiger sein als die individuellen Karrierewünsche.

Was raten Sie anderen Menschen, die sich gerade die Frage stellen, inwieweit es sich lohnt, sich für den Job zu verbiegen?

Lindner: Ich rate dazu, in die eigene Qualifikation zu investieren. Das ist auch eine Form von unternehmerischer Freiheit, die selbst im Angestelltenverhältnis ein sehr viel selbstbestimmteres Leben ermöglicht. Der Schlüssel dazu ist die Bereitschaft zur Veränderung. Diese Bereitschaft können wir politisch unterstützen, wir machen uns deshalb stark für ein Midlife-Bafög, damit sich alle auch noch im mittleren Lebensalter mit öffentlicher Unterstützung beruflich weiterentwickeln können. Und wir wollen ein liberales Bürgergeld einführen, das anders als das gegenwärtige Hartz IV-System Schluss macht mit der oft als erniedrigend empfundenen Bürokratie.

Die FDP will digitale Freiheitszonen errichten. Immer mehr junge Menschen streben indes seit Corona einen Karriereweg im öffentlichen Dienst an, die Zahl der Gründungen in Deutschland ist so niedrig wie lange nicht mehr. Stirbt das Unternehmertum hierzulande aus?

Lindner: Auch mich besorgt der starke Drang in den öffentlichen Dienst, auch wenn ich als Abgeordneter auf Zeit ja selbst dazugehöre. Es muss mehr Menschen in diesem Land geben, die außerhalb des öffentlichen Sektors arbeiten wollen. Aus diesem Grund sollten wir schon von der Schule an und bis in die berufliche Bildung und in die Hochschulen hinein mit positiven Rollenbildern von Unternehmerpersönlichkeiten arbeiten. Es ist mir eine Herzensangelegenheit zu zeigen, wie sinnstiftend ein Leben als Unternehmer sein kann. Auch Gründerinnen müssen wir dazu motivieren, ihre Ideen für neue Dienstleistungen und Produkte in die Tat umzusetzen.

An welche weiblichen Vorbilder denken Sie konkret?

Lindner: Es gibt in unserem Land eine Reihe von Gründerinnen, die mich beeindrucken, etwa Katharina Jünger, die Gründerin von TeleClinic. Wirhaben spannende Gründerinnenpersönlichkeiten, die sehr gut als Vorbild und Inspiration dienen können.

Damit die digitalen Freiheitszonen prosperieren, muss erst die Wirtschaft funktionieren. Die FDP verspricht zudem Steuersenkungen, die Schuldenbremse soll beibehalten werden und Corona-Verbindlichkeiten schnellstmöglich abbezahlt werden. Wie viel Wirtschaftswachstum pro Jahr bräuchten wir in Deutschland, um das alles zu finanzieren?

Lindner: Es verhält sich genau umgekehrt: Die Freiheitszonen sind Teil eines wirtschaftlichen Belebungsprogramms, das Jobs schafft, private Investitionen mobilisiert und innovative Ideen entfesselt. Und ja: Wir können uns mit dem gegenwärtigen Wachstum in Deutschland im Vergleich zu den USA, China, aber auch Italien nicht zufriedengeben. Wir werden unser Defizit im Staatshaushalt und die vielen sozialen und ökologischen Zielsetzungen, die wir alle teilen, nur finanzieren können, wenn wir in den nächsten Jahren viel dynamischer wachsen.

Um wieviel konkret?

Lindner: Wir müssen jenseits der fünf Prozent wachsen, schon als Nachholeffekt nach Corona. Dauerhaft werden wir in Deutschland ein Wachstum jenseits der zwei Prozent brauchen, gerade angesichts der Inflationsrisiken, die wir derzeit sehen. Die erste Sofortmaßnahme, wenn es nach uns geht, wäre ein Super-Abschreibungsprogramm, durch das Anlageinvestitionen für Klimaschutz und Digitalisierung binnen zwei Jahren steuerlich geltend gemacht werden können. Das wäre ein echter Anreiz, in Zukunfts-Branchen privates Kapital zu mobilisieren.

Was tun Sie selbst, um beruflich auf dem neuesten Kenntnis- und Fertigkeitenstand zu bleiben?

Lindner: Ich lerne jedes Jahr etwas Neues hinzu.

Was haben Sie 2021 neu gelernt?

Lindner: Wahlkampfbedingt leider nicht so viel. Aber ich habe dieses Jahr meinen Angelschein gemacht. Für mich ist das eine Horizonterweiterung und ein intellektueller Ausgleichssport.

Können Sie sich vorstellen, sich beruflich nochmal komplett neu zu erfinden?

Lindner: Ja, das kann ich. Aber ich strebe es gegenwärtig nicht an. Ich liebe das, was ich tue. Jeden Morgen stehe ich auf und freue mich, dass ich das, was ich tun darf, tun kann.