Wir lassen uns nicht den Mund verbieten

Christian Lindner
n-tv

Der Attentäter von Hanau hat mit einem Gewehr zehn Menschen ermordet. Kommen in Deutschland Menschen zu leicht an Waffen?

Lindner: Es ist in Deutschland nicht leicht, legal an Waffen zu kommen. Sportschützen oder Jäger müssen hohe Voraussetzungen erfüllen. Das Gesetz verlangt die so genannte "Zuverlässigkeit". Wer überhaupt in die Reichweite eines Waffenscheins kommt, gehört in der Regel zu den besonders unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern.

Bei dem Täter von Hanau traf dies nicht zu.

Lindner: Das muss man aufarbeiten. Ein Restrisiko bleibt bei Menschen immer, denn man kann niemandem hinter die Stirn schauen. Ich sehe hier aber keinen Anlass für einen Generalverdacht und keinen Handlungsbedarf für den Gesetzgeber. Wir haben schon eines der schärfsten Waffengesetze der Welt.

Lübcke, Halle und jetzt Hanau – hat Deutschland zu lange Probleme mit Rechtsextremismus übersehen?

Lindner: Deutschland steht im Fokus des rechten Terrors. Die Sicherheitsbehörden zählen aber nur wenige rechtsextreme Gefährder, also Menschen, denen man Anschläge zutraut. Mir scheint da etwas nicht zu stimmen. Man muss prüfen, ob in der Amtszeit von Herrn Maaßen diese Bedrohungslage nicht unterschätzt oder gar ausgeblendet wurde. Wir sollten unsere Maßnahmen gegen rechten Terror einer Generalinventur unterziehen.

Wie soll das aussehen?

Lindner: Die Behörden sollten umgehend ihren Kenntnisstand prüfen. Aber im Grunde muss die gesamte Sicherheitsarchitektur in Deutschland auf den Prüfstand. Denn gerade weil sich rechte Gewalttaten wie die in Hanau in Wahrheit gegen uns alle richten, muss es eine entschlossene gemeinsame Reaktion geben. Und zwar in Form eines Runden Tisches aller Parteien des demokratischen Zentrums. Als Freie Demokraten sind wir bereit, uns mit Union, SPD, Grünen und Linken auf ein Aktionspaket zu verständigen und dieses im Bundestag mitzutragen. Unser Vorschlag: Föderale Sicherheitsarchitektur und -behörden reformieren, für bessere personelle und technische Ausstattung sorgen und Gesetze gezielt dort nachjustieren, wo es echte Mängel gibt. Pauschale Gesetzesverschärfungen wären hingegen falsch, denn Sicherheit und Freiheit dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Ist die Tat von Hanau Terror? Oder ist das ein fehlgeleiteter psychisch Kranker, wie es die AfD sagt?

Lindner: Der Bundesinnenminister spricht von einem rassistisch motivierten Terroranschlag. Die AfD will dieses Tatmotiv in eigenem Interesse herunterspielen. Zur Ursachenforschung gehört die Frage: Wie ist das gesellschaftliche Klima?

Und wie ist das?

Lindner: Es gibt in unserer politischen Landschaft inzwischen echte Hassredner wie Björn Höcke. Dessen Auftritt bei Pegida in Dresden war das jüngste Beispiel einer Rede, in der Hass auf demokratische Parteien, die Regierung, diesen Staat und jede Form von Minderheit geschürt wird. Ich ziehe keine direkte Linie – das wäre nicht seriös – zwischen solchen Mordtaten und den Reden Höckes. Aber es wird ein Klima geschaffen, aus dem heraus sich dann Gruppen oder Einzelne rekrutieren, radikalisieren bis hin zu mörderischem Terror. Deshalb erwarte ich auch Entscheidungen unserer Verfassungsschutzbehörden, wie mit der AfD umzugehen ist.

Das heißt, eine stärkere Überwachung der AfD?

Lindner: Das muss der Verfassungsschutz selber entscheiden. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass Parteien sich lästiger Konkurrenz im Wege des Verfassungsschutzes entledigen wollen. Aber dass bei der AfD eine weitere Häutung stattgefunden hat, ist für mich offensichtlich.

So deutlich wie Sie jetzt grenzt sich die FDP in Hamburg, wo am Sonntag gewählt wird, allerdings nicht von der AfD ab. Dort haben die Liberalen in den vergangenen Jahren Dutzenden Anträgen der Partei in der Bürgerschaft zugestimmt.

Lindner: Unsere Hamburger FDP hat die gleiche klare Trennlinie zur AfD wie ich. Aber bei harmlosen Fragen, wie man beispielsweise gegen Zigarettenkippen auf der Straße vorgehen kann, wurde auch Anträgen der AfD zugestimmt. Im Bundestag machen wir es anders. Es gibt keine Kooperation mit der AfD. Wir stimmen Anträgen der AfD nicht zu, weil wir das völkisch-antiliberale Denken dieser Partei nicht salonfähig machen wollen.

Und warum sehen das die Hamburger Liberalen nicht so?

Lindner: Man wollte wohl der AfD nicht erlauben, sich bei Sachanträgen als Opfer von Ausgrenzung zu inszenieren. Nach Erfurt findet ein Umdenken statt.

Hätten Sie da nicht früher die Linie vorgeben müssen?

Lindner: Erstens habe ich von dieser Haltung unserer Hamburger Freunde wie wir alle aus der Zeitung erfahren. Und zweitens unterliegen Parteigliederungen, Fraktionen in Parlamenten und Abgeordnete keiner Weisung des Parteivorsitzenden.

Ist die Wahl in Hamburg auch eine Abstimmung über Christian Lindner?

Lindner: Nein. Auch wenn manche sie gerne dazu machen würden. Es geht aber um Hamburg.

Um Ihren Einfluss und Ihre Einflussnahme geht es auch bei der Diskussion um Thüringen, wo Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil etwa sagt, dass alles abgesprochen war und spricht von einem "kalten, abgekartetem Spiel". Lügt er?

Lindner: Mich macht betroffen, dass Herr Klingbeil nicht der Versuchung widerstehen konnte, in einer Bewährungsprobe unserer Demokratie parteipolitisches Kapital aus einer Krise schlagen zu wollen. Es ist eine falsche Behauptung, für die er keinen Beleg hat, weil es keinen gibt.

Sind Sie sehenden Auges in eine Falle getappt?

Lindner: Für mich gab es in den Gesprächen mit Thomas Kemmerich vor seiner Kandidatur nur eine Frage. Nämlich die Feststellung, dass es auf keinen Fall ein Zusammenwirken mit der AfD geben kann. Darin waren wir, Herr Kemmerich und ich, uns einig. Die Gesamtlage muss dann aber vor Ort beurteilt werden. Die AfD hat in Erfurt ihren Kandidaten überraschend fallen lassen und Herrn Kemmerich gewählt, ungebeten und nur mit dem Zweck der Chaotisierung. Das habe ich von Berlin aus nicht vorhergesehen. Für die Zukunft ist man weiser. Jetzt wird Erfurt teilweise instrumentalisiert. Alles, was manche schon immer gegen die FDP hatten, kommt nun in einen Topf. Vom Nein zu Jamaika und der Ablehnung von Enteignungen über unsere Bemühungen um vernünftige Klima- und Migrationspolitik bis zum Ende des Soli. Es wird behauptet: "Diese Partei darf man nicht mehr wählen, das sind Nazis." Aber wir lassen uns weder den Mund verbieten noch einschüchtern.

Eine Irritation über das Verhalten der FDP rührt auch daher, dass Sie nicht gleich nach der Wahl in Erfurt gesagt haben: "So geht das nicht, Kemmerich muss sich zurückziehen."

Lindner: Ich habe in meinem ersten Statement gesagt, dass meine Arbeit als Parteivorsitzender daran gebunden ist, dass die FDP nicht mit der AfD kooperiert. Auch Neuwahlen habe ich erwähnt. Natürlich kann man heute fragen: Hätte man das nicht noch schärfer artikulieren müssen? Ich nehme die Kritik an. Aber in einer überraschenden Krisenlage gelingt nicht jeder Satz perfekt. Und meine Grundüberzeugung ist ohnehin, dass es in solchen Situationen am besten ist, das persönliche Gespräch zu suchen. Am nächsten Tag bin ich deshalb morgens nach Erfurt gefahren.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat schnell eine sehr klare Position gefunden und Erfurt als "unverzeihlich" bezeichnet. Das hätten viele von Ihnen und anderen führenden Liberalen auch erwartet.

Lindner: Ich lasse mich für Worte kritisieren, möchte aber auch an Taten gemessen werden. Erfurt hat dazu geführt, dass Frau Kramp-Karrenbauer zurückgetreten ist mit dem Hinweis, in ihrer Partei gebe es in Teilen ein ungeklärtes Verhältnis zur AfD und Linkspartei. Bei uns hat Herr Kemmerich seinen Rücktritt politisch fixiert und auf seine Bezüge verzichtet. Die FDP hat zudem jede Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen und den Weg für Neuwahlen freigemacht.

Ihr Vize Wolfgang Kubicki hat nach den Ereignissen von Erfurt analysiert, die FDP sei nicht krisenfest.

Lindner: Seine Analyse kam aus einem politischen Schockzustand. Wir haben binnen eines Tages auf die verständliche Irritation unserer Unterstützer reagiert und die Grenzen klar gezogen: Keine Kooperation mit der AfD und keine Koalition mit der Linkspartei.

Sind die denn gleichzusetzen?

Lindner: Nein, die beiden Parteien sind nicht gleichzusetzen. Die AfD hat völkische Überlegenheitsfantasien und will unser politisches System zerstören. Die Linkspartei will unser politisches System ersetzen durch den demokratischen Sozialismus.

Wobei der bisherige Ministerpräsident Bodo Ramelow doch sehr bürgerlich wirkt und bei der Mehrheit der Wähler extrem beliebt ist.

Lindner: Unverändert hält der ehemalige Ministerpräsident Bodo Ramelow die DDR nicht für einen Unrechtsstaat. Deshalb bilden wir mit der Linken keine Regierung. Aber ein so destruktives Verhalten wie von der AfD, einen Kandidaten nur zum Schein aufzustellen und andere zu wählen, um sie ins Chaos zu stürzen, das gibt es bei der Linkspartei nicht.

Und Ramelow ist kein Extremist.

Lindner: Herr Ramelow ist kein Extremist. Deshalb kann man mit der Linken auch im Einzelfall in Sachfragen zusammenarbeiten. Während Herr Höcke ein Extremist ist, der ganz offensichtlich die Anknüpfungspunkte an den Nationalsozialismus sucht. In seinen Worten, in seinen Symbolen und in seinen Positionen.

Sollte die FDP jetzt die Scherben in Thüringen aufkehren und Ramelow unterstützen?

Lindner: In solchen Fragen entscheiden Fraktionen autonom.

Sie grenzen sich nicht nur gegen Linke und AfD ab. Vor Kurzem beschrieben Sie auch, als es um politische Pole ging, die Grünen als Partei am Rand.

Lindner: Nein, ich sprach von Polen in der politischen Debatte. Das ist etwas anderes. Der eine Pol ist der Klimazynismus der AfD, der der Klimawandel egal ist. Der andere Pol ist der "Klima-Notstand", den die Grünen ausrufen. Klimaschutz ist danach wichtiger als jede wirtschaftspolitische Erwägung oder jede Form einer individuell freiheitlichen Lebensweise.

Wobei die Grünen nicht den Rechtsstaat infrage stellen.

Lindner: Immerhin. Die Notstandsrhetorik ist für sich genommen kritisch. Aber in der Klima-Bewegung werden Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft infrage gestellt. Frau Rackete will Wahlen und Parlamente ersetzen durch per Los zusammengesetzte Ökoräte. Ich empfehle eine Position der Mitte: Klimaschutz ernst nehmen, aber durch innovative Technologie und Ideenwettbewerb erreichen, dass die Menschen ihre Leben weiter frei führen und den Wohlstand erhalten können.

Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie gerne die Positionen anderer überzeichnen, um Ihre eigene dann als die vernünftige Lösung darzustellen. Sehen Sie eine Gefahr in zugespitzten Formulierungen, wenn Sie etwa den Grünen vorwerfen, aus Deutschland ein Land veganer Radfahrer machen zu wollen?

Lindner: Zuspitzung gehört zur politischen Debatte. Es geht doch darum, Denkweisen offenzulegen. Ich würde niemals etwas behaupten, was nicht in der Politik eines Wettbewerbers angelegt ist. Ich möchte mir aber auch keine humorfreie Plastiksprache angewöhnen.

Erschwert eine solche Sprache zuweilen die politische Zusammenarbeit?

Lindner: Wir regieren in zwei Ländern mit den Grünen. Und ich muss mir oft etwas anhören über den angeblichen Marktradikalismus der FDP und dass sie unsozial, eiskalt und so weiter sei. Soll ich mich darüber beschweren?

Seit Erfurt ist in der CDU die Führungsfrage wieder offen, vier Namen kursieren. Wer ist Ihnen der liebste?

Lindner: Ich kenne alle vier gut und traue allen die Aufgabe zu.

Gar kein Favorit?

Lindner: Es ist kein Geheimnis, dass wir mit Armin Laschet in Nordrhein-Westfalen sehr erfolgreich koalieren. Er ist der einzige Unionspolitiker, der statt von Schwarz-Grün zu träumen, offensiv über eine Zusammenarbeit mit der FDP spricht. Das ist klug, denn wer von Schwarz-Grün träumt, der wird mit Grün-Rot-Rot aufwachen. Jens Spahn ist natürlich ein tatendurstiger, exzellenter Mann …

… nicht zu jung?

Lindner: Im Vergleich zu Österreichs Kanzler Sebastian Kurz sind Jens Spahn und ich im Methusalem-Alter. Ich sehe kein Argument, das gegen ihn sprechen würde. Ich teile nicht jede seiner gesellschaftspolitischen Vorstellungen und in der Gesundheitspolitik ähnelt er manchmal mehr Norbert Blüm als Ludwig Erhard. Aber das muss man vielleicht auch als CDU-Politiker. Dafür gibt es dann eine FDP, die mitwirkt.

Norbert Röttgen …

Lindner: … ist ein Taktiker mit seiner Kandidatur. Ich halte das aber eher für eine Bewerbung für die Zeit nach Frau Merkel. Als Signal, wieder mehr politische Verantwortung im Kabinett übernehmen zu wollen.

Laschet, Spahn, gibt es auch Lobendes zu Friedrich Merz von Ihnen?

Lindner: Ich schätze Friedrich Merz ebenfalls. Er hat Mut zur Klarheit. Nach dem Nein zu Jamaika hat er 2017 als einziger Unionspolitker unsere Entscheidung öffentlich als nachvollziehbar bezeichnet. Und im Präsidium des Wirtschaftsrats sagte er sogar, die FDP habe die CDU vor den Grünen gerettet. Bei seiner marktwirtschaftlichen Orientierung habe ich aber manchmal Rückfragen.

Sie meinen den Spitzensteuersatz?

Lindner: Ja. Friedrich Merz hat nicht nur angeboten, den Spitzensteuersatz zu erhöhen, obwohl alle schon sehr viel Steuern zahlen. Er hat letztes Jahr auch für eine europäische Arbeitslosenversicherung plädiert, die die nationalen Verantwortlichkeiten verwischen und zu einer ungeordneten Transferunion führen würde. Später hat er das revidiert. Mir ist unklar, welche Halbwertszeiten seine Positionen haben.

Wie viel Zeit geben Sie denn noch der Großen Koalition?

Lindner: Dass die Große Koalition bis September 2021 weiterarbeitet, halte ich für die wahrscheinlichste Variante. Ob es ein Kabinett Merkel bleibt, weiß ich aber nicht.

Und danach? Kommt dann doch Jamaika?

Lindner: Das ist offen. Wir werden sehen, wie es bei der CDU weitergeht. Wir Freie Demokraten würden bei einem fairen Angebot Regierungsverantwortung übernehmen. Jeder Partner muss Inhalte und Ideen umsetzen können.

Bisher entwickeln sich die Grünen jedenfalls prächtig, wenn man die Umfragen anguckt – im Gegensatz zur FDP. Wurmt Sie das nicht?

Lindner: Wir vergleichen uns nicht mit anderen. Die Summe aus SPD und Grünen ist ähnlich geblieben. Wir sind jetzt auf einem höheren Niveau als in der letzten Legislaturperiode. Wir kämpfen dafür, dass daraus auch ein besseres Wahlergebnis wird.