Wir kämpfen darum, dass wir drittstärkste Kraft werden

Christian Lindner
FOCUS Online

Herr Lindner, sind Sie ein News-Junkie? Wie informieren Sie sich frühmorgens?

Lindner: Das bin ich natürlich. Ich lese jeden Morgen eine Reihe von Newslettern und Morning Briefings. Die Tageszeitungen habe ich meist schon abends vorher auf dem iPad gelesen. Und natürlich schaue ich auch über die wichtigen News-Websites – natürlich auch auf Focus.de.

Ist das Internet mit Blick auf das politische Bewusstsein der Öffentlichkeit Segen oder Fluch?

Lindner: Auf der einen Seite bilden sich Gruppen, in denen Menschen komplett unter sich bleiben, die auch ansonsten Gleichgesinnte nie getroffen hätten. Die lassen sich nicht durch Fakten beeindrucken, sondern leben in einem eigenen Weltbild. Die Realität stört in dieser Blase eher. Auf der anderen Seite ist es ein großartiges Medium. Der direkte Zugang zu Information, zum Wissen der Menschheit von einem Smartphone aus – das ist grandios. Auch um für mich als Politiker mit Menschen in Kontakt zu kommen, die vielleicht nicht eine Veranstaltung im Wahlkampf besuchen würden.

Wie nutzen Sie das?

Lindner: Vorgestern zum Beispiel bin ich nach meiner letzten Wahlkampfveranstaltung an dem Abend bei mir zu Hause auf dem Balkon auf Facebook live gegangen. Das haben gleichzeitig in der Spitze 3.700 Leute angeschaut und mir viele Fragen gestellt. Das wird die größte Veranstaltung im Wahlkampf gewesen sein. Und einen Tag später haben das über 150.000 Leute angeschaut. Wie alles, was große Freiheit verspricht, ist auch das Internet Fluch und Segen zugleich. Ich bin aber entschlossen, das Beste daraus zu machen.

Brauchen wir in den Schulen ein Medientraining, damit Kinder und Jugendliche lernen, wie sie mit dem Netz umgehen müssen?

Lindner: Die Stärkung der Medienkompetenz muss in den Schulen insgesamt eine höhere Beachtung finden. Das betrifft einmal den Umgang mit dem Netz, das gilt darüber hinaus aber für alle Medien insgesamt und auch für das digitale Lernen. Wir müssen enorm aufholen in diesem Bereich. Wir reden darüber, wie wir die maroden Schulgebäude sanieren und den Unterrichtsausfall reduzieren, während andere schon das digitale Lernen ausweiten. Das ist ja auch ein Hauptthema im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf.

Haben Sie Angst vor Fake News? Dass sie den Bundestagswahlkampf beeinflussen könnten?

Lindner: Nicht wirklich, inzwischen ist man doch gewohnt, damit umzugehen. Wir sind vorbereitet, kennen Hacker-Angriffe aus den Kampagnen von Clinton und Macron. Ich vertraue auf den deutschen Qualitätsjournalismus und darauf, dass die Deutschen demokratische Reife haben. Das haben sie unter Beweis gestellt schon allein dadurch, dass die Autoritären bei uns nicht so stark geworden sind wie in anderen Ländern. Darüber hinaus vertraue ich auf unsere Sicherheitsbehörden, dass sie uns vor echter Manipulation schützen.

Nennen Sie die drei zentralen Punkte, durch die der FDP ihr Comeback zu glücken scheint.

Lindner: Erstens: Die FDP steht für ein Lebensgefühl selbstbestimmter, verantwortungsbereiter, toleranter Menschen, die Problemlöser suchen und in der Politik keine Erziehungsberechtigten suchen. Zweitens: Wir sind die einzige Partei, die die Frage danach stellt, wovon wir in Zukunft leben wollen. Wir wollen eine starke Wirtschaft und beste Bildung, damit die Menschen auch in Zukunft Aufstiegschancen haben und ein handlungsfähiger Staat existieren kann. Man kann nicht alles verteilen und verprassen. Drittens: Wir sind die Partei, die einen handlungsfähigen Rechtsstaat will, der durch klare Regeln Ordnung schafft – bei der Einwanderung, bei der Sicherheit –, der die Menschen im Alltag aber nicht bürokratisiert und ihnen lästigfällt.

Das klingt komplizierter als die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit. Zielen Sie explizit auf Menschen, die sich intensiv mit Politik befassen?

Lindner: Man sollte die Menschen weder unterschätzen, noch unterfordern. Wir sind schwerfällig geworden, betrachten viele Errungenschaften unserer Gesellschaft als garantiert und treten nicht mehr für unsere Grundwerte ein. Ich erlebe in meinen Veranstaltungen Menschen aller Altersklassen, die nicht alle News- oder Politik-Junkies sind, die das zunehmend stört.

Als die FDP noch in Regierungsverantwortung war, gab es etliche in Ihren Reihen, die die Euro-Rettungspolitik abgelehnt haben. Wie binden Sie diese ein angesichts der großen Herausforderungen, vor denen Europa steht?

Lindner: Die FDP ist eine pro-europäische Partei. Wir wollen Europa, aber ein geeintes, kein vereinheitlichtes Europa. Wir möchten Europa erneuern aus dem Gedanken eines Raums der Freiheit ohne Grenzen. Der Grundgedanke des europäischen Einigungsprojekts ist die Vielfalt, der Ideenwettbewerb. Wir wenden uns gegen jeden Versuch, diese Vielfalt einzuschränken. Wir sind sowohl gegen Wolfgang Schäubles Idee einer Euro-Stabilisierung ohne Internationalen Währungsfonds als auch gegen Martin Schulz’ europäische Arbeitslosenversicherung, die nur Verlierer produziert.

Sie haben die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin scharf attackiert. Damit können Sie möglicherweise neue Wählergruppen gewinnen. Aber verlieren Sie nicht die Ur-Liberalen?

Lindner: Nein, keinesfalls. Ur-Liberale sind doch nicht für eine Politik der offenen Grenzen ohne Kontrolle oder den Abbau der Rechtsstaatlichkeit. Das wäre ein Missverständnis von Liberalität. Liberalität setzt einen klaren Rechtsrahmen voraus. Es gibt kein Menschenrecht, sich seinen Wohnort auf der gesamten Welt selbst auszusuchen. Das bleibt immer auch das Recht der aufnehmenden Gesellschaft. Man kann sich ein Beispiel nehmen an dem liberalen Einwanderungsrecht von Kanada, das uns als Vorbild dient. Es steht zu humanitärer Verantwortung, ist aber verbunden mit der Auflage zur Rückkehr, wenn in der alten Heimat wieder ein Leben in Frieden möglich ist. Und gleichzeitig beinhaltet es das Angebot, dauerhaft in Kanada – oder eben in Deutschland – zu leben, wobei dann auch klare Anforderungen gestellt werden, also die Fähigkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen, die Anerkennung der Rechtsordnung und das Erlernen der Sprache. Ich wüsste nicht, was ein Liberaler dagegen aussetzen sollte.

Sie haben für NRW eine Ampel-Koalition ausgeschlossen...

Lindner: Wir haben die Ampel-Koalition ausgeschlossen, weil wir andernfalls eine Regierung verlängern würden, die wir sieben Jahre kritisiert haben. Es wäre unglaubwürdig, in eine solche Regierung einzutreten und den Eindruck zu vermitteln, man hätte so einen Politikwechsel erreicht. Mit Rot-Grün ist der Politikwechsel nicht machbar, der für uns die Kern-Bedingung ist. Ausdrücklich nicht ausgeschlossen haben wir eine sozial-liberale Koalition mit der SPD. Aber die Tendenz, dass es dazu kommt, tendiert gegen null. Frau Kraft hätte fünf Jahre lang mit uns eine sozial-liberale Politik gestalten können. Das wäre für die Wirtschaft und das Bildungssystem besser gewesen, und das hätte auch dazu geführt, dass sich ein Innenminister Jäger seiner Verantwortung im Fall Amri stellen müsste.

Damit riskieren Sie eine große Koalition...

Lindner: Wir kämpfen darum, dass wir drittstärkste Kraft werden. Aus dieser Position hätten wir entweder ein starkes Verhandlungsmandat für eine neue Regierung. Oder wir könnten als Oppositionsführer eine große Koalition vor uns hertreiben. Ob es dann Rot-Schwarz oder Schwarz-Rot wäre, macht im Endeffekt keinen Unterschied. Ob Herr oder Frau Stillstand eine Groko anführen, ändert das Tempo ja nicht. Es macht aber wohl einen Unterschied, ob die Opposition von der AfD angeführt wird oder von der FDP.

Sie halten also die Oppositionsarbeit für wichtiger, als in einer Regierung die Arbeit von SPD und Grünen zu beeinflussen?

Lindner: Absolut. Wir treten nur in eine Regierung ein, in der wir etwas verändern können. Ich halte übrigens eine schwarz-gelbe Mehrheit für erreichbar, wenn die CDU endlich einmal aufhören würde, gegen die FDP zu kämpfen und sich stattdessen bemühen würde, von der SPD Stimmen abzuziehen. Dass die CDU so stark gegen uns arbeitet, aber nicht gegen die SPD zeigt vor allem eins: Da wird die nächste große Koalition geplant. Wir dagegen sind die Fast-Forward-Taste für NRW.

Was sagen Sie zu Spekulationen, die Gespräche könnten bis nach der Bundestagswahl dauern?

Lindner: Nicht mit uns. Ich will rechtzeitig Klarheit. Übrigens: Dass wir eine Ampel in NRW ausschließen, gilt auch nach der Bundestagswahl. Wenn CDU und SPD die Bildung einer großen Koalition so lange verzögern, wird ihnen das mehr schaden als helfen. Das wäre ja nur ein Täuschungsmanöver.

In Schleswig-Holstein zog Wolfgang Kubicki stark, in NRW sind Sie das. Was werden die Menschen sagen, wenn Sie bei der Bundestagswahl wieder auf Sie beide stoßen, weil Sie beide nach Berlin wollen?

Lindner: Das gute Ergebnis von Wolfgang Kubicki in Schleswig-Holstein hängt damit zusammen, dass die Menschen auch in Berlin ein Comeback der FDP wollen. Er hat ebenso wie ich mit offenen Karten gespielt. Eine Partei aus der außerparlamentarischen Opposition wieder in den Bundestag zu führen, geht nur über die Länder. Die Menschen, die eine liberale Stimme wollen, unterstützen uns schon bei Landtagswahlen. Wer die FDP in NRW wählt, dessen Stimme zählt ja quasi doppelt. Für den Wechsel in NRW und ein starkes Signal in den Bund. Das war schon in Schleswig-Holstein bei Wolfgang so.

Also glauben Sie nicht, dass die Wähler erwarten, dass Kubicki in Kiel Politik macht und Sie in Düsseldorf?

Lindner: Die Geschäftsgrundlage ist klar. Mich hält kein Ministeramt in Düsseldorf. Sondern ich will in NRW den Politikwechsel erreichen und dann die FDP in den Bundestag führen. Unsere politischen Wettbewerber betonen immer wieder, wie schlimm es sei, für den Landtag und den Bundestag zu kandidieren. Das interessiert die Leute aber nicht. Die stellen fest, im Bundestag gibt es eine ambitionslose Frau Merkel, die keine Pläne hat. In Berlin gibt es einen Martin Schulz, der französische Politik machen will, und nicht die von Gerhard Schröder. Und sie sehen eine Opposition aus Linken und Grünen, die so spannend ist wie eingeschlafene Füße. Da sagen die Leute: Wir wollen die FDP da wiedersehen.

Im Moment teilen Sie in alle Richtungen aus: Angela Merkel hat keine Ideen für die Zukunft, Martin Schulz liefert nicht. Mit wem könnten Sie sich am ehesten vorstellen zusammenzuarbeiten?

Lindner: Beide haben ihre Programme ja noch nicht vorgestellt. Deshalb kann man die Frage noch gar nicht beantworten. Ich sehe schon, dass es in der Wirtschafts- und Finanzpolitik mehr Nähe zur CDU gibt. Denn die CDU will da nichts tun. Das ist allemal besser, als die Reformpolitik zurückzudrehen, wie Martin Schulz das will.

Wie sähe für Sie die politische Landkarte am Ende des Jahres idealerweise aus?

Lindner: FDP im Bundestag und in einer gestalterischen Rolle im Bund und in den Ländern. Aber jetzt geht es am Sonntag erst einmal darum, die Voraussetzung zu schaffen, dass wir in den Bundestag kommen. NRW ist für alle eine besondere Wahl. Das Ergebnis sendet ein Signal in die gesamte Republik.