Wir Deutsche diskutieren, ob noch Steine in den Rucksack sollten

Christian Lindner
T-online

Lesedauer: 9 Minuten

 

Herr Lindner, wir würden mal nicht mit Corona anfangen…

Lindner: …sehr gern!

Wären Sie lieber unter einer Kanzlerin Annalena Baerbock Finanzminister oder unter einem Kanzler Armin Laschet?

Lindner: Die Freien Demokraten übernehmen dort Verantwortung, wo wir Gutes bewirken können. Es zählen die Inhalte. Wenn Sie die Finanzpolitik ansprechen, dann heißt das: Wir wollen, dass sich unser Staat durch eine wachstumsorientiere Wirtschaftspolitik von den Schulden befreien kann, dass gute Jobs entstehen und die Menschen finanziell entlastet werden, und dass Zukunftsinvestitionen ein stärkeres Gewicht haben als der Gegenwartskonsum.

Und was heißt das für unsere Frage?

Lindner: Die Grünen haben ein Programm vorgelegt, in dem von höheren Steuern, mehr Schulden und staatlichen Vorgaben für nahezu jeden Lebensbereich die Rede ist. Auch gesellschaftspolitische Grundeinstellungen wie die Bewertung von Einfamilienhäusern unterscheiden sich. Nach Lage der Dinge steht uns die Union inhaltlich näher als die Grünen.

Klingt aber auch nicht gerade euphorisch, was CDU/CSU angeht.

Lindner: Nein, Euphorie ist das nicht. Auch aus der Union wurden selbst von Friedrich Merz Steuererhöhungen nicht ausgeschlossen, es gab Gedankenspiele zur Aufweichung der Schuldenbremse. Inhaltlich näher zu sein heißt ja nicht, dass wir deckungsgleich wären.

Eben haben Sie die Union noch mehr gelobt als die Grünen, nun kritisieren Sie sie. Wer ist Ihnen denn nun lieber?

Lindner: Ich kritisiere nicht, ich zeige die Unterscheide auf. Die Menschen werden selbst beurteilen, welche politische Richtung sie bevorzugen. Im Grunde geht es um eine Weggabelung: Schaffen wir Zukunft mit mehr staatlicher Lenkung oder mit der Befreiung des privaten Erfinder- und Unternehmergeistes? Wenn man die staatliche Impforganisation mit der privaten Innovation von Biontech vergleicht, dann plädiere ich für den zweiten Weg.

Wann käme bei den nächsten Koalitionsverhandlungen der Punkt, an dem Sie sagen würden „Wir lassen es“?

Lindner: Ich kann eine politische Garantie abgeben: Wenn die FDP an einer künftigen Bundesregierung beteiligt ist, gibt es keine höhere Steuerbelastung der Löhne und Einkommen der Beschäftigten und für diejenigen, die Verantwortung für Arbeitsplätze tragen.

Gilt das nur in Summe oder auch individuell?

Lindner: Wie meinen Sie das?

Es könnte doch eine Reform der Einkommensteuer geben, bei der Gutverdiener so belastet und Gering- und Normalverdiener so entlastet werden, dass der Staat unterm Strich keine Mehreinnahmen erzielt. 

Lindner: Die Steuerbelastung ist im internationalen Vergleich in Deutschland für alle schon so hoch, dass eine Erhöhung für wen auch immer die wirtschaftliche Erholung und am Ende Arbeitsplätze gefährdet. Richtig ist, dass in der Mitte der Gesellschaft die finanzielle Entlastung besonders dringlich ist. Beispielsweise darf der Traum von der eigenen Wohnung nicht unerfüllbar sein. 

Das heißt, Sie werden keinen Koalitionsvertrag unterschreiben, mit dem irgendwer mehr Steuern zahlen muss?

Lindner: Wir führen hier doch keine Koalitionsverhandlungen, oder?

Nein, wir stellen nur Fragen: Schließen Sie aus, dass irgendwer mehr Steuern zahlen muss?

Lindner: Nein, denn bei Amazon, Apple, Google und anderen drängen wir seit Jahren darauf, dass diese Konzerne ihren fairen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten. Für den Rest kann sich der Grad der Entlastung durch eine Einkommensteuerreform unterscheiden, nach der Krise werden wir aber niemanden zusätzlich belasten.

Es könnte nach der Bundestagswahl auch eine Regierungsmehrheit ohne die FDP geben. Macht Ihnen ein mögliches Bündnis von Grünen, SPD und Linkspartei eigentlich Angst?

Lindner: Tatsächlich wird gerade viel über eine Ampelkoalition nach der Bundestagswahl spekuliert. Darin sehe ich eine Art Ablenkungsmanöver. Denn nüchtern betrachtet stehen Grüne und SPD der Linkspartei in vielen Fragen viel näher als uns. Nach der letzten Wahl in Bremen hat man gesehen, dass die Grünen sich gegen Jamaika und für eine Regierung mit der Linkspartei entschieden haben.

Sie haben allerdings die Frage nicht beantwortet: Macht Ihnen dieses Szenario Angst?

Lindner: Nein, denn ich vermute, dass die Mehrheit der Deutschen Grün-Rot-Rot nicht gutheißen würde. Deshalb müssen Grüne und die SPD vor der Bundestagswahl beantworten, ob sie sich von der Linkspartei ins Kanzleramt wählen lassen würden. Die Menschen verdienen Klarheit.

Aber wäre es für die FDP nicht das perfekte Szenario, wenn es eine Mehrheit für Grün-Rot-Rot und für eine Ampel gäbe? Dann könnten Sie doch sagen: Wir retten Deutschland.

Lindner: Bringen uns diese Rechenspiele im April wirklich weiter? Ich ziehe jedenfalls Koalitionen vor, in denen alle an einem Strang ziehen und nicht permanent gestritten wird. Deshalb müssen die Inhalte und das persönliche Vertrauen stimmen.

Ihr Motto wird im Zweifel lauten „Lieber nicht regieren als Deutschland retten“? Das können wir uns nicht vorstellen.

Lindner: Wenn Sie unbedingt spekulieren wollen, dann will ich mich nicht verweigern. Wenn es Mehrheiten für Grün-Rot-Rot oder eine Ampel gäbe, dann wären rechnerisch auch Jamaika oder die Deutschlandkoalition aus Union, SPD und FDP möglich. Wer also eine Politik der Mitte will, der sollte die Freien Demokraten stark machen. 

Sie wollen über Inhalte sprechen: Welche drei Aspekte müssen im Koalitionsvertrag auf jeden Fall stehen?

Lindner: Erstens eine Neugründung der Quellen unseres Wohlstandes.

Das heißt?

Lindner: Ein Programm zur wirtschaftlichen Erneuerung unseres Landes, das die Transformation durch die Digitalisierung, die Alterung der Gesellschaft und den Klimawandel mit Erfindergeist, marktwirtschaftlicher Freiheit und Gründerkultur beantwortet. Zweitens einen handlungsfähigeren Staat, der seine Verwaltung digitalisiert und die Bildung verbessert. Drittens eine gesellschaftspolitische Erneuerung. Von der Stärkung der Frauen im Berufsleben über die Bekämpfung des Alltagsrassismus bis hin zur Legalisierung der nicht kommerziellen Leihmutterschaft oder der Liberalisierung von Cannabis ist in den vergangenen 16 Jahren viel liegen geblieben. 

Die FDP propagiert die Modernisierung unseres Landes schon länger. Allerdings läuft es etwa beim Impfen in Nordrhein-Westfalen vorne und hinten nicht. Warum regieren Sie dort mit der CDU nicht besser?

Lindner: Ihr Urteil sollten Sie überprüfen. Die FDP forderte im Bundestag schon im letzten Herbst, dass wir die besonders verletzlichen Menschen in den Heimen schützen müssen. Leider hat die Bundesregierung daraus nicht den Kraftakt gemacht, der viele schwere Fälle verhindert hätte. Aber dort, wo wir handeln können, tun wir das. Nordrhein-Westfalen hat sich deshalb in der ersten Phase die klare Priorität gegeben, zuerst die vulnerablen Gruppen in Heimen zu impfen. Das war ein hoher Organisationsaufwand, denken Sie an Demenzerkrankte, aber der Erfolg bei den Ausbrüchen in Heimen spricht für sich. Im Übrigen liegt aber die Gesamtverantwortung für die Impfstrategie beim Bund. Er ist auch für die Verteilung der Impfstoffe zuständig.

NRW bekommt gemessen an der Bevölkerung genauso viel Impfstoff wie andere Länder, verimpft aber weniger. Das kann Sie als Freund des Wettbewerbs doch nicht zufriedenstellen.

Lindner: Den Hintergrund in der ersten Phase habe ich ja erläutert. Jetzt ist aber in NRW und in ganz Deutschland mehr Tempo möglich. Ganz konkret sollte die Sicherheitsreserve der zweiten Impfdosis aufgelöst werden. Der Zeitpunkt von Erst- und Zweitimpfung sollte gestreckt werden. Und alle Hausärztinnen und Fachärzte, auch die Privatpraxen, müssen massiv Impfen. Die Fixierung auf die öffentlichen Impfzentren macht keinen Sinn mehr.

Wir wollen Ihre Forderungen nochmal an der Realität spiegeln: Warum vergibt die schwarz-gelbe Koalition in Düsseldorf die Organisation der Impftermine an die Kassenärztliche Vereinigung, also eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ohne Erfahrung bei dem Thema, während der aus Ihrer Sicht nicht gerade marktwirtschaftliche rot-rot-grüne Senat in Berlin einen Privatanbieter beauftragt?

Lindner: Halten Sie eine so parteipolitische Bewertung für sachgerecht? Um Ihrer Frage aber nicht auszuweichen: Der FDP-Gesundheitsminister von Schleswig-Holstein hat sich für einen privaten Anbieter entschieden. Wenn es allein nach der FDP in Düsseldorf gegangen wäre, hätte auch Nordrhein-Westfalen einen privaten Anbieter verpflichtet. Der CDU-Gesundheitsminister hat sich für die Kassenärztliche Vereinigung entscheiden. 

Und da kann die mitregierende FDP rein gar nichts ausrichten?

Lindner: In Koalitionen macht man Kompromisse und in Regierungen gibt es Ressortzuständigkeiten.

Zurück zum großen Ganzen: Warum tut sich Deutschland insgesamt so schwer mit der Digitalisierung? 

Lindner: Das stimmt nur teilweise. Die Menschen tun sich damit überhaupt nicht schwer, es ist ein Versäumnis der Politik. 

Wir korrigieren uns: Warum tut sich die Politik so schwer?

Lindner: Mich interessiert weniger der Grund für die Versäumnisse als ihre Überwindung. Deutschland sollte sich das Ziel setzen, im öffentlichen Sektor in fünf Jahren in der Weltspitze mitzuspielen.

Aus der Verwaltung hört man häufig, dass Digitalisierungswillige ausgebremst werden, etwa mit dem Argument: „Dafür sind Sie nicht zuständig.“ 

Lindner: Das können wir ändern. Die Zuständigkeiten sind zersiedelt. Das gilt nicht nur für die Verwaltung, sondern auch für die Bundesregierung. Jedes Ministerium digitalisiert ein bisschen vor sich hin, ohne dass es einen gibt, der das Ganze verknüpft. Gerade deshalb brauchen wir auf Bundesebene ein Digitalministerium. 

Welche anderen Defizite sind durch die Corona-Krise deutlich geworden? 

Lindner: Das größte Defizit ist, dass unsere Wirtschaft nicht mehr hinreichend wettbewerbsfähig ist. Wenn wir das nicht ändern, werden wir die Konsequenzen bald spüren, weil uns die Mittel für sozialen und ökologischen Fortschritt fehlen. Während die Chinesen längst losgelaufen sind, ziehen die Amerikaner sich gerade die Sprintschuhe an. Und wir Deutsche? Wir diskutieren auch in diesem Interview, ob noch Steine in den Rucksack gepackt werden sollten.

Geht das etwas konkreter?

Lindner: Mehr privates Kapital für Startups, Forschungsförderung, Steuerentlastung, Abbau von bürokratischen Fesseln, Freihandelsabkommen, Einwanderungsgesetz für Top-Talente, Beschleunigung der Genehmigungsverfahren für öffentliche Infrastruktur.

Das sind allerdings die liberalen Evergreens.

Lindner: Ja, absolut. Und weil diese Form der Politik seit 15 Jahren versäumt wurde, fehlt es unserem Land an Dynamik. Die Bilanz der letzten Jahre ist ernüchternd. In der Pandemie hat der Staat noch mehr Raum beansprucht. Jetzt geht es darum, ob er sich noch weiter ausdehnt oder ob wir den Menschen mehr zutrauen. Um diese Alternative geht es im Kern bei der Bundestagswahl. Und ich glaube, dass eine Mehrheit der Deutschen unseren Weg bevorzugt. 

Allerdings ist es für die FDP bei Wahlen schon ein Erfolg, wenn sie zweistellig wird. 

Lindner: Das mag für die FDP stimmen, aber die Werthaltung reicht über unsere direkte Wählerschaft hinaus. Und auch da können wir von den jetzt gut zehn Prozent noch zulegen.

Sie wollen im Herbst also mindestens 15 Prozent erreichen? 

Lindner: Wir machen unsere Wahlziele nicht an Ziffern fest. Wir wollen schwarz-grüne und grün-rot-rote Mehrheiten verhindern, damit wir Einfluss nehmen können. Und wir wollen wie zuletzt in Baden-Württemberg stärker als die AfD werden, weil die Werte der Liberalität mehr Bedeutung haben müssen als das antiliberale Gedankengut jeder Formation. Deshalb werden wir engagiert Wahlkampf machen.

Das spürt man auch bei Corona: Sie kritisieren die Pläne der Bundesregierung, etwa bei den angedachten Ausgangssperren…

Lindner: …da möchte ich widersprechen: Wir kritisieren die Regierung nicht schlicht, sondern machen immer Gegenvorschläge.

Sie sagten kürzlich: „Ich halte Ausgangsbeschränkungen immer für unverhältnismäßig, für eine zu scharfe Freiheitseinschränkung.“ Das ist keine Kritik?

Lindner: Ihr Zitat ist nur zu kurz gewählt. Denn es fehlen die Gegenvorschläge, die wir stets unterbreiten.

Wie wollen Sie die Infektionszahlen denn senken?

Lindner: Zunächst ist die Infektionszahl allein schon einmal kein geeigneter Indikator. Man muss auch die Situation der Krankenhäuser vor Ort, die betroffenen Gruppen und anderes ansehen. Dann raten wir dazu, dass im öffentlichen Raum immer eine FFP2-Maske getragen wird. Wir wollen den Hygienekonzepten der Gastronomie, des Handels, in Sport und Kultur vertrauen. Mit professionellem Gesundheitsschutz ist uns mehr geholfen, als wenn Menschen in den privaten Bereich abgedrängt werden, wo dieser Schutz nicht besteht. Vor allem aber müssen wir massenhaft testen. In Arztpraxen, Apotheken, Drogerien. Überall. Das kann man mit einem Anreizsystem verbinden…

…inwiefern?

Lindner: Wenn ein negativer Test zur Möglichkeit wird, ins Theater oder ins Restaurant zu gehen, würde innerhalb von Tagen die Zahl der Getesteten nach oben schnellen.

Kennen Sie ein Land, das das erfolgreich praktiziert?

Lindner: Südkorea hat schon im vergangenen Jahr konstant getestet und so die Infektionen zumindest stabil gehalten. Allerdings muss jede Gesellschaft eigene Antworten finden, weil sich die Lage unterscheidet. Im Übrigen haben wir noch ein besonderes Problem in Deutschland: Mit Astrazeneca könnte deutlich schneller geimpft werden, wenn die ungenutzten Dosen an Freiwillige verimpft würden. 

Der Impfstoff soll nun aber bevorzugt an Über-60-Jährige vergeben werden. Wie nehmen Sie den Kurs der Bundesregierung in Bezug auf Astrazeneca wahr? 

Lindner: Leider als zu wenig abgestimmt mit den europäischen Behörden. Es ist unverändert ein Wirkstoff, bei dem der Nutzen höher als das Risiko ist. Wir sollten ihn pragmatisch an Freiwillige nach dem Gespräch mit dem Hausarzt abgeben. Der Vertrauensverlust ist aber enorm. Ich bekam auch schon die Frage gestellt, was ich nehmen würde, wenn ich die Wahl zwischen Biontech und Astrazeneca hätte.

Klären Sie uns auf. 

Lindner: Ich verstehe, wenn jemand Biontech vorziehen will. Weil ich persönlich keine Bedenken bei Astrazeneca habe, würde ich diesen nehmen. Dann bleibt mehr Biontech für Menschen mit Bedenken.

Jetzt klingen Sie richtig sozialdemokratisch.

Lindner: Ich habe schon bemerkt, dass Sie jedes Wort parteipolitisch deuten. Tatsächlich ist es aber auch eine Freiheitsfrage, denn wenn mehr Menschen durch Impfung geschützt sind, haben wir alle mehr gesellschaftliches Leben.

Dann bleibt uns nur zu sagen: Wir sind gespannt auf Ihre Impfung. 

Lindner: Ich auch, aber die Pandemie hat uns allen ja Geduld gelehrt.