Wir brauchen eine Strategie, wie wir das alles wieder öffnen

Christian Lindner
Stern

Mehr als 80 Prozent der Bundesbürger halten laut aktuellen Umfragen die Maßnahmen der Regierung während der Corona-Krise für richtig. Gehören Sie zu diesen über 80 Prozent?

Lindner: Ja, zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die Maßnahmen notwendig. Und zum jetzigen Zeitpunkt ist der Zustand der Kontaktreduzierung auch verhältnismäßig. Wir haben das im Deutschen Bundestag mitgetragen. In den Ländern, in denen wir mit in der Regierung sind, haben wir die Maßnahmen auch mitkonzipiert. Aber dennoch sage ich: Wir brauchen jetzt keinen konkreten Zeitpunkt, aber eine Strategie, wie wir das alles wieder öffnen. Darin sehe ich die Aufgabe der Opposition: Wir müssen die Regierung kontrollieren, über die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen wachen – und immer wieder darauf hinweisen, dass es ein Zustand ist, der nicht auf Dauer tragbar ist. Jeder Tag, an dem wir ein Stück weit mehr Freiheit haben, zählt. Mir fehlt eine Strategie, wie wir schrittweise in die Normalität zurückkehren können.

Angela Merkel hat gerade diese Lockerungs-Szenarien von sich gewiesen und sich geradezu verbeten, darüber nachzudenken. Fordern Sie also das Gegenteil?

Lindner: Ja, ich fordere das Gegenteil. Wir haben Frau Merkel Respekt gezollt, weil sie in ihrer Ansprache an das Volk die richtigen Worte gefunden hat. Und wir finden auch viele der Maßnahmen der Regierung richtig. Dennoch gibt es Vorschläge, was man noch besser machen kann. Etwa bei den wirtschaftlichen Hilfen. Und mit Blick auf die Öffnungsstrategie gibt es das Missverständnis, dass wir die Maßnahmen, deren Wirksamkeit sich ja noch nicht beweisen konnten, wieder zurücknehmen möchten. Das stimmt nicht. Wir wollen den Menschen aber eine Perspektive aufzeigen. Damit sie das Vertrauen haben, dass sie in ihrem Leben und ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit nicht länger eingeschränkt werden, als es wirklich nötig ist.

Mit welchen Mitteln wollen Sie das denn schaffen?

Lindner: Ich glaube, es gibt zum Beispiel ein paar technische Lösungen, die den Zustand verkürzen würden, in dem wir uns jetzt befinden.

Welche sind das?

Lindner: Erstens sollten wir im öffentlichen Raum viel stärker als bisher Schutzmasken tragen. In Jena hat der FDP-Oberbürgermeister das schon zur Pflicht erklärt. Das muss man sich ansehen. An allen öffentlichen Orten sollte es zudem Gelegenheit zur Desinfektion der Hände geben. Zweitens brauchen wir eine freiwillig zu nutzende App, die anonymisiert darüber Aufschluss gibt, mit wem wir in letzter Zeit in Kontakt waren. Meldet sich also jemand als Corona-Positiv, werden diejenigen gewarnt, die in seiner oder ihrer Nähe waren. Das wäre ein Instrument, mit dem wir, ohne in Bürgerrechte einzugreifen, Infektionsketten identifizieren könnten. Dritter Punkt: Es muss einen dringenden Appell an die Wirtschaft geben, Beatmungsgeräte und Schutzkleidung herzustellen.

Und wenn dieser Appell keine Wirkung zeigt? Befürworten Sie Zwangsmittel des Staates?

Lindner: Nein, wir müssen keine Instrumente der Kriegswirtschaft bemühen, wie jetzt in den USA. Unser kreativer Mittelstand muss nicht gezwungen werden. Wenn der Staat diese Dinge bestellt, und bereit ist, für diese Leistung zu bezahlen, wird der Motor angeworfen. Da bin ich sicher. Diese Maßnahmen wären Elemente, mit denen man Hoffnung machen könnte, dass wir nicht auf einen Impfstoff warten müssen. Denn bis dahin wäre Deutschland ein anderes Land.

Einige Hersteller, die Masken und Schutzkleidung fertigen, nehmen dafür mittlerweile unethisch hohe Preise. Wie kann man das verhindern?

Lindner: Durch mehr Angebot, weil man dann Wucherpreise nicht mehr durchsetzen kann. Wir brauchen dazu zum Beispiel eine schnellere Zulassung von Geräten und Materialien, die in Unternehmen produziert werden, die vorher etwas ganz anderes hergestellt haben. Es muss also kein Zwang auf diejenigen ausgeübt werden, die moralisch richtig und wirtschaftlich vernünftig handeln wollen. Sondern wir müssen die Verfahren beschleunigen, damit diese Geräte und die Schutzkleidung auch eingesetzt werden können.

Der Sachverständigenrat der Bundesregierung geht davon aus, dass die Wirtschaftsleistung um 2,8 bis 5,4 Prozent schrumpft. Ist das realistisch?

Lindner: Wenn es nur eine solche Rezession gäbe, wie es die Wirtschaftsweisen jetzt sagen, dann wäre ich ein beruhigter Mensch. Was mich aber nicht schlafen lässt, ist die Befürchtung, dass vielleicht das Ifo-Institut recht hat, das von bis zu 20 Prozent Minus ausgeht. Das kann aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch gar keiner sagen. Die Prognosen der Wirtschaftsweisen beziehen sich ja auf die Vergangenheit, die in die Zukunft fortgeschrieben werden. Wir leben aber bald in einer neu zu denkenden Zukunft. Zahlen aus Februar und März geben keinen Aufschluss über diese Zukunft. Wir müssen jetzt alles dafür tun, nicht eine Pleitewelle, Massenarbeitslosigkeit und einen Wirtschaftsabsturz zu bekommen. Der wäre nicht umkehrbar. Das wäre der Gau.

Drei Szenarien werden gerade kalkuliert: Das V, das U und das L. V bedeutet, Absturz und schnelle Erholung, U heißt schneller Absturz, kurze Phase der Stagnation, Aufstieg. Und L wäre der eben von Ihnen beschrieben Gau: Absturz und lange Phase der wirtschaftlichen Agonie. Von welchem Szenario gehen Sie aus?

Lindner: Das kann gegenwärtig niemand seriös sagen. Wir können nur alles dafür tun, dass es kein L wird. Und da bin ich wieder bei den Krisenmaßnahmen der Regierung, die Anpassungsbedarf haben.

Welche?

Lindner: Es gibt für Firmen mit bis zu zehn Mitarbeitern die Möglichkeit eines Sofortzuschusses. Diese Grenze halte ich für zu niedrig. Bis 50 Beschäftigte haben wir es mit kleinem Mittelstand zu tun. Und für diese Unternehmen sollte ein Zuschuss unbürokratisch bis zu 25.000 Euro ausgezahlt werden können. Für die Betriebe darüber verweist die Regierung nur auf die KfW und deren Kredite, die aber viele Firmen gar nicht bekommen werden – weil sie in dieser Phase nicht kreditwürdig sind. Und wenn sie sie bekommen, sind sie schon tot, wenn das Geld ausgezahlt wird.

Sparkassen-Präsident Schleweis hat heute direkte Zuwendungen für Mittelständler gefordert. Oder hundertprozentige Garantien des Staates für Kredite. Was halten Sie davon?

Lindner: Bei einer hundertprozentigen Garantie haben Banken und Sparkassen gar kein Interesse mehr an der Prüfung. Dann kann das Geld auch gleich so rausgehen. Ich habe einen besseren Vorschlag: Nutzen wir doch die Finanzämter. Dort sitzen viele qualifizierte Beamte, die wir jetzt einsetzen könnten. Ein Steuerpflichtiger könnte beim Finanzamt anzeigen, dass sein Umsatz weggebrochen ist. Und dass er zahlungsunfähig werden könnte. Dann könnte das Finanzamt Geld zurücküberweisen. Oder es könnte eine vorweggenommene Berücksichtigung von Verlusten vornehmen. Das ist alles schon im Steuerrecht angelegt und müsste eben nicht nach der Steuererklärung gelten, sondern davor. Das sollte jetzt dringend umgesetzt werden.

Ingeborg Neumann vom Verband der Textilindustrie sagt: „Kredite sind für uns Rettungsanker, an denen wir ertrinken.“ Hat Sie recht?

Lindner: Ihre Sorge ist nicht nur berechtigt, sie bezieht sich auch auf viele andere Bereiche wie Gastronomie, Hotellerie, Reiseveranstalter. Es gibt viele Branchen, die sehr geringe Gewinnmargen haben. Und die dadurch keine großen Rücklagen aufbauen können. Deren Geschäft kann nicht nachgeholt werden. Anders als beim Auto, das kann man im August auch noch kaufen.

Was kann man für diese Branchen tun?

Lindner: Vor allem kann man für sie tun, dass wir bald wieder gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben zulassen. Es geht aber nicht darum, nun alles sofort wieder hochzufahren – und dass dann die Menschen in den Clubs dicht gedrängt zusammenstehen. Das wird noch auf sich warten lassen. Aber wann zum Beispiel der Einzelhandel unter bestimmten hygienischen Maßgaben wieder öffnen kann, muss diskutiert werden können. Auch Menschen, die mittlerweile immun sind gegen das Virus, sollte man gestatten, am Wirtschaftsprozess wieder teilzunehmen.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron plädiert mit einigen europäischen Mitstreitern dafür, Corona- Bonds in Höhe von einen 1000 Milliarden auszugeben.

Lindner: Diese Forderung hatten er und andere auch schon vorher. Gegenwärtig fehlt es doch keiner Regierung in Europa an Geld, um die Krise zu bewältigen. Es fehlt an Atemgeräten, Personal, Schutzkleidung. Diese Not gilt es zu lindern. Ich bin dafür, dass wir alles tun, um hier solidarisch zu sein. Woran es aber momentan nicht mangelt, ist Geld. Alle haben Zugang zu den Finanzmärkten und zahlen niedrige Zinsen. Warum gibt es also eine Diskussion über ein Instrument, das nicht benötigt wird und das einige schon vor der Krise gerne gehabt hätten, um die Haftungsrisiken ihrer Schulden auf andere zu verteilen?

Europa macht in dieser Krise nicht den Eindruck einer solidarischen Völkergemeinschaft. Im Gegenteil: Jeder Staat sucht, völlig unkoordiniert seinen eigenen Weg. Ist das zerschlissene Tischtuch endgültig zerrissen?

Lindner: Hoffentlich nicht. Das vereinte Europa ist unsere Antwort auf den Machtanspruch Chinas und der USA. Es gibt aber sicher viel nachzudenken über die Zukunft Europas. Zu den vielen Alleingängen erleben wir nun auch noch einen Staat wie Ungarn, der von der autoritären Politik auf dem Weg in eine Präsidialdiktatur ist. Italienische Politiker haben heute in der FAZ eine Anzeige geschaltet, in der den Niederlanden schwerste und auch falsche Vorwürfe gemacht werden. Ich verstehe die Verzweiflung in Italien, aber die Finanzpolitik hat damit nichts zu tun. Ich glaube, Europa braucht einen emotionalen und gedanklichen Neustart nach der Krise.

Wie sehen Sie die Entwicklung in den USA?

Lindner: Was wir in den USA sehen, ist eine unglaubliche Tragödie. Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass sich mein Bild von Donald Trump noch einmal verschlechtern könnte. Aber es ist ihm gelungen. Zur humanitären Tragödie kommt sicher bald auch eine wirtschaftliche. Die Bilder, die uns von dort erreichen werden, können die schrecklichen Umstände in Italien noch einmal übertreffen. Es geht schlicht um Menschenleben. Donald Trumps Politikstil in dieser Krise macht mich einfach sprachlos.

Asiatische Länder wie China und Südkorea sind in der Bewältigung der Corona-Krise Europa voraus. Droht die Gefahr eines Ausverkaufs deutscher Unternehmen?

Lindner: Ich will nicht ausschließen, dass sich einige chinesische Firmen jetzt an verletzte Unternehmen anschleichen. Dagegen kann man sich wehren. Und das sollten wir auch tun. Aber wir können doch zur Zeit vor allem davon profitieren, dass sich die Lage in China entspannt. Weltweite Arbeitsteilung kann auch ein Vorteil sein. Wenn Chinesen Beatmungsgeräte und Atemmasken liefern, helfen die uns schneller wieder zur Normalität zurückzufinden. Ich nehme gern eine chinesische 

Und die Gefahr, dass die Chinesen deswegen gleich VW kaufen, ist vielleicht auch nicht ganz so groß?

Lindner: Da werden jetzt bewusst Ängste geschürt. Ich glaube, dass manches harsche Auftreten in Bezug zu den Chinesen auch gerne benutzt wird, um die gesellschaftliche Stimmung zu verändern. Jetzt wollen ja alle wissen, dass der Kapitalismus und die Marktwirtschaft Schuld sind an Corona. Und dass die Globalisierung der Teufel ist, der nun sein wahres Gesicht zeigt. Ich finde nicht, dass es uns vor Corona so schlecht gegangen ist. Ganz im Gegenteil. Die Situation wird nur jetzt dafür genutzt, um Dinge durchzusetzen, für die man vorher keine Mehrheit hatte. Immer stärker wird auf den Staat, seine Lenkung und Planung verwiesen.

Der Mensch hat es verbockt, nur der Staat kann die Wunde heilen?

Lindner: Genau dieser Eindruck soll erweckt werden. Der alles kontrollierende Staat ist die Rettung. Daran glaube ich nicht. Der Staat muss stark sein als Schiedsrichter und bei Polizei, Gesundheit und so weiter. Aber Bürokratismus wie bei der Bonpflicht beim Bäcker und Missmanagement wie bei Berliner Flughäfen braucht keiner. Ich will damit sagen, es ist eine sehr komplexe Diskussion, und die einfachen Antworten sind deshalb noch lange nicht richtig.

Alles scheint aber nicht toll zu laufen. In jeder Talkshow sitzt mittlerweile mindestens ein Regierungsmitglied, das sich dafür stark macht, dass das Krankenhauspersonal endlich besser bezahlt wird. Man fragt sich, wo waren denn diese vielen Robin Hoods der Krankenpfleger im Wahlkampf?

Lindner: Ich bin dafür, dass die Pflegeberufe angemessen bezahlt werden. Es liegt aber an den Arbeitgebern und Gewerkschaften, dies auszuhandeln. Aber machen wir uns nichts vor: Wenn jemand mehr bekommen soll, wofür ich große Sympathien habe, muss jemand anders dafür bezahlen. Es muss also einen gesellschaftlichen Aushandelsprozess geben. Es wird sich innerhalb dieses Prozesses aber auch die überlastete Grundschullehrerin melden, die Altenpflegerin, die Kitaangestellte, der Mitarbeiter eines Entsorgungsunternehmens und die Gymnasiallehrerin, die alle manchmal über ihre physische und psychische Grenze hinausgehen. Diese Diskussion müssen wir aushalten. Aber sie wird in Gang kommen. Sie wird nur nicht so einfach sein, wie sie sich in den Talkshows gerade anhört.

Herr Lindner, sie sind im Dienstgrad eines Hauptmanns Reserveoffizier. Soll die Bundeswehr in der Krise eingebunden werden?

Lindner: Ja, wenn die Bundeswehr benötigt wird, sollte sie helfen. Auch über die bisherige Amtshilfe hinaus. Aber nicht im Sinne von Polizeiarbeit. Da muss es eine strikte Trennung geben. Sie kann vor allem im logistischen und sanitären Bereich gute Hilfe leisten. Ich habe mich übrigens auch schon freiwillig gemeldet. Aber bisher gibt es noch keinen akuten Bedarf an mir als Reservist.