Wir brauchen eine andere Migrationspolitik.

Christian Lindner Migration
Frankfurter Allgemeine Zeitung

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Herr Minister, das Thema Migration beschäftigt das Land. Die Debatte, die wir dazu führen, klingt anders als noch vor wenigen Jahren. Robert Habeck stimmt die Grünen auf „moralisch schwierige Entscheidungen“ ein, und auch andere reden plötzlich weniger über die deutsche Verantwortung gegenüber den Flüchtlingen dieser Welt und mehr über den Zusammenhalt im eigenen Land. Wird jetzt ausgerechnet die rot-grün dominierte Ampel Merkels Migrationspolitik revidieren?

Lindner: Ich weise zurück, dass die Bundesregierung rot-grün dominiert sei, aber richtig ist, dass wir eine andere Migrationspolitik brauchen. Die ethische Abwägung hat sich aus meiner Überzeugung schon seit langer Zeit umgedreht. Neben unserer humanitären Verantwortung gegenüber Menschen auf der Flucht liegt der Fokus jetzt auch stärker auf dem Erhalt des sozialen Friedens in Deutschland. Denn wir sind an Grenzen gekommen und können nicht mehr hinnehmen, dass die Kontrolle über den Zugang in unsere Gesellschaft verloren geht. Wir müssen souverän entscheiden: Wen laden wir ein, sein Glück in unserem Arbeitsmarkt zu suchen? Mit wem sind wir aus humanitären Gründen solidarisch, und bei wem liegen solche Gründe nicht vor? Illegale Migration muss gestoppt werden.

Wir führen die Debatte über Migration auch mit Blick auf die bevorstehenden Landtagswahlen im Osten, wo die AfD in allen Umfragen vorn liegt. Glauben Sie, man kann diese AfD-Anhänger mit entschiedenem Regierungshandeln zurückholen? Oder haben wir den Punkt längst überschritten, an dem politische Entscheidungen Stimmungen drehen können?

Lindner: Wir brauchen erst einmal eine ideologiefreie Klima- und Energiepolitik. Wir müssen uns befreien von bürokratischen Fesseln und überlangen Planungsverfahren. Wir brauchen außerdem ein Management von Migration, das illegale Einwanderung unterbindet und qualifizierten Zugang ermöglicht. Das ist aus der Sache heraus notwendig. Wenn dann die eine oder der andere, der bislang glaubte, Protest wählen zu müssen, anerkennt, dass es diese Problemlösungen endlich gibt, ist das gut. Aber das Handeln der Politik insgesamt muss sich an Problemen orientieren und nicht an solchen Formationen.

Ihr Generalsekretär Bijan Djir-Sarai nannte die Grünen gerade mit Blick auf die Migration „ein Sicherheitsrisiko für unser Land“. Hat er recht?

Lindner: Für die politische Sprache von Generalsekretären gelten in Deutschland traditionell eigene Regeln. Richtig ist: Das Asylpaket der Europäischen Union durfte nicht an Deutschland scheitern. Im Vorfeld lautete mein dringender Appell an die Kolleginnen und Kollegen der Grünen, ihre diesbezüglichen Bedenken zu überwinden. Die Asylwende ist nun gelungen. Das Paket ist ein ausgewogener Kompromiss, der die Kontrolle an der Außengrenze der EU wiederherstellt, der auf verantwortbare Weise die Verfahren strafft und die Zahlen reduziert.

Die Äußerung passt ins Bild: Auch Sie attackieren Ihren grünen Koalitionspartner schließlich immer wieder, ob bei Atomkraft, dem Heizungsgesetz oder der Kindergrundsicherung. Warum regieren Sie mit einer Partei, die Ihrer Meinung nach so viel falsch macht?

Lindner: Also zunächst einmal ist Ihre Fragestellung etwas einseitig. Sie lassen völlig außer Betracht, dass es zum Beispiel am Dienstag dieser Woche die Grünen waren, die das absolut notwendige Paket zur Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren blockiert haben, obwohl es längst vereinbart war. Aber klar ist, dass Grüne und FDP unterschiedliche Parteien sind. Ich werfe den Grünen nicht vor, dass sie bei der letzten Wahl Millionen Menschen als Unterstützerinnen und Unterstützer gewonnen haben für ihre Politik, die stark am Staat und am Gedanken der Gleichheit orientiert ist. Aber die FDP ist gewählt worden für den Gedanken der Eigenverantwortung, für Respekt vor Eigentum und Leistung, für marktwirtschaftlichen und technologieoffenen Klimaschutz und für den Gedanken, dass Wohlstand erst erwirtschaftet werden muss, bevor er verteilt wird. Das sind ganz unterschiedliche politische Positionen, die miteinander ausgehandelt werden müssen. Bislang gelingt es uns in der Regel, zu sehr guten Ergebnissen zu kommen.

Sehr gute Ergebnisse? Diese Streitereien, etwa über das Heizungsgesetz, haben der Regierung einen enormen Vertrauensverlust beschert. War es das wirklich wert?

Lindner: Absolut! Der erste Entwurf des grün geführten Wirtschaftsministeriums hätte dazu geführt, dass der Staat gewissermaßen in den Heizungskeller der Menschen einsteigt. Für viele Menschen, gerade für ältere, wäre das Eigenheim unbezahlbar geworden im Fall von erheblichen Sanierungs- und Austauschpflichten bei den Heizungen. Es wäre Wertschöpfung vernichtet worden, und deshalb wäre es verantwortungslos gewesen, zu schweigen und ein falsches Gesetz passieren zu lassen. Nachdem daran gewerkelt wurde, ist es jetzt ein Heizungsgesetz mit der richtigen Reihenfolge: Erst kommt die kommunale Wärmeplanung, dann kommen Vorgaben für die Bürgerinnen und Bürger. Nicht alles macht überall Sinn. Ich sage das als jemand, dessen Wärmepumpe zu seiner vollsten Zufriedenheit funktioniert. Aber was bei mir funktioniert, kann nicht allgemein verbindlich für alle Gebäude vorgeschrieben werden.

Und trotzdem haben Sie gewissermaßen ein doppeltes Spiel gespielt: Erst haben Sie am 19. April dem Gebäudeenergiegesetz im Kabinett zugestimmt, dann haben Sie direkt danach in einem Tweet Änderungen daran gefordert. Damit sind Sie Ihren Ministerkollegen Habeck und Klara Geywitz öffentlich in die Parade gefahren, während die das Gesetz gerade in der Bundespressekonferenz vorstellten. War das etwa keine Profilierung auf Kosten der Regierung?

Lindner: In der Tat würde ich dieses Verfahren nicht wiederholen, aber es hat einen anderen Charakter, als Sie leider den Eindruck gewonnen haben. Ich hatte schon im Kabinett Bedenken. Aber es gab den dringenden Wunsch des Bundeskanzlers und des Wirtschaftsministers, den Gesetzesentwurf trotz dieser Bedenken vom Kabinett beschließen zu lassen und formal weiterzureichen. Die Bedenken sollten dann in einer Protokollnotiz festgehalten und im parlamentarischen Verfahren geklärt werden. Ich würde heute ein Gesetz, das im Kabinett nicht voll geeint ist, nicht mehr an den Bundestag weiterleiten. Das würde ich trotz Bitten der Koalitionspartner kein zweites Mal so machen.

Der Protest gegen den eigenen Koalitionspartner verschafft Ihnen immer nur kurzfristig Sichtbarkeit – bei den anstehenden Landtagswahlen in Hessen und Bayern sieht es für die FDP nicht gut aus. Wieso danken Ihre Wähler es Ihnen nicht, wenn Sie sich in der Regierung durchsetzen?

Lindner: Vielen Dank, dass Sie bestätigen, dass die FDP ihre Handschrift zeigen kann. Das sehe ich auch. Man sieht es bei der Entwicklung unserer Staatsfinanzen, bei Fragen steuerlicher Entlastungsmaßnahmen und bei der Migrationspolitik. Aber bitte ziehen Sie in Erwägung, dass man manche Dinge aus Überzeugung tut und nicht mit Blick auf den Applaus des Tages oder einzelne Wahltermine. Wenn es einen Wahltermin gibt, an dem ich mich orientiere, dann den im September 2025.

So lange hält die Ampel noch?

Lindner: Bislang sind die Ergebnisse überzeugend, wenngleich es beim Prozess Anlass zur weiteren Vervollkommnung gibt.

Das klingt ja nicht wahnsinnig optimistisch.

Lindner: Doch. Die Ergebnisse stimmen, und das unter den Bedingungen einer Zeitenwende in geopolitischer Hinsicht – nach dem verbrecherischen Angriff Russlands auf die Ukraine – und auch in ökonomischer Hinsicht, mit der Abkühlung der Konjunktur und unverändert hoher Inflation. Diese Koalition hat sich – wie ich vorsichtig sage –, nicht direkt gesucht, aber sie wird ihrer Verantwortung gerecht.

Der Liberalismus wird gerade von rechts und links angegriffen. Auf der einen Seite wünschen sich Rechtspopulisten eine Art illiberale Demokratie nach dem Vorbild Viktor Orbáns, auf der anderen Seite zweifeln Wokeness-Kämpfer am liberalen Universalismus und wollen Menschen nach ihrer Gruppenzugehörigkeit einordnen.

Lindner: Und Klimakleber stellen unsere demokratischen rechtsstaatlichen Strukturen infrage.

Da müsste eine selbstbewusste liberale Partei doch eigentlich reüssieren – wieso gelingt Ihnen das nicht?

Lindner: Die FDP steht zur Mitte dieser Legislaturperiode in einer herausfordernden Zeit jedenfalls besser da als vor vier Jahren. Ich bin unverändert entschlossen, die FDP auch mit einem zweistelligen Ergebnis in den nächsten deutschen Bundestag zu führen, auf dass wir weiter genau für die Rolle, die Sie beschrieben haben, aufgestellt sind. Denn in der Tat, von links wie von rechts gibt es Angriffe auf den liberalen Gedanken, der ja sehr viel zu tun hat mit Verhältnismäßigkeit und Vernunft, mit der Orientierung auf den einzelnen Menschen, auf sein Verantwortungsgefühl und seine Wahlfreiheit. Ich bin mir sicher: Es gibt noch viel mehr Menschen, die wir mit diesen Werten, die nur wir vertreten, erreichen können, als gegenwärtig in den Umfragen für uns votieren.