Wir brauchen die Steuerung von Migration

Christian Lindner
Redaktionsnetzwerk Deutschland

Herr Lindner, Sie sind Marktwirtschaftler, oder?

Lindner: Ja. Freiheit und Eigenverantwortung sind die besten Antriebe für Kreativität.

Wenn ein Unternehmen sein Produkt nicht mehr verkauft bekommt, muss es etwas ändern: Werbung, Verpackung oder Produkt. Woran hakt es bei der FDP?

Lindner: Die FDP ist kein Unternehmen, sie ist die Heimat freiheitsliebender Menschen. Wir haben Überzeugungen, die man nicht wie ein Waschmittel wechselt.

Die FDP werde als „zu blass und indifferent“ wahrgenommen, schreibt Ihr Thüringer Partei-Kollege Thomas Kemmerich.

Lindner: Ja, den Grundgedanken teile ich. Wenn alle anderen über die Umverteilung von Geld und Schuldenmachen für Klimaschutz sprechen, dann treten wir für solide Finanzen und eine starke Wirtschaft ein. Genauso wie das Klima sind auch Digitalisierung und Bildung wichtige Zukunftsthemen. Thomas Kemmerich empfiehlt Vernunft in der Klima- und Migrationspolitik. Das sind ja die beiden Themen, bei denen Grüne und AfD jeweils die Extrempositionen besetzen. Es ist eine Aufgabe, hier die Stimme der Mitte stärker zu machen.

Sind Sie denn tatsächlich „zu blass und indifferent“?

Lindner: Es geht um die gesamte FDP. Ich selbst bekomme ja gelegentlich für Zuspitzungen meine mediale Abreibung.Angesichts von Staatsgläubigkeit, Enteignungsfantasien und Bevormundung erwarten viele von uns Mut zum Widerspruch. Selbst dann, wenn man Shitstorms über sich ergehen lassen muss, wie in der Zuwanderungspolitik.

Wie wollen Sie sich in der Migrationspolitik von Union und SPD unterscheiden?

Lindner: Wir brauchen die Steuerung von Migration. Weltoffenheit und Toleranz darf man nicht trennen von Kontrolle andererseits. Fachkräften sollten wir die Einwanderung erleichtern, Migranten, die keinen Schutzstatus erhalten, müssen wir mit aller Konsequenz abschieben. Dazu ist ein Neustart nötig. Ein Aspekt wäre, dass wir an allen deutschen Grenzen Asylbewerber zurückweisen, wenn sie aus EU-Ländern einreisen. So sehen es die Dublin-Regeln vor.

Damit würden Sie Länder wie Italien und Griechenland mit dem Problem alleine lassen. Ist das der Plan?

Lindner: Nein, aber ohne andere Politik in Deutschland gibt es keine europäische Lösung. Im Gegenteil will die Bundesregierung jetzt 25 Prozent der Bootsflüchtlinge in Deutschland aufnehmen. Ich warne Frau Merkel davor, einer so hohen Quote zuzustimmen, denn wir haben über Jahre die Hauptlast in Europa getragen. Wir haben mit der Integration noch genug zu tun. Solche Quoten darf man nicht getrennt festlegen von einer insgesamt funktionierenden Migrationspolitik in Europa. Sonst droht Verlust von Kontrolle.

Diese Idee scheitert seit Jahren an den Osteuropäern.

Lindner: Deshalb brauchen wir einen neuen Ansatz. Die Europäische Union sollte Grenzschutz und Seenotrettung im Mittelmeer verantworten. Ich halte es nicht für sinnvoll, wenn nichtstaatliche Organisationen das übernehmen, wie jetzt die EKD mit einem Schiff. Wer gerettet wird, sollte nicht nach Europa gebracht werden, sondern zunächst an einen sicheren Punkt in Afrika. Dort muss mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen eine humanitäre Unterbringung erreicht werden. Von dort kann man dann Asylanträge stellen, die in Europa geprüft werden.

Glauben Sie, dass zurzeit zu viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen?

Lindner: Migration wird uns Jahrzehnte beschäftigen. Dafür müssen wir heute die Regeln schaffen.

Sie haben die Vielstimmigkeit der FDP erwähnt. Gehören dazu Querschüsse von Wolfgang Kubicki?

Lindner: Nein, da sehe ich keine Querschüsse. Wir sind ein gutes Team. Manchmal stößt er etwas zu weit vor, obwohl die Grundidee richtig ist. Ein Beispiel: Deutschland braucht eine andere Russland-Politik. Unser Interesse muss sein, dass sich die Eskalation eines Kalten Krieges nicht wiederholt, sondern wieder Kooperation möglich wird. Ich habe schon vor zwei Jahren gesagt, dass wenn wir mit neuem Dialog warten, bis die Krim-Frage komplett gelöst ist, es keine Bewegung geben wird. Seitdem wurde es nicht besser, sondern schlechter.

Russland hat die Krim völkerrechtswidrig besetzt, das wollen Sie ignorieren?

Lindner: Nein, den Völkerrechtsbruch kann man nicht akzeptieren. Deshalb gibt es Sanktionen. Aber es braucht ein Signal an Russland: Wenn Ihr von der Konfrontation zur Kooperation zurückkehrt, dann können am Ende Sanktionen Schritt für Schritt abgebaut werden.

Auch Ihre Thüringer Parteifreunde wünschen sich eine russlandfreundlichere Linie. Ist das auch Ihr Ziel?

Lindner: Ein Entgegenkommen ohne Gegenleistung halte ich für falsch. Aber eine Eskalationsspirale kann man auch nicht wollen. Von der Großen Koalition und den Grünen höre ich da nichts.

Sie wollen die FDP russlandfreundlicher als die SPD positionieren, in der in erheblichen Teilen das Ende der Sanktionen gefordert wird?

Lindner: Nein, diese SPD-Stimmen sind Appeasement. Die FDP steht aber anders als die große Koalition dafür, den Weg zum Dialog tatsächlich zu öffnen. Die Kanzlerin und Außenminister Heiko Maas haben US-Präsident Donald Trump widersprochen, der Russland zum G8-Treffen einladen wollte. Gäbe es einen liberalen Außenminister, dann hätte er gesagt: „Da sagt Trump mal etwas Richtiges.“ Das hätte politisch nicht viel gekostet, aber Bewegung gebracht. Mit Demütigungen erreicht man nichts.

Bei Russland warnen Sie vor Demütigungen – aber wenn Siemens-Chef Joe Kaeser zur Besonnenheit im Umgang mit China aufruft, kritisieren Sie ihn?

Lindner: Unsinn. Herr Kaeser nennt Donald Trump einen Rassisten. Aber gegenüber der chinesischen Regierung, die Minderheiten unterdrückt und in Hongkong Signale der Repression sendet, mahnt er zur Zurückhaltung. Das sind Doppelstandards, die ich nicht akzeptiere.

Ist der Vorwurf des Rassismus bei Donald Trump falsch?

Lindner: Darum geht es hier nicht. Wenn man Trump scharf kritisiert, kann man nicht dazu raten, sehr vorsichtig mit den Gefühlen der chinesischen Regierung umzugehen, wie das Herr Kaeser jetzt tut. Das passt nicht zusammen. Es ist eine Frage der Selbstachtung, dass wir uns zu unseren Werten bekennen.

Deutschland beginnt, in eine konjunkturelle Krise zu rutschen. Was haben Sie anzubieten, um eine Rezession abzuwenden?

Lindner: Die Boom-Zeiten sind nicht genutzt worden, um unser Land stärker zu machen, sondern der Wohlstand ist wie Kamelle im Karneval unter die Leute gestreut worden. Wir brauchen erstens eine Initiative für private Investitionen. Das geht nur über geringere Steuern und Sozialabgaben. Der Hebel dafür ist die vollständige Abschaffung des Soli – ausdrücklich auch für Leistungsträger sowie die gesamte Wirtschaft. Zweitens: Wir brauchen dringend öffentliche Investitionen in die Infrastruktur, in den Breitbandausbau. Das geht ohne neue Schulden, wenn man zum Beispiel die Staatsanteile an Telekom und Commerzbank verkauft. Drittens: Wir brauchen eine Klima- und Energiepolitik, die nicht Wohlstand zerstört, sondern Wohlstand schafft und die statt auf Auflagen und Verbote auf Erfindergeist setzt.

Wollen Sie auch Subventionen streichen? Etwa die sogenannte Mövenpick-Steuer, die von der schwarz-gelben Regierung eingeführte Mehrwertsteuererleichterung für Hotels?

Lindner: Wenn der Bundesfinanzminister einen Vorschlag zu einer grundsätzlichen Reform des Mehrwertsteuersystems macht, sehen wir uns das an. Die dicken Brocken liegen aber woanders. Allein an Subventionen für Erneuerbare Energien werden fast 30 Milliarden Euro von den Stromkunden gezahlt. Diese Planwirtschaft darf man nicht beim Klimapaket wiederholen.

Der Gesetzentwurf des Arbeitsministeriums zur Grundrente sieht die Streichung des Mövenpick-Steuerprivilegs ausdrücklich vor – und er ist mit Bundesfinanzminister Olaf Scholz abgestimmt.

Lindner: Ich warte einmal ab, ob das die Position der ganzen Bundesregierung wird.

Die FDP hat in den Wahlen seit der Bundestagswahl vor allem in der Gruppe der über 60-Jährigen stark verloren. Strafen Sie diese Menschen ab, weil Sie nicht in einer Jamaika-Koalition Regierungsverantwortung übernommen haben?

Lindner: Ja, bei den über 60-Jährigen haben wir deshalb Vertrauen verloren. Ältere Wähler werden nicht durch bunte Plakate abschrecken. Da gibt es Skepsis, weil wir einmal nicht Koalitionspartner der Union geworden sind. Die jüngeren Wähler kennen uns hingegen als eigenständige Kraft, die auf eigene Inhalte wie Digitalisierung und Bildung setzt.

Aus der Sicht vieler Menschen hat die FDP sich schlicht geweigert, Verantwortung anzunehmen. Schadet das Ihrer Partei nicht bis heute quer durch alle Wählergruppen?

Lindner: Das mag sein. Wir hatten 2017 die Wahl zwischen zwei schlechten Entscheidungen. Hätten wir Jamaika gemacht, dann hätten wir nichts von unseren Inhalten umsetzen können. Gleichzeitig war mir bewusst, dass sich alle über Jahre an uns abarbeiten würden, wenn wir Jamaika nicht machen. Am Ende haben wir uns für den harten Weg entschieden.

Warum haben Sie sich nicht zugetraut, in der Regierung etwas durchzusetzen?

Lindner: In NRW habe ich 2017 innerhalb von vier Wochen mit Armin Laschet eine Regierung gebildet. Im Bund hatten wir nach vier Wochen Sondierung nichts in der Hand. Die Union wollte die Grünen aus dem linken Lager in ein bürgerliches Bündnis einkaufen. Deshalb gab es Zugeständnisse nur an die Grünen. Wir wären Steigbügelhalter für Schwarz-Grün gewesen.

Gibt es eine Reset-Taste, die Sie drücken können – oder werden Sie das Thema nie mehr los?

Lindner: Das Jamaika-Thema wird bis zur nächsten Wahl und danach bleiben.

Fehlt zur Besserung womöglich, dass Sie einmal klar sagen, dass das Scheitern von Jamaika ein Fehler war?

Lindner: Es muss eine Partei geben, die sich nach einer Wahl noch an die Zusagen erinnert, die sie vor der Wahl gegeben hat. Wir tragen gerne Verantwortung, aber wir sind wie Union und Grüne eine eigenständige Partei. Wenn wir keine Inhalte umsetzen können, sondern nur schwarze und grüne Ideen schlucken müssen, was leisten wir denn dann?