Verwalter des Status quo gibt es genug

Christian Lindner
Handelsblatt

Herr Lindner, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist jung, sozialliberal und schwimmt auf einer Erfolgswelle. Was können Sie von ihm lernen?

Lindner: Macron beweist, dass man mit dem Mut zur Veränderung und mit Weltoffenheit Wahlen gewinnen kann. Das ist eine gute Nachricht. Denn im Jahr 2016 wurden Wahlen gewonnen mit dem Appell an Abschottung, Angst oder gar Hass. Das motiviert uns. Wir sehen uns ja auch als politischen Fortschrittsbeschleuniger. Verwalter des Status quo gibt es genug.

Frankreich geht es wirtschaftlich schlecht, Deutschland so gut wie nie. Sind da Reformen überhaupt gewollt?

Lindner: Die Ausgangslage ist nur zum Teil eine andere. Deutschland steht wirtschaftlich unter Drogen.

Was meinen Sie damit?

Lindner: Nehmen Sie den für Deutschland künstlich niedrigen Außenwert des Euros, die künstlich niedrigen Zinsen und die Rohstoffpreise. Die deutsche Wirtschaft ist gedopt. Das lässt uns einerseits stärker erscheinen, als wir tatsächlich sind. Andererseits erlaubt uns die Sonderlage, ohne große Schmerzen bis zum Ende des Jahrzehnts unser Land zukunftsfit zu machen. Jetzt wäre die Zeit für eine Agenda 2030. Den Arbeitsmarkt flexibler machen, weil dass die Beschäftigten wollen. Dazu innovativer und digitaler werden. Das Land braucht eine bessere Bildung und mehr Investitionen in die Glasfaser-Infrastruktur. Das alles ist möglich, nur: Es muss umgesetzt werden.

Das Wort Steuern haben Sie jetzt gar nicht erwähnt.

Lindner: Wir wollen die neue Balance zwischen Bürger und Staat - aber es geht uns eben nicht nur um Steuern. Die Ankündigung von Wolfgang Schäuble zur Entlastung ist geradezu eine Verhöhnung der Bürger, wenn man sich die prognostizierte Entwicklung der Steuern bis 2021 anschaut. Finanzierbar ist die Abschaffung der Stromsteuer, weil davon alle profitieren. Der Solidaritätszuschlag kann 2019 entfallen. Investitionen stärken wir mit anderen Abschreibungsregeln und dem Ende der Diskriminierung der Finanzierung über Eigen- statt Fremdkapital. Bei der Grunderwerbsteuer muss es einen Freibetrag von 500 000 Euro für das Eigenheim einer Familie geben. Eigentum darf kein Luxus sein, und das mietfreie Wohnen im Alter ist die beste Versicherung gegen Armut. Wir haben die CDU für unsere Idee gewonnen, deshalb wird NRW dazu bald eine Bundesratsinitiative ergreifen.

Die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende hat nach den drei gewonnenen Landtagswahlen die Devise ausgegeben: nur keine Euphorie aufkommen lassen. Die Bundestagswahl ist noch nicht gewonnen. Denken Sie auch so – der Wiedereinzug in den Bundestag ist trotz aller Wahlerfolge noch lange nicht in trockenen Tüchern?

Lindner: Die Zeit bis zur Bundestagswahl ist fast so lang wie die Zeit von der Nominierung des SPD-Kanzlerkandidaten bis heute. Was hat sich in dieser Zeit nicht alles geändert. Bei der CDU habe ich allerdings einen anderen Eindruck gewonnen.

Welchen?

Lindner: Durch die Entzauberung von Martin Schulz greifen in der CDU wieder alte Gewohnheiten um sich. Als Schulz noch als ernst zu nehmende Bedrohung in der Machtfrage begriffen worden ist, hatte man den Eindruck, da entsteht ein couragiertes Programm. Jetzt wirkt Schulz wie aus der Zeit gefallen, und alle marktwirtschaftlichen Kräfte erlahmen. Ich stelle mir schon die Plakate mit Frau Merkel vor, auf denen steht: „Sie kennen mich ja.“

Wird dafür der „Schulz-Zug“ bald wieder rollen?

Lindner: Die SPD wird in den Umfragen nicht wieder auf solche Werte kommen wie zu Anfang des Jahres. Umso bedauerlicher, dass mit abnehmenden Umfragewerten der SPD auch der Reformmut der Union abnimmt. Die Lücke werden wir zu füllen haben.

Wo würden Sie sich denn mehr Engagement der CDU wünschen?

Lindner: Einige bundespolitische Impulse werden wir von Nordrhein-Westfalen aus setzen. Die neue Koalition aus FDP und CDU hat erstens verabredet, dass wir eine Initiative im Bundesrat für ein Einwanderungsgesetz ergreifen. Zuwanderung in den Arbeitsmarkt und humanitärer Schutz brauchen neue Regeln. Zweitens machen wir uns auch im Bund für eine marktwirtschaftliche Energiepolitik ohne Subventionen stark. Im Land werden wir den ideologischen Zubau der Windkraft in NRW in vernünftige Bahnen lenken, um Landschaften zu schützen und Kosten unter Kontrolle zu bringen.

Was planen Sie in Nordrhein-Westfalen in den Bereichen Digitalisierung und Bildung, zwei weitere Schwerpunktthemen der FDP?

Lindner: Um nur zwei Dinge zu nennen: Wir wollen im Jahr 2025 eine digitalisierte Verwaltung erreichen und sieben Milliarden Euro für den Ausbau einer Gigabit- Infrastruktur mobilisieren – Stichwort Glasfaser first. Gerade im ländlichen Raum dürfen Mittelstand und freie Berufe nicht abgeschnitten werden.

Im Bereich Bildung wollen Sie in Nordrhein-Westfalen Studiengebühren für Studierende aus Nicht-EU-Ländern einführen. Vergrault die FDP damit nicht gerade junge Wähler, wenn sie Bildung nur noch gegen Bezahlung ermöglicht?

Lindner: Die Studienbedingungen sind in Nordrhein- Westfalen katastrophal. Wir haben zur Qualitätsverbesserung Studienbeiträge vorgeschlagen, die erst nach dem Berufseintritt nachträglich zu zahlen wären. Das wollte die CDU nicht, Alternativen hatte sie aber auch nicht. Also gehen wir einen neuen Weg, dass Studierende ohne Pass eines EU-Mitgliedslandes einen Beitrag leisten. Großzügige Ausnahmen sehen wir vor. Aber es ist nicht einsehbar, dass ohne Prüfung von Talent oder Bedürftigkeit die Kinder von chinesischen Millionären kostenfrei studieren. Ich halte es für nicht verantwortbar, wenn Politiker wie Herr Schulz Gratis-Bildung für jeden versprechen, ohne über Qualität und Finanzierung zu sprechen.

Was ist denn der Unterschied zwischen Schulz-Hype und dem Lindner-Hype?

Lindner: Welcher Lindner-Hype?

Vor vier Jahren hätte doch keiner einen Euro auf den Wiedereinzug der FDP in den Bundestag verwettet. Heute gelten Sie als Königsmacher für alle verschiedenen Regierungskonstellationen ...

Lindner: Ich nehme das nicht so wahr. Wir sind seit vier Jahren außerparlamentarische Opposition. Da fühlen Sie keinen Hype, wenn Sie jeden Tag durch das Land reisen.

Könnten die Koalitionsverhandlungen in NRW als Blaupause für den Bund dienen?

Lindner: Nein, im Bund ginge es um ganz andere Themen. Übrigens, ein großer Vorteil ist, dass es in NRW keinen Futterneid zwischen beiden Partnern gibt.

Was meinen Sie damit?

Lindner: 2009 hat die FDP auf Kosten der CDU ein Rekordergebnis erzielt. Das hat die Union immer gewurmt, weshalb es keine wechselseitige Großzügigkeit gab. Jetzt in NRW hat die CDU vor unserer Wahl gewarnt und sogar gegen uns Wahlkampf gemacht. Wir haben als eigenständige Partei gewonnen, die CDU ebenso. Diese Kollegialität merkt man bei den Verhandlungen, die bislang reibungslos verlaufen. Wir haben mit der CDU von Frau Merkel auch sicher mehr Unterschiede in der Sache als mit der CDU in Nordrhein-Westfalen.

Wer ist denn auf Bundesebene weiter weg von der FDP, die SPD oder die Union?

Lindner: Eine Partei, die die Agenda 2010 rückabwickeln will wie die SPD, entfernt sich natürlich weiter von der FDP als die CDU, die nur auf dem aktuellen Stand stehen bleiben will. Ich habe es mal auf die Formel gebracht: Schulz will die Agenda 1995, Merkel verteidigt die Agenda 2010, und die FDP will die Agenda 2030 - daran sieht man ja, wem wir näher sind. Aber nicht nur die SPD, auch die Grünen entfernen sich in der Sache immer weiter von der FDP. Wir werden ihnen da aber nicht hinterherlaufen. Im Zweifel gehen wir in die Opposition.

Sie hatten angekündigt, dass Sie in Nordrhein-Westfalen die FDP-Mitglieder über mögliche Koalitionen abstimmen lassen. Wann soll das passieren?

Lindner: Wir werden am Freitag den Koalitionsvertrag vorstellen, dann beginnt die Mitgliederbefragung. Eine Woche lang können unsere Mitglieder online über den Vertrag abstimmen – ein Novum.

Wollen Sie eine solche Mitgliederentscheidung über eine mögliche Koalition auch auf Bundesebene?

Lindner: Ja, ich werde ein solches Vorgehen auch der Bundes-FDP vorschlagen. Wir haben es in NRW so gemacht: Erstens gab es keine Koalitionsaussage, weil wir eigenständig sind. Zweitens haben wir aber kurz vor der Wahl zehn Projekte definiert, die uns wichtig sind. Daran konnte jeder sehen, dass auch ohne formalen Ausschluss Rot-Gelb unter Hannelore Kraft unwahrscheinlich war. Und drittens treten wir nur in eine Regierung mit der CDU ein, wenn der Entwurf eines Koalitionsvertrages von unserer Parteibasis gebilligt wird.

Warum gehen Sie so ein Risiko ein? Abstimmungen verlaufen ja auch oft so, wie man sie nicht erwartet, die britische Premierministerin Theresa May zum Beispiel weiß das inzwischen.

Lindner: Ich fürchte die Beteiligung unserer Mitglieder nicht. Im Gegenteil, ich halte sie für eine Rückversicherung, damit unser Profil in der Regierung hinreichend sichtbar ist. Diese Basisbeteiligung zeigt übrigens, dass und wie die Freien Demokraten sich verändert haben. Bei uns entscheiden nicht wenige, sondern alle. Das macht die Mitgliedschaft bei uns attraktiver.

Die erste Bewährungsprobe für die mögliche neue schwarz-gelbe Koalition in Nordrhein-Westfalen könnte die Entscheidung über Bürgschaften für die angeschlagene Fluggesellschaft Air Berlin sein, die einen entsprechenden Antrag in Berlin und Düsseldorf gestellt hat. Wie würde Ihre Antwort aussehen?

Lindner: Für mich zeigt sich keine unternehmerische Perspektive, die Bürgschaften erlauben würde. Mit der Tui und der Lufthansa stehen Optionen ohne den Staat im Raum, die im Interesse von Beschäftigten und Kunden wären. Etihad will offenbar seine Schulden auf die deutschen Steuerzahler abwälzen. Eine Marktwirtschaft ohne Haftung geht mit der FDP nicht.