Unser Auftrag ist es, für neue Vernunft zu sorgen

Christian Lindner
Rheinische Post

Sie kommen gerade von den Sondierungen zu Bildung und Digitalem – Schwerpunkte Ihres Wahlkampfes. Können Sie Erfolge melden?

Lindner: Es gibt ein gemeinsames Verständnis, dass Bildung neue Priorität bekommen und dass Deutschland die Digitalisierung mit mehr Tempo angehen muss. Unsere Anregung ist dabei, das lebensbegleitende Lernen zu fördern und neu zu organisieren, um den Menschen Sicherheit im Wandel zu geben. Das ist die beste Antwort auf Angst vor Arbeitslosigkeit. Uneinig sind wir uns beim Bildungsföderalismus. Wir wollen mehr Vergleichbarkeit und gesamtstaatliche Finanzierung, das wird bei der Union traditionell anders gesehen.

Sehen Sie einen Korridor für Einigungen?

Lindner: Ja, aber es wird bei Bildung und auch bei der Digitalisierung noch konkreter werden müssen. Wir brauchen fairen Wettbewerb zwischen Mittelstand und Multi-Milliarden-Dollar-Konzernen, einen schnelleren Ausbau der digitalen Infrastruktur und wir müssen die Rahmenbedingungen verbessern, dass wir mehr hochinnovative Gründer bekommen, die neue Arbeitsplätze schaffen.

Wo hakt es bei den anderen Themen besonders?

Lindner: Große Unterschiede haben wir weiterhin bei Energie und Einwanderung. Die FDP bekennt sich zum Klimaschutz. Aber wir haben die Frage, wie die CO2-Einsparziele für das Jahr 2020 ohne soziale Härten und ohne Verlust an Versorgungssicherheit erreicht werden sollen. Da geht es nicht um Politik, sondern um Physik.

Wie findet man zueinander, wenn es so unterschiedliche Wähleraufträge etwa beim schnellen Ende von Verbrennungsmotoren gibt?

Lindner: Zunächst muss man sich über das Ziel verständigen. Für die FDP sind Energiekosten, Energiesicherheit und Klimaschutz gleichrangig. Die bisherige Energiepolitik hat durch hohe Subventionen die Preise steigen lassen, zugleich aber beim Klimaschutz nichts gebracht. Unser Auftrag ist es, für neue Vernunft zu sorgen. Dafür brauchen wir Innovation und Technologie-Offenheit. Wir sind bereit, über alles zu reden, was die Energie für die Menschen sicher und wieder günstiger macht und die Akzeptanz der Energiewende erhält. Die Menschen sehen Windräder kritisch, wenn der Landschaftsschutz gefährdet ist, ohne dass ein sinnvoller Beitrag zur Energieversorgung geleistet wird. Darauf muss die Politik achten.

Die CSU sieht die Sondierungen von Jamaika erst am Anfang; man sei über das Studium der Reisekataloge noch nicht hinaus. Ist das auch Ihr Eindruck?

Lindner: Tatsächlich sind wir noch vor notwendigen Klärungen. Für die FDP ist zum Beispiel klar, dass Deutschland eine andere Einwanderungspolitik bekommen muss. Das ist die Botschaft des Ergebnisses der Bundestagswahl. Wir haben mit Respekt die Bewegung bei CDU und CSU wahrgenommen. Was die Union als ihren Kompromiss zur Ordnung in der Einwanderung vorgestellt hat, entspricht an vielen Stellen dem, was wir vor der Wahl gefordert haben. Für Flüchtlinge wollen wir die Zeit des Aufenthalts jedoch klarer begrenzen, die Hürden für qualifizierte Einwanderer wären bei den Ideen der Union nach unseren Vorstellungen zudem noch zu bürokratisch. Die größten Unterschiede sehe ich aber unverändert zu den Grünen.

Also ein Appell an die Grünen, sich hier zu bewegen?

Lindner: Die Grünen vertreten insbesondere beim Familiennachzug Positionen, für die sie bei der großen Mehrheit der Bevölkerung gegenwärtig keine Akzeptanz finden. Deutschland ist an der Grenze dessen, was die Mehrheit an humanitärer Hilfe bereitstellen will. Wir sind zudem an der Grenze dessen, was an Integration, etwa in Schulen und beim Wohnraum, geleistet werden kann. Realismus kann man keiner Koalitionsbereitschaft opfern.

Jens Spahn bringt das Ende der Rente mit 63 auf die Tagesordnung. Wie stehen Sie dazu?

Lindner: Spannender wäre doch zu wissen, wie die CDU dazu steht. Wir haben die Rente mit 63 stets kritisch gesehen, weil wir ein anderes Rentensystem mit mehr Flexibilität wollen.

Bekommen Sie das mit den Sondierungspartnern hin?

Lindner: Dafür ist es noch zu früh. Wir wollen Flexibilität statt Stilllegungsprämien für hochqualifizierte Fachkräfte. Die Menschen sollen selbst bestimmen, wann sie in den Ruhestand eintreten und welche neuen Beschäftigungsformen sie wollen. Natürlich kann ein Dachdecker mit Mitte 60 nicht mehr auf dem Dach stehen, aber er kann weiter ausbilden, wenn er das möchte. Wir müssen darüber sprechen, was für die Menschen attraktiv ist.

In Düsseldorf gibt es Schwarz-Gelb, in Wiesbaden Schwarz-Grün, in Kiel Schwarz-Gelb-Grün. Hilft das, wenn einige der Sondierer miteinander schon mal erfolgreich waren?

Lindner: Auf der Bundesebene geht es um ganz andere Fragen. Weder in Düsseldorf noch in Wiesbaden oder in Kiel wird über die weitere Entwicklung der Europäischen Union entschieden. Das aber ist ein Schlüsselthema für die Sondierungen. Die FDP möchte, dass wir die Chance, die sich mit der Wahl von Macron in Frankreich ergeben hat, nun aktiv nutzen. Beispielsweise sollten wir für die Streitkräfte eine europäische Lösung finden. Das ist der positive Nebeneffekt des Brexits: Die Bremser der verstärkten Sicherheits-Zusammenarbeit sind weg. Jetzt können wir herangehen an die Stärkung von Europol zur Kriminalitätsbekämpfung und an neue Verteidigungsstrukturen. Dafür gibt es große Gemeinsamkeiten unter den Verhandlern.

Auch beim Geld?

Lindner: Uns geht es um die finanzpolitische Eigenverantwortung jedes Staates. Wir wollen gerne Investitionen im Euro-Raum erleichtern. Falls dafür Geld fehlt, können wir darüber sprechen. Aber gemeinsame Haftung, gemeinsame Risiken, egal ob bei den Staatsschulden oder den Einlagen unserer Sparkassen, Volksbanken oder privaten Banken, da gibt es für die FDP keine Bewegungsmöglichkeit.

Hat sich Ihr Blick auf das Finanzministerium verändert?

Lindner: Nein, das Finanzministerium ist ein Schlüsselressort. Bei Jamaika in Kiel hat eine der kleineren Parteien dieses Haus übernommen. Das wäre auch im Bund ratsam, denn das verbessert in einer Koalition die Abstimmungen und vermeidet Konflikte. Entscheidend bleibt jedoch, dass sich die Finanzpolitik ändert. Es wäre ökonomisch klug und im Interesse der Glaubwürdigkeit der Politik, komplett auf den Solidaritätszuschlag zu verzichten. Unabhängig davon könnte eine Reform der Einkommensteuer erfolgen, durch die eine Entlastung auf Familien aus der Mittelschicht konzentriert werden kann. In diesen Fragen gibt es aber keine Einigkeit.

Was kristallisiert sich als zentrale Botschaft einer Jamaika-Koalition heraus?

Lindner: Dazu ist es zu früh. Nach der Großen Koalition müsste aber die Zeit der Verwaltung des Status quo beendet werden. Darin stimmen wir mit den Grünen überein, aber die Richtung der Veränderung ist noch nicht dieselbe. 

Motto von Jamaika wäre „Deutschland neu gestalten“?

Lindner: Das weiß ich nicht. Aber jede neue Regierung müsste sich auf diesen Kurs machen, denn die Reformeffekte der Agenda 2010 sind verbraucht und müssen erneuert werden. Ich halte übrigens wenig von dieser Jamaika-Metapher. Besonders, wenn man sich die wirtschaftlichen Kennzahlen des Inselstaates anschaut. Ich bevorzuge das „Kleeblatt“: Vierblättrige Kleeblätter sind selten, aber wenn man sie findet, ein Glücksfall.

Sie haben während der Sondierungen von der Sommer- zur Winterzeit gewechselt. Zum letzten Mal?

Lindner: Wenn ich es entscheiden könnte, wäre es das letzte Mal. Aber so lästig die Umstellung auch ist, es gibt wichtigere Themen.

Nach so vielen Stunden mit denselben Verhandlern – wem möchten Sie an Halloween Süßes, wem Saures geben?

Lindner: Man fährt gut damit, Süßes und Saures gerecht zu verteilen. Wir haben zu jedem aus den anderen drei Parteien Gemeinsamkeiten und Trennendes.

Jürgen Trittin sollte ursprünglich nicht dabei sein – welchen Eindruck haben Sie von ihm?

Lindner: Das ist ein professioneller Verhandler. Bei der Notwendigkeit einer finanziellen Entlastung der Mitte und dem Verzicht auf Schulden ist er nicht restlos überzeugt. Andererseits hat er die Forderung des linken Flügels der Grünen nach Vermögens- und mehr Erbschaftsteuer gar nicht vorgebracht. Ich schätze diesen neuen Realismus.

Wenn Sie Ende der Woche einen Schluss ziehen: Kann es gelingen?

Lindner: Derzeit werden unsere Gespräche geprägt von Obersätzen, unter die wir schreiben, um welche Themen es im Einzelnen geht. In der ersten Phase sind wir noch gar nicht an die Lösung von Konflikten herangekommen. Deshalb sehe ich die Chance für Jamaika immer noch bei Fifty-Fifty. Es läuft zwar atmosphärisch besser und konstruktiv und an mancher Stelle auch mit gemeinsamen Überzeugungen, aber ob die unterschiedlichen Programme und der teils widersprüchliche Wählerwille zusammengebaut werden können, wird auch am Ende dieser Woche endgültig noch nicht zu sehen sein.