Uns ist Futterneid fremd

christian Lindner
Gießener Allgemeine

Herr Lindner, heute Morgen war in Zeitungen zu lesen, dass es bald Veränderungen an der FDP-Parteispitze geben werde. „Frauen vor“ ist offenbar das Credo. Frau Beer aus Hessen soll demnach stellvertretende Parteichefin werden? Stimmt das? Was ist denn konkret geplant?

Lindner: Das ist eine Spekulation Ihrer Kollegen. Es gibt noch nichts, nicht mal Planungen. Über die personelle Aufstellung sprechen wir im kommenden Frühjahr. Nicola Beer ist unsere Spitzenkandidatin für die Europawahl. Auf diese Wahl konzentrieren wir uns. Sie wird eine Schicksalswahl für unseren Kontinent. Wir wollen dabei die Mitte stärken. Die FDP ist die einzige proeuropäische Partei der Mitte, die auf Freiheit, wirtschaftliche Vernunft und Vielfalt setzt. Es gibt noch eine andere durchgängig proeuropäische Partei in Deutschland – und das sind die Grünen. Aber die Grünen sind eine linke Partei, die auf Steuerung und Vereinheitlichung setzt. Alle anderen Parteien haben ein mehr oder weniger gestörtes Verhältnis zu Europa. Denken sie alleine an CDU und CSU, die in einer Parteienfamilie mit Viktor Orban zusammen sind. 

Die FDP liegt bei aktuellen Umfragen zwar bei rund zehn Prozent – wie auch die Linke. Aber die Grünen und auch die AfD würden deutlich besser abschneiden. Warum sind diese beiden Parteien aktuell so stark?

Lindner: Uns ist Futterneid fremd. Und ich schaue lieber auf meine eigene Partei. Die FDP ist eine ganz besondere Partei, wir haben ein tendenziell angelsächsisches Bild vom Menschen und der Gesellschaft. Das heißt, wir trauen dem einzelnen Menschen sehr viel zu. Wir wollen ihn stark machen durch Bildung. Und wir wünschen uns einen Staat, der Partner und Schiedsrichter ist. In Deutschland ist oft genug der Staat der Sehnsuchtsort für alles. Der auch genutzt wird. Von den Grünen als Erzieher. Von den Schwarzen als Aufpasser und Kontrolleur. Und von den Roten als Nanny. Das finden in Deutschland viele mehrheitlich gut. Die, die es nicht so toll finden, für die machen wir ein Angebot. Und wenn das bereits jeder zehnte ist, ist das gar keine schlechte Nachricht für uns. 

Die Volksparteien sind schwach, die Kleinen werden größer. Was passiert da gerade?

Lindner: Wir werden Zeugen einer enormen Schwäche der Sozialdemokratie. Die SPD verliert die Lehrerzimmer an die Grünen und die Menschen in den Montagehallen an die AfD. Die Grünen bieten derzeit interessantes Marketing. Sie treten sehr smooth auf – und nicht mehr so wie die alte Verbotspartei. Im Programm aber sind die alten Inhalte immer noch vorhanden. Von höheren Steuern über Verbote bis hin zu Quoten ist alles noch da. Mein Kollege Robert Habeck kann die Schwäche links der Mitte im Parteiensystem gut für sich nutzen. Unter dem Aspekt des politischen Marketings ist das handwerklich mitunter gut gemacht. Aber bei den Inhalten, im Kleingedruckten, lauert dann für viele Wähler die Enttäuschung. 

Die Volksparteien Union und SPD kommen aktuell zusammen nur noch auf knapp über 40 Prozent. Die kleineren Parteien kommen zusammen auf über 50 Prozent. Freut Sie das – oder ist das der Anfang einer Erosion, die dazu führt, dass unser Land unregierbar wird?

Lindner: Ich sorge mich generell um die Stabilität des Landes und um unsere politische Kultur. Ich muss mich jetzt aber nicht um andere Parteien sorgen, das wirkt schnell auch wohlfeil oder gönnerhaft. Das können diese Parteien alles schon selber, sie brauchen keine Ratschläge. Meine Sorge um die Stabilität begründet sich eher damit, dass offensichtlich die Probleme nicht mehr gelöst werden. Es wird zu viel über Randthemen gesprochen – zum Beispiel über Verrfassungsschutzpräsident Maaßen, die Parteienfinanzierung, über Managergehälter. Die Themen der Mitte – also Bildung, vernünftige Straßen, geschlossene Funklöcher, Sicherheitsfragen – werden nicht gelöst. Und vor allem spielt man der AfD immer wieder die Bälle zu, weil die regierenden Parteien offensichtlich die Probleme in der Migrationspolitik nicht lösen. Insbesondere die Grünen sind gegenwärtig dabei, aktive Wahlhilfe für die AfD zu leisten, weil sie die Einstufung von Marokko, Algerien und Tunesien zu sicheren Herkunftsländern blockieren.

Der FDP wurde jahrelang das Etikett »Wirtschaftspartei« verpasst. Für was steht denn die Partei von heute?

Lindner: Wir sind eine Freiheits- und Zukunftspartei, aber wir schämen uns auch nicht dafür, dass wir wirtschaftlichen Sachverstand haben. Gerade in diesen Zeiten, in denen wir sehen, dass das wirtschaftliche Umfeld durch Donald Trump, Brexit, Digitalisierung und die Alterung der Gesellschaft schwieriger wird, könnte man sich dieses Themas ja wieder annehmen. Andere verteilen nur den Wohlstand, wir sehen schon, dass wir ihn auch erwirtschaften müssen.

Vor gut einem Monat haben sie in einem Interview mit der »Zeit« gesagt: »Jeder andere Spitzenkandidat, den die Union kürt, würde es besser machen als Angela Merkel.« Das ist ein vernichtendes Urteil. Stehen Sie noch dazu? Und wo sind denn die potenziellen neuen Spitzenkandidaten in der Union? Selbst mit einem sehr guten Fernglas sieht man keine Bewerber …

Lindner: Das ist ein viel weniger vernichtendes Urteil, als sie es jetzt kommentiert haben. Meine Einschätzung fußt auf der Erfahrung aus den Gesprächen mit Angela Merkel im vergangenen Jahr. Und es sind die Erfahrungen, die jetzt CSU und SPD mit der Kanzlerin machen. Frau Merkel ist 13 Jahre im Amt. Ein Spitzenpolitiker, eine Regierungschefin ist nach mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr wirklich bereit, neue Kapitel aufzuschlagen oder alte Fehleinschätzungen zu korrigieren. Und aus dem Grund ist jeder, der frisch ins Amt kommt, besser – weil es dann eben eine Bereitschaft zu frischem Denken und neuen Anfängen gibt. Ich bin deshalb auch der Meinung, dass man die Legislaturperiode des Bundestages auf fünf Jahre verlängern sollte, um den Dauerwahlkampf zu reduzieren. Und zugleich die Wiederwahl der Regierungschefs auf einmal – also zehn Jahre im Amt – beschränken sollte. Adenauer und Kohl haben auch ihre historischen Verdienste. Aber sie haben ebenfalls den richtigen Zeitpunkt zum Absprung verpasst. 

Herr Lindner, wie lange geben Sie der großen Koalition noch? Halten Union und SPD durch bis 2021?

Lindner: Wir sind jederzeit bereit für Neuwahlen. Aber ich rechne nicht damit. Ich glaube, dass der Abnutzungskrieg zwischen Frau Merkel und Herrn Seehofer noch ein bisschen anhalten wird. Ich erwarte aber auch keinen großen Aufbruch mehr, was bedauerlich ist, denn unser Land hat keine Zeit zu verlieren. 

Was geht im Bund und in den Ländern im Blick auf mögliche Koalitionen mit der FDP? Wo sagen Sie nein?

Lindner: Für uns ist eine Zusammenarbeit mit allen Parteien aus dem Zentrum des demokratischen Systems möglich. Wir regieren – in unterschiedlichen Konstellationen – mit CDU, SPD und Grünen in drei Bundesländern. Es kommt immer auf die Konstellationen und die Inhalte an. Wenn eine faire Partnerschaft begründet wird, in die jeder auch seine Aspekte einbringen kann, dann sind wir schon seit Jahrzehnten bereit, Verantwortung zu übernehmen. Aber wir regieren nicht um jeden Preis. Und wir übernehmen nicht Ministerämter, bei denen wir die Reden anderer Parteien vorlesen müssen. Ganz konkret: In Hessen brauchen wir eine Offensive für bessere Bildung. Hessen muss sich hier nicht mit Bremen, sondern mit Nordamerika und mit asiatischen Staaten vergleichen. Und Hessen braucht mehr wirtschaftliche Vernunft, eine Befreiung von Mittelstand und Industrie von übertriebener Bürokratie, eine Stärkung des Finanzplatzes und mehr Investitionen in die Infrastruktur. Das gab es unter Schwarz-Grün fünf Jahre nicht. CDU und Grüne haben sich dafür gerühmt, geräuschlos regiert zu haben. Auch deswegen, weil Herr Al-Wazir überwiegend die Maßnahmen durchgeführt hat, die sein Vorgänger von der FDP nach der Wahl in die Schublade legen musste. 

Bleibt noch die brandaktuelle Sonntagsfrage: Wie geht’s aus in Hessen? Wer wird uns in den nächsten fünf Jahren regieren? Wagen Sie eine Prognose 

Lindner: Wer wagt heutzutage seriöserweise noch eine klare Prognose? Vieles ist im Fluss. Was ich sagen kann: Die FDP-Veranstaltungen sind alle sehr gut besucht, die Säle sind voll. Das ist ein neues FDP-Gefühl. Wir kannten vorher nur die Situation, dass wir vor Wahlen Sitzplätze frei hatten, aber nach den Wahlen keine Sitze im Parlament. Jetzt scheint sich das umzukehren. Wichtig wird die Frage der Regierungsbildung sein. Für mich ist klar: Ich sehe nicht, dass es noch eine schwarz-grüne Mehrheit im Land gibt. Deshalb kommt es auf die FDP an. Wenn wir stark sind, werden wir eine wichtige Rolle spielen. Wir Freie Demokraten wären bereit, eine Regierung nach dem Modell Schleswig-Holstein zu prüfen. Die Alternative dazu wäre ein Linksrutsch, also Grün-Rot-Rot. Und vor Grün-Rot-Rot kann man nur warnen. Das abschreckende Beispiel heißt Land Berlin. Auch in Baden-Württemberg zeigt sich, dass ein Land unter grüner Führung nicht vorankommt. Hessen braucht nach fünf Jahren Stillstand keinen Linksruck – sondern einfach mehr Tempo.