Nicht jede Bar kann öffnen, aber der Italiener um die Ecke schon

Christian Lindner
T-online

Lesedauer: 6 Minuten

 

Herr Lindner, die Corona-Maßnahmen werden verlängert und verschärft – wie finden Sie das?

Lindner: Das Gute ist nicht neu, das Neue ist nicht gut.

Wie meinen Sie das?

Lindner: Die wesentlichen und wirksamen Maßnahmen sind die Beschränkung von Kontakten und die Regeln zu Abstand, Maske und Hygiene. Das ist und bleibt richtig. Aber vieles von dem, was jetzt verlängert oder verschärft wird, ist kaum wirksam und daher nicht notwendig. Und was wirklich helfen würde, wie der besondere Schutz der Risikogruppen, bleibt unterbelichtet.

Was stört Sie konkret?

Lindner: Natürlich ist jetzt nicht die Zeit für Großveranstaltungen und ausgelassene Partys. Aber pauschale Schließungen in der Gastronomie, der Kultur, beim Sport und die Beschränkungen beim Handel halte ich nicht für erforderlich. Mit strengen Hygienekonzepten halte ich hier einen Betrieb unter Bedingungen der Pandemie für verantwortbar. Mit der jetzigen Krisenstrategie sehe ich nicht, wie wir vor dem Frühling des kommenden Jahres das Land wieder hochfahren könnten.

Mancher mutmaßt jetzt, dass die Lockerung der Maßnahmen um Weihnachten für einen ökonomischen Boom sorgen soll. Trifft das zu?

Lindner: Ich habe die Kommentare auch gelesen, ob der Kaufrausch wichtiger sei als Weihnachten. Angesichts der wirtschaftlichen Existenzsorgen vieler Menschen halte ich das für zynisch. Es sind auch keine Alternativen, denn Gesundheitsschutz und öffentliches Leben wären vereinbar. Die Einschränkungen beim Handel sind nicht überzeugend.

Inwiefern?

Lindner: Die Grenze von 800 Quadratmetern ist erneut willkürlich gegriffen. Es gab sie ja schon einmal, dann haben Gerichte sie verworfen. Damit wird Einkaufen im stationären Einzelhandel unattraktiver und die Innenstädte veröden, während die Marktanteile des Onlinehandels weiter steigen. Was sollen neue Zutrittsbeschränkungen bringen? In den Geschäften gilt bereits die Maskenpflicht, bald sogar auf dem Parkplatz und der Straße davor. Da müsste man eher dafür sorgen, dass die Qualität der Masken besser wird, beispielsweise, indem für die Bevölkerung flächendeckend FFP2-Masken zur Verfügung stehen.

Halten Sie es für richtig, dass sich die jeweiligen Maßnahmen an der Zahl von Neuinfektionen bemessen?

Lindner: Sie gibt eine Orientierung, aber allein ist sie zu wenig. Denn sie hat als Bezugspunkt die Personalsituation im öffentlichen Gesundheitsdienst. Neben der reinen Infektionszahl sollten wir auch andere Kriterien berücksichtigen, die Demografie der Infizierten zum Beispiel oder die Auslastung der Intensivkapazitäten.

In Asien, wo die Corona-Pandemie auch stark verbreitet war, werden schon wieder Partys gefeiert, weil das Infektionsgeschehen eingedämmt wurde. Kann Deutschland etwas davon lernen?

Lindner: Die Länder dort haben andere Voraussetzungen, Südkorea oder Taiwan zum Beispiel, wo es eine gewisse Insellage gibt. Die Gesellschaften dort sind besser mit der Gefahr von Pandemien vertraut. Ich schaue lieber nach Finnland oder Norwegen. Dort können wir möglicherweise Aspekte übernehmen.

Sie üben ja reichlich Kritik an der Bundesregierung. Wenn Christian Lindner in Deutschland Bundeskanzler wäre – wie sähe dann die Pandemiebekämpfung aus?

Lindner: Erstens: Weiterhin Kontaktbeschränkungen und Hygieneregeln im Alltag …

… also genau so, wie es aktuell auch ist.

Lindner: Zweitens: Viel besserer Schutz der Risikogruppen. Markus Söder hat mit Blick auf die täglichen Todeszahlen gesagt, jeden Tag stürze ein Flugzeug ab. Ich halte dieses Sprachbild in vieler Hinsicht für problematisch. Aus den Zahlen muss man aber die richtigen Konsequenzen ziehen. Die Statistik zeigt, dass schwere oder tödliche Krankheitsverläufe vor allem bei Menschen mit Vorerkrankung oder höherem Lebensalter zu beklagen sind. Also müssen wir dort schützen, statt pauschal das Land in den Stillstand zu bringen. Die Bundesregierung hat unsere Anregung, dass FFP2-Masken für Risikogruppen zur Verfügung gestellt werden, zum Glück aufgenommen. Das reicht aber nicht.

Was würde reichen?

Lindner: Ich bin für Schnelltests beim Zugang zu Altenpflegeheimen, exklusive Zeitfenster beim Einkauf, Nachbarschaftshilfe, Taxi-Gutschein statt engem Stehen im Bus. Die Qualität der Krisenpolitik zeigt sich nicht an der Strenge der Maßnahmen für alle, sondern an der Wirksamkeit des Schutzes für die wirklich Gefährdeten. Dritter Punkt: Überall dort, wo Schutzmaßnahmen wirksam möglich sind, sollen Behörden die Öffnung genehmigen können. Vielleicht kann nicht jede Bar öffnen, aber der Italiener um die Ecke schon. Viertens braucht es regionale Differenzierung. Wenn in Schleswig-Holstein die Pandemie schon heute unter Kontrolle ist, dann muss dort mehr geöffnet werden können als in Bayern bei Herrn Söder, wo die Zahlen noch Anlass zur Sorge geben. Eine einfache Maßnahme könnte die Bundesregierung aber jetzt schon umsetzen.

Welche?

Lindner: Jetzt kommen wir in den Dezember, wo alle Maßnahmen verlängert werden – aber die Novemberhilfen wurden teilweise noch gar nicht bezahlt. Deshalb sollte für die Dezemberhilfen gar kein zweiter, neuer Antrag gestellt werden müssen. Unbürokratisch sollte Betroffenen einfach die doppelte Novemberhilfe ausgezahlt werden. So wird der Mittelstand davor bewahrt, noch weiter in die Zahlungsunfähigkeit zu geraten.

Ihr Rückhalt in Deutschland ist aber überschaubar: Die FDP pendelt in den Umfragen zwischen fünf und sieben Prozent.

Lindner: Wir orientieren uns nicht an Umfragen, sondern an Wertvorstellungen. Wir haben eine höhere Sensibilität für Freiheitseingriffe als andere. Wir haben eine Vorstellung davon, wie wir Arbeitsplätze sichern und dieses Land aus dem drohenden Schuldensumpf wieder auf einen Wachstumspfad führen können. Und wir wissen, dass Bildung und Digitalisierung die Zukunftsthemen sind. Wir machen ein Angebot, von dem ich sicher bin, dass wir wieder zweistellig werden bei der nächsten Bundestagswahl.

Zweistellig?

Lindner: Ja. Die letzte Umfrage, die ich gelesen habe, sieht uns bei acht Prozent. Und dabei geht es nicht um uns, sondern um die Richtung, die dieses Land nach der Pandemie nimmt.

Das Dilemma Ihrer Partei könnte sein, dass Sie als Opposition im Bund gegen manche Maßnahmen argumentieren, die Ihre Partei in drei Landesregierungen mitträgt. Wie moralisch flexibel sind die Liberalen?

Lindner: Wir zeigen im Bundestag Alternativen auf, weil vom Kanzleramt aus die Krisenstrategie geprägt wird. In den Ländern leisten wir unsere Beiträge. Dass die gewünschte Halbierung des Schulunterrichts verhindert wurde, ist auch dem Widerstand unserer FDP-Minister wie Joachim Stamp in Nordrhein-Westfalen zu verdanken. Aber wenn ein Ministerpräsident aus der Runde mit Frau Merkel mit anderen Ergebnissen zurückkommt, wäre es nicht verantwortlich, wegen der Bundespolitik eine Landesregierung zu sprengen. Wenn Sie nach moralischer Flexibilität fragen wollen, dann bitte die Grünen. Die haben unsere Änderungsanträge zum Regierungsentwurf für das Infektionsschutzgesetz letzte Woche gelobt. Die eigenen, grünen Änderungsvorschläge sind von der großen Koalition abgeschmettert worden. Dennoch haben sie gegen den Rat nahezu aller juristischer Sachverständiger dem von der Union geprägten Gesetz zugestimmt.

Sie behaupten, dass die Krisenstrategie im Kanzleramt gemacht wird. Aber dieses Mal haben doch die Länder einen gemeinsamen Vorschlag gemacht, über den sie mit der Bundeskanzlerin verhandelten.

Lindner: Die Regierungsspitzen haben verhandelt. Die Landeskabinette waren dabei nicht befasst. Dort, wo wir mitregieren, versuchen wir immer einen Weg zu finden, die Maßnahmen so moderat wie möglich zu halten.

In NRW wurde erst Anfang November beschlossen, die Schulen mit Geräten zur Verbesserung der Luftqualität auszustatten. Die dortige Bildungsministerin heißt Yvonne Gebauer – und ist von der FDP.

Lindner: Das hatten Experten der FDP schon lange vorher angeregt, aber wir entscheiden bekanntlich nicht allein. Tatsächlich ist gerade Yvonne Gebauer oft Impulsgeberin. Denken Sie daran, dass NRW frühzeitig das Vorziehen der Weihnachtsferien beschlossen hat. Allerdings darf man es damit auch nicht übertreiben, denn Unterricht ist die beste Form der Bildungsgerechtigkeit und Familien darf man mit Betreuungsfragen nicht im Stich lassen.

Ist jede Verschärfung der Maßnahmen eine Chance für die FDP?

Lindner: Wir wollen aus Krisen kein Kapital schlagen, sondern helfen, Krisen zu überwinden. Wenn es dem Land schlecht geht, heißt es nicht, dass es der FDP gut geht. Im Gegenteil. Dass uns eine besondere Kompetenz zugeschrieben wird, wirtschaftliche Krisen zu überwinden und die Bürgerrechte zu wahren, ist kein Nachteil für das Land in dieser Lage. Daraus erwächst eine besondere Verantwortung. Jetzt und auch im kommenden Jahr, wenn die Bundestagswahl ansteht.