Nach der Pandemie geht es um die Neugründung unseres Landes

Christian Lindner
Tagesspiegel am Sonntag

Lesedauer: 8 Minuten

 

Herr Lindner, geht es den Staat was an, wie Sie Weihnachten feiern?

Lindner: Im Prinzip nichts. Aber die Pandemie macht Weihnachten keine Pause. Deshalb ist die Beschränkung von Kontakten nötig. Die große Mehrheit der Bevölkerung verhält sich vernünftig. Deshalb ist es richtig, dass wir den Menschen auch zu Weihnachten zutrauen, mit ihren Freiheiten verantwortungsbewusst umzugehen.

Was ändert sich für Sie persönlich zum Fest?

Lindner: Statt gemeinsam in der Patchworkfamilie werden wir wohl im allerkleinsten Kreis feiern. Vermutlich zu zweit, nur ein Haushalt, per Zoom schalten wir uns dann zusammen, aus Rücksichtnahme auf ältere Angehörige. Ich bin im Alltag zwar sehr vorsichtig, aber trotzdem soll man das Glück nicht herausfordern, wenn man seine Familie im Herzen trägt.

Sie haben neulich im Bundestag von Ihrer 91 Jahre alten Großmutter berichtet, die in einem Altersheim lebt. Wie soll der Staat die Menschen dort schützen?

Lindner: Als ich meine Oma besucht habe, habe ich Maske getragen. Ich musste mich vorher anmelden, damit es im Eingangsbereich kein Gedränge gibt. Am Vortag war ich zu Gast in einer TV-Aufzeichnung. Da gab es einen Schnelltest im Freien und obwohl der negativ war, mussten natürlich alle besondere Masken tragen. Das Schutzniveau bei der Fernsehproduktion war höher als im Zuhause von Hochbetagten. Das ist nicht akzeptabel.

Was heißt das?

Lindner: Die hohen Infektionszahlen sind Anlass zu großer Sorge, aber die steigende Betroffenheit von Menschen aus Risikogruppen ist schockierend. Ich habe größte Befürchtungen hinsichtlich der Entwicklung schwerster Krankheitsverläufe. Wir drängen daher seit längerer Zeit auf eine nationale Kraftanstrengung zum Schutz der besonders Gefährdeten. Das ist nicht nur ein Gebot der Mitmenschlichkeit, sondern auch ein wichtiger Baustein, damit irgendwann das öffentliche Leben auch wieder geöffnet werden kann.

Muss man die Alten und Risikogruppen also wegsperren, um sie zu schützen?

Lindner: Die Kanzlerin sagt, das betreffe 27 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Sowohl die Drohung mit der Vereinsamung durch angebliches Wegsperren als auch die hoch gegriffene Zahl erschweren eine Debatte über Maßnahmen. Unter den 27 Millionen Menschen der Risikogruppen sind ganz unterschiedliche Situationen. Dazu zählen gut 900 000 Menschen in stationären Einrichtungen, aber auch der sportive 65-Jährige, der weniger gefährdet ist als meine hochbetagte Oma. Wir müssen differenzieren und fragen, wie der Schutz besser gelingt. In den Altersheimen heißt das: Schnelltest beim Zugang, eine Schleuse im Eingangsbereich und die verpflichtende Nutzung von FFP2-Masken. In der Breite dann zum Beispiel exklusive Öffnungszeiten von Geschäften und Taxigutscheine statt Busfahren für wichtige Termine.

Exklusive Öffnungszeiten wären ein ziemlicher Eingriff in die unternehmerische Freiheit. Wollen Sie dafür extra das Ladenschlussgesetz ändern?

Lindner: Ich bin für eine behördliche Anordnung. Dann kann man auf andere Maßnahmen verzichten, etwa die Begrenzung der Verkaufsfläche. Die neue 20-QuadratmeterRegelung führt nur zu Schlangen vor dem Geschäft.

Und die Taxigutscheine – wer zahlt das?

Lindner: Die staatliche Solidargemeinschaft. Das kostet Geld, aber ein anhaltender Stillstand ist noch teurer. Besser ist es, die Finanzmittel des Staates dafür einzusetzen, öffentliches, kulturelles und wirtschaftliches Leben zu ermöglichen.

Sie fordern auch kostenlose FFP2- Masken für diese Gruppen, wie würden Sie da denn die Abgabe in den Apotheken regeln?

Lindner: Ich würde nicht nur die Apotheken nutzen. Unnötige Wege sollte man gerade diesen Menschen ersparen. Die FFP2- Masken sollten auch kostenfrei mit der Post an Risikogruppen verschickt werden.

Vor Kurzem haben Sie sich noch gegen den harten Lockdown ausgesprochen. Jetzt sagen Sie: Ein kurzer, scharfer Lockdown wäre besser gewesen, um die zweite Welle zu brechen. Warum dieser Zickzackkurs?

Lindner: Nein, das ist nicht unsere Position. Wir hatten dazu geraten, dass erstens der Schutz der Risikogruppen die nationale Kraftanstrengung wird, um das Wort von Frau Merkel zu nutzen. Bei regional starkem Infektionsgeschehen müssen zweitens regional rasch und konsequent Maßnahmen der Eindämmung beschlossen werden. Drittens setzen wir auf Kontaktreduzierung und Hygieneregeln im Alltag für alle. Der milde November-Lockdown, ohne wirksamen Schutz der Risikogruppen, hat jedenfalls nicht die Ziele erreicht.

Aus Sicht des Kanzleramts brennt ja die Hütte – unterstützen Sie den Plan, nach Weihnachten noch mal alles herunterzufahren?

Lindner: Es wird dazu kommen, aber das ist keine Strategie, sondern nur der Griff zur Notbremse. Allgemeine Ausgangssperren selbst allein unter freiem Himmel halte ich zudem für unverhältnismäßig. Mit jedem Lockdown sind enorme soziale und wirtschaftliche Folgen verbunden, sodass er nicht lange durchzuhalten ist. Also müssen wir darüber sprechen, wie es danach weitergeht. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch. Wir wären jederzeit bereit, mit allen Parteien, Expertinnen und Experten sowie den von Schließung betroffenen Bereichen eine gemeinsame Strategie zu erarbeiten. Der Schlüssel sind Eigenverantwortung und Mitwirkung der Menschen. Dafür müssen staatliche Anordnungen nachvollziehbar und berechenbar sein. Das Hin und Her verwirrt und demotiviert die Bevölkerung.

Haben Bund und Länder im Kampf gegen die zweite Welle also versagt?

Lindner: Mancher Vorschlag wurde nicht oder spät aufgegriffen. Was bringt es aber, jetzt mit Steinen zu werfen? Wir müssen nach vorne schauen, um miteinander Probleme zu lösen.

Im Frühjahr haben Sie den Kurs der Regierung mitgetragen. Dann haben Sie sich distanziert, auch mit einer scharfen Wortwahl, als Sie sinngemäß sagten: „Maske ja, Maulkorb nein“ …

Lindner: Nein, das stimmt nicht. Wir haben als Erste im Bundestag das kontrollierte Runterfahren des Landes vorgeschlagen, als man wenig wusste und der Staat nicht vorbereitet war. Und wir waren im April die Ersten, die Zweifel an der fortdauernden Schließung im Bundestag artikuliert haben. Das war auch legitim und nötig, da Frau Merkel bekanntlich von „Diskussionsorgien“ sprach. In der Demokratie muss alles debattiert werden.

Damit haben Sie im Sommer eher einen Antiregierungskurs verfolgt, erst spät, im Herbst, haben Sie sich dann der konstruktiven Oppositionsarbeit verschrieben und das Thema Rechtsstaatlichkeit stärker betont.

Lindner: Nein, Ihre Darstellung stimmt nicht. Wir sind eine Partei in Verantwortung, die sich an wissenschaftlichem Rat orientiert. Allerdings haben wir eine größere Sensibilität als andere, wenn es um Einschränkungen der Freiheit geht. Die müssen begründet und verhältnismäßig sein, auch in der Pandemie. Vor allem müssen Eingriffe in die Grundrechte durch das Parlament entschieden werden. Der Deutsche Bundestag muss der Regierung klare Leitplanken geben, damit der Handlungsspielraum bei Eingriffen in Grundrechte nicht zu groß wird. Leider fehlt es daran noch immer. Die Novelle des Infektionsschutzgesetzes war unter Gesichtspunkten der Bürgerrechte eine verpasste Chance.

Der Vergleich zwischen Maske und Maulkorb findet sich auch auf den „Querdenker“-Demos wieder. Wollten Sie also austesten, ob Sie dort nicht doch den einen oder anderen Anknüpfungspunkt finden?

Lindner: Nein, aber Ihre Frage entlarvt unfreiwillig Muster der Debatten. Wenn man abweichende Meinungen oder Formulierungen verwendet, wird man gleich in die Ecke der Leugner, Reichsbürger und Spinner gerückt? Genau aufgrund solcher Muster sorgt sich etwa der prominente Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel um die Begrenzung der Meinungsvielfalt, übrigens ein Sozialdemokrat.

Haben Sie denn das Gefühl, mit Ihren Botschaften in der Coronakrise genügend durchzudringen? Richtig viel FDP-Politik ist ja in die aktuellen Maßnahmen nicht eingeflossen.

Lindner: Das ist ein Schicksal, das wir mit allen Oppositionsparteien teilen. Das gesamtstaatliche Krisenkonzept wird nun mal vom Bundeskanzleramt bestimmt.

Und in den 16 Staatskanzleien.

Lindner: Den Eindruck habe ich, auch aufgrund des intensiven Kontakts zu unseren drei Regierungsbeteiligungen, eher nicht.

Einige in der FDP haben einen Untersuchungsausschuss zur Corona-Politik Merkels gefordert. Was soll das bringen – oder ist das Schaufensterpolitik?

Lindner: Nein, das ist nicht die Position der FDP. Einen Untersuchungsausschuss halte ich nicht für das geeignete Instrument. Es geht ja nicht um Anklage, sondern gemeinsame Aufarbeitung. Dafür schlage ich in der nächsten Legislaturperiode eine Enquetekommission vor. Die sollte Schlussfolgerungen aus dem Krisenmanagement des Jahres 2020 für einen dauerhaft besseren Schutz ziehen.

Der FDP gehen die Staatshilfen für Unternehmen zu weit. Der Staat könne nicht den Umsatz ersetzen – auch wenn das für manche Firmen das Aus bedeuten würde. Glauben Sie, das verfängt auch außerhalb der FDP-Kernwählerschaft?

Lindner: Nein, das ist nicht unsere Position. Wir sind im Gegenteil der Meinung, dass die Finanzhilfen für November und Dezember unbürokratisch ausgezahlt werden müssen. Denn die Betriebe schließen ja aufgrund staatlicher Anordnung. Außerdem halten wir an unserem Vorschlag fest, die Verluste des Jahres 2020 mit den Gewinnen der Jahre 2019 und 2018 bei der Steuer zu verrechnen. Das wäre die schnellste Form der Liquiditätshilfe, weil sie über die Finanzämter rasch umgesetzt werden könnte. Aus der Infektionswelle darf schließlich keine Pleitewelle werden.

Finanzminister Olaf Scholz sagt, das Wachstum von morgen bezahle die Corona-Schulden von heute.

Lindner: Da hätte er recht, wenn wir noch die Wettbewerbsfähigkeit des Jahres 2010 hätten. Heute sind wir aber wesentlich weniger produktiv. Auf Zinseinsparungen wie damals kann der Staat nicht mehr hoffen. Deutschland ist zurückgefallen. Das liegt auch daran, dass die Babyboomer bald in den Ruhestand wechseln. Die haben bislang mit ihrer gesamten finanziellen Feuerkraft den Staat finanziert, mit hohen Steuern und Beiträgen. Wir müssen erst wieder die Rahmenbedingungen schaffen, um Wirtschaftswachstum zu beschleunigen.

Was meinen Sie damit?

Lindner: Nach der Pandemie wird es um die Neugründung unseres Landes gehen. Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung müssen für die alternde Gesellschaft neu begründet werden. Es geht um die Neugründung der Quellen unseres Wohlstands, weil viele Industrien in der Transformation stecken. Unter verschiedenen Vorzeichen wird zurzeit viel über eine Umstellung unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gesprochen. Wir sind unverändert davon überzeugt, dass die Liberalität der Gesellschaft und die wirtschaftliche Freiheit für uns die besten Garanten für eine gute Zukunft sind.

Im Wahlkampf will die FDP ein „neues Aufstiegsversprechen“ machen. Was ist mit all den Menschen, die sich in der Krise eher um den sozialen Abstieg sorgen?

Lindner: Das eine bedingt das andere. Der soziale Aufstieg gelingt ja dann leichter, wenn es eine starke und zuversichtliche Mitte im Land gibt. Deshalb geht es ja darum, vom fortwährenden Verteilen von Geld, dem Schuldenmachen, dem Bürokratisieren eine Trendwende zu erreichen. Wir wollen den Menschen Freiräume schaffen, ihre Ideen zu verwirklichen. Wir wollen sie stärken durch ein wirklich überzeugendes Bildungssystem und ein soziales Netz, durch das niemand Angst vor Schicksalsschlägen haben muss. Und wir fühlen uns durch den in Deutschland durch Gentechnik entwickelten Impfstoff ermutigt, die Debatte über Zukunftstechnologien und Forschungsfreiheit neu anzugehen.

Markus Söder und Robert Habeck haben ein bemerkenswertes Interview gegeben. Von der FDP war bei dieser schwarz-grünen Kuschelei keine Rede mehr …

Lindner: Wir machen Koalitionsabsichten an Inhalten fest. Die Grünen wollen Steuern erhöhen, die Union weiß noch nicht genau. Die Grünen wollen das bedingungslose Grundeinkommen einführen, die Union will den Rüstungsetat erhöhen. Die Grünen wollen mehr Staatsschulden auf Dauer erleichtern, die Union wollte einmal die schwarze Null. Ich kann nur sagen, da freue ich mich auf den Wahlkampf.