Je näher wir an die Grünen herankommen, desto mehr Einfluss haben wir

Christian Lindner Grüne
T-online

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Herr Lindner, Sie haben lange eng mit Armin Laschet zusammengearbeitet. Haben Sie im Moment Mitleid mit ihm? 

Lindner: Armin Laschet benötigt weder gönnerhafte Bemerkungen noch Mitleid. Ich kenne und schätze ihn. Aber klar ist: Die Union ist überraschend schwach und offenbart Unschärfen. In der Steuerpolitik war lange unklar, ob sie nun entlasten will oder offen ist für Steuererhöhungen. Markus Söder denkt über die Aufweichung der Schuldenbremse nach, obwohl wir Inflationsrisiken haben. Die Union garantiert so keine Politik der Mitte.

Das ist ein hartes Urteil.

Lindner: Armin Laschet würde die Durchsetzungskraft fehlen, die linken Wünsche der Grünen auf das Sinnvolle zu begrenzen. Frau Baerbocks Lobpreisung von Verboten lässt nichts Gutes für unsere Freiheit erahnen. Stattdessen sollte Klimaschutz durch saubere Technologie ein Wachstumsmotor sein. Ohnehin liebäugeln SPD und Grüne mit der Linkspartei, die ein anderes Land mit 75 Prozent Spitzensteuersatz und Enteignungen will. Der FDP wächst so eine neue Bedeutung zu, eine Politik der Mitte zu garantieren.

Seit der Landtagswahl in NRW 2017 eilt dem CDU-Kanzlerkandidaten der Ruf des Überraschungssiegers voraus. Werden wir am Wahlabend also wieder alle staunen?

Lindner: Viel ist in Bewegung. Bedenken muss man, dass Armin Laschet die solideren Koalitionsoptionen hat. 

Ärgern Sie sich, dass Sie im Juni – vor dem demoskopischen Absturz der Union – erklärt haben, Laschet werde mit “an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit” Kanzler? 

Lindner: Nein. Zumindest meine Prognose, dass die Grünen nicht ins Kanzleramt einziehen, scheint sich zu bestätigen. Bei der Union muss man abwarten.

Weil Sie immer noch damit rechnen, dass es zu einer Koalition aus Union, Grünen und FDP kommt?

Lindner: Das ist offen und hängt von der Stärke der FDP ab. Je näher wir an die Grünen herankommen, desto mehr Einfluss haben wir. Nicht zwangsläufig stellt die stärkste Fraktion den Kanzler. Vermutlich liegt ohnehin erstmals die Kanzlerpartei unter 30 Prozent. Es kommt mehr denn je auf die Bildung einer Koalition an.

In Schleswig-Holstein regiert ein Jamaika-Bündnis, in Rheinland-Pfalz eine Ampel. Funktionieren beide Koalitionen aus Ihrer Sicht eigentlich gleich gut?

Lindner: In Ihrer Aufzählung fehlt die Deutschland-Koalition in Sachsen-Anhalt und die schwarz-gelbe Regierung in Düsseldorf…

..wir interessieren uns aber für den Unterschied zwischen Jamaika und der Ampel.

Lindner: Die Vielfältigkeit der Koalitionen zeigt die Eigenständigkeit der FDP. Richtig ist, dass uns die Union in vielem nähersteht. Entscheidend für die FDP ist, dass es gute Inhalte gibt.

Was sind denn für Sie gute Inhalte?

Lindner: Ich nenne einmal Koordinaten: Freiheit vor Staat. Erwirtschaften vor Verteilen. Erfinden vor Verbieten.

Und diese Prinzipien lassen sich noch immer am ehesten mit der Union umsetzen?

Lindner: CDU und CSU haben sich davon entfernt. Aber die Schnittmengen sind die größeren.

Wenn es vor allem mit der Union Schnittmengen gibt: Warum konnte die FDP dann nicht von deren Niedergang in den Umfragen profitieren?

Lindner: Wir machen ein von der Union eigenständiges Angebot. Wir haben damit die Chance, zum ersten Mal in unserer Geschichte bei zwei Bundestagswahlen nacheinander über zehn Prozent zu kommen. Was die Union angeht, so hat Frau Merkel sie programmatisch nach links bewegt. In der Folge scheint sie nach links Wählerinnen und Wähler zu verlieren.

Teilen Sie den Eindruck, dass Olaf Scholz fast nichts Besseres passieren kann als eine rot-grün-rote Mehrheit am Wahlabend, die er gar nicht will? Dann sagt er: Herr Lindner, Sie können jetzt Deutschland vor dem Untergang retten.

Lindner: Olaf Scholz müsste in diesem Szenario der Öffentlichkeit erklären, dass er die Linkspartei überhaupt als Koalitionspartner in Erwägung zieht. Aber unabhängig davon: Verhinderung ist nicht der Gestaltungsanspruch, für den wir uns bewerben. Bislang fehlt mir die Fantasie, welches Angebot Rot-Grün der FDP machen könnte. 

Unterstützen Sie die Aussage von Armin Laschet, dass Sozialdemokraten "immer auf der falschen Seite der Geschichte" standen? Unabhängig davon, ob er sich auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik beschränken oder es allgemeiner ausdrücken wollte?

Lindner: Nein, seinen Satz kann man eben nicht unabhängig von der Beschränkung auf die Wirtschaftspolitik beurteilen. Ich mache mit verkürzten Zitaten keine Politik. Die SPD lag in der Wirtschafts- und Finanzpolitik beispielsweise in den späten Siebzigerjahren daneben …

…als Sie allerdings gemeinsam mit der FDP im Bund regierte…

Lindner: …und diese Koalition ist gescheitert. Aber damals gab es auch Ostpolitik, Emanzipation und Bildungsexpansion. Das sind Verdienste. Bei der Agenda 2010 sind die Sozialdemokraten spät zur Einsicht gekommen, aber sie lagen wirtschaftspolitisch richtig. 

Vor vier Jahren wollten Sie die Jamaika-Verhandlungen noch retten, indem Sie forderten, sich über die großen Linien für die Zukunft zu verständigen. Was sind die großen Linien für die nächsten Jahre?

Lindner: Für mich gibt es fünf große Modernisierungsaufgaben: Erstens brauchen wir eine Verstärkung des wirtschaftlichen Aufschwungs. Das ist die Voraussetzung für alles. Zweitens brauchen wir Klimaschutz durch Erfindergeist und Innovationen, um Freiheit und Wohlstand nachhaltig zu sichern. Drittens muss das Aufstiegsversprechen unseres Landes wieder mit Leben gefüllt werden, der Bund muss dafür in der Bildungspolitik eine Mitverantwortung übernehmen. Viertens müssen wir die Digitalisierung vorantreiben. Und fünftens braucht es mehr Nachhaltigkeit im Bezug auf die Staatsfinanzen und das Rentensystem. 

Besonders umstritten dürfte die Bildungspolitik sein…

Lindner: …nicht nur: Olaf Scholz geriert sich in der Rentenpolitik gerade als Norbert Blüm des 21. Jahrhunderts. Er gibt hier ungedeckte Versprechen ab. Ohne unsere gesetzliche Aktienrente werden wir für Jüngere und Ältere die Rente nicht stabilisieren.

Aber Bildung ist bislang Ländersache.

Lindner: Das stimmt. Der Bund könnte trotzdem eine Menge machen, zum Beispiel digitale Weiterbildung der Lehrkräfte fördern. Wir könnten Vergleichsstudien zwischen den Ländern forcieren und die berufliche Bildung mit Bundesmitteln modernisieren. Wir brauchen ein Midlife-Bafög, das die Weiterbildung auch mitten im Leben fördert. Und ganz grundsätzlich muss Bafög unabhängig vom Einkommen der Eltern gezahlt werden. 

Sie betonen immer wieder, Steuererhöhungen werde die FDP in einer künftigen Regierung nicht mittragen. Heißt das eigentlich umgekehrt: Steuersenkungen sind keine Bedingung mehr für Ihre Regierungsbeteiligung?

Lindner: Wir plädieren für eine Trendumkehr. Nach einem Jahrzehnt der Belastung muss ein Jahrzehnt der Entlastung folgen. Unser Steuerprogramm ist zur schrittweisen Umsetzung gedacht. Im ersten Schritt müssen wir den Aufschwung stärken, weil wir damit das Staatsdefizit reduzieren. Als Sofortmaßnahme schlagen wir ein Super-Abschreibungsprogramm vor, damit Betriebe starke Anreize für Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung erhalten. Dann leiden wir auch nicht mehr länger unter einem schwächeren Wachstum als Italien…

…dort wird auch schneller geimpft als bei uns…

Lindner: …Sie vergrößern die Trauer nur noch!

Sie wollen auch eine "Aufweichung der Schuldenbremse" verhindern. Was heißt das konkret?

Lindner: Die Verfassung wird nicht geändert, sondern beachtet.

Finanzminister Olaf Scholz will das 2023 auch wieder.

Lindner: Ich beobachte an vielen Stellen eine Debatte darüber. Es wird der Eindruck erweckt, die Schuldenbremse stünde notwendigen Investitionen entgegen. Ganz abgesehen davon, dass die meisten Investitionen privat sind.

Was ist Ihr Vorschlag?

Lindner: Wir müssen keine weiteren Schulden machen. Und wir müssen keine Steuern erhöhen. Wir können trotzdem mehr investieren.

Das heißt: Wir müssen sparen.

Lindner: Wir müssen umschichten. Zum Beispiel die massive Förderung der Elektromobilität: Die Konzerne machen Milliardengewinne, und Gutverdiener brauchen keine Subventionen für den Autokauf. Das Steuergeld kann besser eingesetzt werden. Wir haben übrigens auch noch Anteile an der Telekom, die etwa 20 Milliarden wert sind. Dieses Aktienpaket würde ich gerne gegen Breitbandausbau eintauschen.

Für wann peilen Sie denn einen ausgeglichenen Haushalt an?

Lindner: Unsere Orientierung ist die Schuldenbremse. Genaue Planungen sind noch nicht möglich, da wir die Konjunktur nicht kennen. Die schwarze Null hat nur eine symbolische Bedeutung. Wichtig ist zudem, dass wir zusätzliche Belastungen verhindern. Das betrifft auch den Klimaschutz.

Das heißt: Der Gedanke, dass Klimaschutz nur funktioniert, wenn es teurer wird, ist falsch?

Lindner: Es gibt die Denkschule, dass die Bürger nur dann verzichten, wenn etwas teurer wird. Ich habe da meine Zweifel. Unser Ansatz ist ein anderer: Wir limitieren die Menge an CO2, die ausgestoßen werden darf. Die Wirtschaft muss also Verschmutzungsrechte kaufen, die immer knapper und damit teurer werden. Also haben sie einen großen Anreiz, an neuen Technologien zu forschen.

Also: Es geht nicht darum, dass Benzin teurer wird, sondern umweltfreundlicher. 

Lindner: Ja, indem nach und nach mehr klimaneutrale synthetische Kraftstoffe beigemischt werden. Über die kommenden Jahre werden die immer wirtschaftlicher werden.

Zum Abschluss, nur zur Sicherheit: Wenn Sie die Möglichkeit zum Regieren bekommen, nutzen Sie diese auch und machen keinen Rückzieher wie 2017, oder? 

Lindner: Wir haben uns 2017 gegen Karrieren und Dienstwagen entschieden, weil wir dafür gegenüber den Wählerinnen und Wählern unser Wort hätten brechen müssen. Auf diese Verlässlichkeit können die Menschen auch dieses Jahr bauen. Die Erfahrung vor vier Jahren hat unsere Partei stärker gemacht, wir haben zum Beispiel stetig Mitglieder gewonnen und nun eine Rekordhöhe von 74.000.

Aber im vergangenen Jahr hat die FDP in den Abgrund geschaut – da lag sie zeitweise bei fünf Prozent. 

Lindner: Wir hatten seit 2017 so hohe und stabile Umfragewerte wie noch niemals in unserer Geschichte. Zu Beginn der Pandemie haben sich die Menschen hinter der Regierung versammelt. Das passiert in Krisen und war nicht nur in Deutschland so.

Sie haben also Glück, dass erst jetzt gewählt wird. 

Lindner: Dass die Corona-Krise sich etwas entspannt hat, ist ein Segen für das Land. Und ein Wahlkampf verändert immer die Lage. Da geht es nicht um Krise, sondern um Zukunft.

Herr Lindner, vielen Dank für das Gespräch.