Im Bundestag fehlen eine Agenda 2030 und eine liberale Stimme

Christian Lindner
Huffington Post

Herr Lindner, SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat Ihnen ein Treffen angeboten. Sagen Sie zu?

Lindner: Selbstverständlich treffe ich ihn. Die Absicht, uns zu sehen, haben wir schon länger. Das ist unter Parteivorsitzenden normal – insbesondere dann, wenn man neu ins Amt kommt. Das habe ich mit Sigmar Gabriel so gehalten, das halte ich mit der Kanzlerin so und auch mit Cem Özdemir.

Schulz tourt gerade durch NRW, um für Ihre Konkurrentin Hannelore Kraft Wahlkampf zu machen. Da ergibt sich sicher eine Gelegenheit.

Lindner: Wir haben noch keinen konkreten Termin. Es besteht auch keine Eile. Interessant wird ein solches Gespräch erst dann, wenn die SPD endlich sagt, was sie für das Land möchte. Was Herr Schulz bisher sagt, ist für einen Liberalen keine Verheißung, weil er weniger Flexibilität und Selbstbestimmung am Arbeitsmarkt will und wir mehr. Er will höhere Steuern, wir niedrigere. Er will ein vereinheitlichtes Europa mit gemeinsamen Schulden, wir wollen ein geeintes, aber vielfältiges Europa mit finanzieller Eigenverantwortung.

Wie kommen die Flirtversuche der SPD bei Ihnen an?

Lindner: Ich begrüße, dass die SPD zu einem realistischeren Bild der FDP zurückfindet. Denn der Gottseibeiuns, zu dem sie und Grünen uns machen wollten, waren wir nie.

Wenn Sie ehrlich sind: Hat Sie die Charmeoffensive überrascht?

Lindner: Ihr Tempo. Das hängt mit der Saarlandwahl zusammen. Herr Schulz möchte über eine Ampel sprechen, um nachher mit der Linkspartei anzubandeln.

Wie meinen Sie das?

Lindner: Man stellt die Koalition mit der FDP in den Raum, also eine Zusammenarbeit mit einer bürgerlichen Partei. Das ist nichts weiter als ein Schachzug, um später sagen zu können: Es hat sich herausgestellt, dass die FDP doch zu liberal für uns ist.

Sie vermuten dahinter ein Ablenkungsmanöver.

Lindner: Ja. Dennoch ist es gut, wenn man ein ordentliches Verhältnis zueinander hat. Es geht ja nicht um einen Vernichtungsfeldzug im Wahlkampf. Aber nach allem was man hört, steht Herr Schulz von seinen Vorgängern Oskar Lafontaine näher als Gerhard Schröder.

Warum?

Lindner: Etwa, weil er die Agenda abwickeln will. Ich nenne das Agenda 1995. Angela Merkel, die nichts weiter will, als die Agenda 2010 zu verwalten, ist da dennoch näher bei uns. Der Vergleich zeigt aber, was Deutschland und dem Bundestag fehlt. Nämlich eine Agenda 2030 und eine liberale Stimme.

Erinnert Sie Schulz an Donald Trump?

Lindner: Ich wähle diesen harten Vergleich nicht, weil Trump die politische Kultur der USA zerstört. Er macht Stimmung gegen Minderheiten, hat keinen Respekt vor der Justiz und erteilt Unternehmen per Twitter Kommandos.

Einige Ihrer Kollegen sehen das anders, etwa Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble.

Lindner: Ja, Herr Schulz verwendet gelegentlich falsche Zahlen. Ich sehe aber mit Sorge, wie die AfD die Bundeskanzlerin denunziert. Deshalb mache ich um bestimmte Vergleiche einen Bogen.

In Interviews werfen Sie Schulz vor, Deutschland schlechter zu reden als es ist.

Lindner: Richtig ist, dass Schulz zu sehr vereinfacht und teils sogar Unsinn erzählt. Er appelliert nicht an das Beste im Menschen, sondern an Niedriges, nämlich Angst und Besitzstandsdenken. So sympathisch es ist, jemanden zu beobachten, der sich jeden Tag neu mit den sozialen Realitäten im Land vertraut macht, so gefährlich ist es, wenn aus falschen Fakten falsche Konsequenzen gefordert werden.

Zum Beispiel?

Lindner: Bei den unter 25-jährigen sind nicht 40 Prozent befristet beschäftigt, sondern weit weniger. Und genau diejenigen, die heute befristet arbeiten, waren dieselben, die vor 15 Jahren noch studiert haben. Wir sollten die ersten Schritte im Job als Teil der persönlichen und beruflichen Ausbildung begreifen. Und dass dort dann auch die befristete Beschäftigung erfolgt, halte ich nicht für einen Skandal.

Ein Teil der Deutschen sieht das anders – und haben die SPD in Umfragen auf 30 Prozent katapultiert.

Lindner: Die Umfragen gehen wieder deutlich zurück. Das heißt, da wird bereits heiße Luft aus dem Ballon abgelassen.

Ist der Schulz-Effekt zu Ende?

Lindner: Ja. Schulz hat von Grünen, Linken und AfD jene zurückgeholt, die Gabriel mit seiner in Medien so schroff wirkenden Art nicht erreichen konnte. Schulz ist ein neuer Spieler auf dem Feld, der Wünsch-dir-was-Politik macht. Aber die Brücke in die Mitte der Gesellschaft hat er noch nicht geschlagen – über das Kernmilieu der Sozialdemokratie hinaus. Das ist Gerhard Schröder und Wolfgang Clement dann doch besser gelungen, weil sie am Ende eine marktwirtschaftliche Politik gemacht haben.

Bitte etwas genauer.

Lindner: Sie haben gesehen, dass die Voraussetzung für die soziale Stabilität einer Gesellschaft eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist. Diese Sozialdemokratie wusste, dass die Wirtschaft die Pflöcke einschlägt, an denen das soziale Netz aufgehangen wird. Dieses Wissen scheint bei SPD und Grünen heute verlorengegangen zu sein.

Weiß Schulz nicht, was unser Land reich macht?

Lindner: Ja. Er weiß im Übrigen auch nicht, was unser Land braucht, um seinen Wohlstand zu verteidigen. Es braucht im Zeitalter der Digitalisierung und bei einer Veränderung der Weltwirtschaft mehr Flexibilität. Es braucht bessere Glasfaserinfrastruktur. Die private Hand braucht Spielräume für Investitionen und zur Verwirklichung von Lebensträumen und Vorsorge. Das Land braucht nicht eine Debatte über die vollständige Gebührenfreiheit von Bildung. Die vorher zu bewältigende Aufgabe ist es, die Qualität des Bildungssystems zu verbessern, damit wir mit dem Weltmaßstab mithalten können.

Die „sozialliberale Koalition auf Bundesebene hat Deutschland moderner und demokratischer gemacht“, sagte kürzlich Schulz. Hat er recht?

Lindner: Ja, das war ab 1969. Am Ende ist die Zusammenarbeit gescheitert, weil Helmut Schmidt für seine Außenpolitik und Wirtschaftsreformen keine Mehrheiten mehr in seiner Partei hatte. Eine sozialliberale Koalition im Bund ist heute schon rechnerisch nicht möglich. Es ginge um eine Ampel. Die Grünen machen unverändert Politik mit einer moralischen Überheblichkeit, mit dem Ziel, alle gesellschaftlichen Unterschiede zu nivellieren und mit der Vorstellung, man könnte den gesellschaftlichen Prozess am Reißbrett bis in die Zukunft planen.

Ein sozialliberales Deutschland ist also Träumerei?

Lindner: Wie gesagt, ich sehe noch nicht einmal eine Mehrheit. Deshalb will ich mich an solchen Spekulationen nur insoweit beteiligen, dass ich sie auf Normalmaß stutze.

Ihr Parteivize Wolfgang Kubicki hat in einem HuffPost-Interview kürzlich eine Hartz-IV-Erhöhung gefordert. Gehen Sie da mit?

Lindner: Moment, er bezog sich auf Alleinerziehende. Im Wahlprogramm gehen wir einen anderen Weg als die Erhöhung der Regelsätze. Wir wollen für Alleinerziehende und alle anderen Familien erstens die Betreuungssituation für die Kinder verbessern, so dass Berufstätigkeit erleichtert wird. Zweitens wollen wir erreichen, dass ein Zuverdienst nicht mehr rigoros auf Hartz IV anrechnet wird. Die Leiter des Aufstiegs ist für diese Menschen der Mini-Job, der Stunde für Stunde ausgeweitet wird. Und das muss sich lohnen. Das ist ein Gebot der Leistungsgerechtigkeit.

Eine Hartz-IV-Erhöhung wird es also mit der FDP nicht geben?

Lindner: Wir haben ein besseres Konzept im Wahlprogramm.

Darin werben Sie auch für sich als Wirtschaftspartei. Wie zeitgemäß ist das noch, wenn vor allem junge Menschen das Vertrauen in die Märkte, Banken und Unternehmen verlieren?

Lindner: Dahinter stecken meist nur hohle Phrasen und schlechte Launen. Antikapitalisten haben kein alternatives Modell. Wo ist die Idee für Wohlstand und eine gesellschaftliche Ordnung von den Attacs dieser Welt? Trump setzt genau diese Ideen um, er macht die Grenzen dicht und erteilt Unternehmen Kommandos, wie sich das die linke Bewegung vorstellt. Das sorgt nur für Chaos.

Dennoch: Die Finanzkrise hat das Vertrauen in unser Wirtschaftssystem erheblich erschüttert. Völlig zu unrecht?

Lindner: Es waren nicht liberale Vorstellungen, die zur Finanzkrise geführt haben – sondern die Perversion davon.

Das heißt?

Lindner: Ein Liberaler würde niemals Freiheit und Verantwortung – das Handeln am Markt und das Haften für die Ergebnisse – trennen. Dass Unternehmen und Banken nach dem Geld der Steuerzahler rufen und der Staat da mitgemacht hat, hatte im Übrigens auch nichts mit liberalen Vorstellungen zu tun.

Was will die FDP tun, um das Vertrauen wieder herzustellen?

Lindner: Die große Aufgabe, dass Banken auf Kosten von Eigentümern und Gläubigern abgewickelt werden und niemals mehr auf Kosten der Steuerzahler, ist bis heute nicht durchgesetzt. Die Staatsanleihen ohne Risikoabsicherung in der Bankbilanz sind ein anderer Punkt – da ist der Staat Komplize für neue Blasenbildung am Markt, die er später bösen Spekulanten in die Schuhe schieben kann. Nicht die Spekulanten sind aber das Problem, sondern an dieser Stelle der Staat. So ist es auch bei der Eurokrise. Ein zu wenig an Markt – kein Zins – sorgt für die größte Umverteilung der Geschichte, nämlich von unten nach oben. Durch den niedrigen Zins gibt es auch kein Anreiz für solides Wirtschaften.

Können Sie die Kritik der Jugend in Südeuropa an der Sparpolitik und den EU-Institutionen verstehen, die auf die Straße gehen, weil fürchten, nie wieder einen Job zu finden?

Lindner: Nicht die Sparpolitik hat sie arbeitslos gemacht, sondern die seit Jahrzehnten verfehlte Wirtschaftspolitik der Berlusconis Europas, die diesen jungen Menschen Zukunftsperspektiven geraubt haben. Die haben ihre Bildungssysteme, Arbeitsmärkte und ihre Wirtschaft nicht modernisiert. Diese Probleme muss man national angehen.

Welche Alternative bieten Sie an?

Lindner: Ein Weg könnte sein, mehr Migration in Europa zu ermöglichen. Wir suchen händeringend Fachkräfte und können unsere Ausbildungsplätze nicht besetzen. In den Südländern sind junge Menschen auf der Suche nach Perspektiven. Dort sollten wir eine Brücke schlagen. Dazu muss sich auch die Ausbildung in Deutschland verändern. Zum Beispiel an den Berufsschulen in ostdeutschen Bundesländern mit freien Kapazitäten muss auch ein Teil des Unterrichts auf Spanisch oder Englisch gehalten werden, bis die jungen Menschen Deutsch sprechen.