In Europa haben wir gerade eine Asylwende erreicht.
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Herr Lindner, wann haben Sie zuletzt einen Bürger getroffen, der Ihnen sagte: „Das haben Sie aber gut gemacht“?
Lindner: Gestern in Marburg.
Wofür wurden Sie da gelobt?
Lindner: Dass ich gegen alle Widerstände die Schuldenbremse verteidige. Das war die Reaktion darauf, dass in Marburg linke Gruppen gegen mein angebliches Spardiktat demonstriert haben. Ich bin überzeugt davon, dass wir nicht auf Dauer mehr verteilen können, als die Menschen erwirtschaften. Die Zinsen würden uns erdrücken. Wir investieren dennoch auf Rekordniveau in Schiene, Straße und Digitales. Das geht, weil wir Prioritäten setzen. Im Umkehrschluss muss manch anderes Projekt warten.
Viele sehen vor allem den Streit: Die Ampelkoalition zankt sich seit ihrem Amtsantritt über diverse Themen: Corona, Tankrabatt, Kindergrundsicherung, Heizungsgesetz, Ehegattensplitting. Woher kommt das?
Lindner: Zum Beispiel weil etwas gefordert wird, was nicht verabredet ist. Den Grünen fällt immer ein neuer Trick ein, wie man mehr Schulden machen kann. Die SPD wirbt für einen Industriestrompreis für Konzerne, den die Familien und der Mittelstand bezahlen sollen. Ich könnte jeden Tag die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags fordern. Das wäre richtig, damit unsere Wirtschaft wettbewerbsfähiger wird. Ich weiß aber, dass das mit SPD und Grünen unrealistisch ist. Deshalb geht die FDP mit der Forderung in die nächste Bundestagswahl. Man darf nie vergessen, dass die drei Parteien der Koalition unterschiedlich sind. Uns haben nicht Gemeinsamkeiten zusammengebracht, sondern – wenn man so will – die CSU.
Die CSU?
Lindner: Bekanntlich hat Markus Söder nach der Bundestagswahl Armin Laschet die Gefolgschaft gekündigt – damit war die Option Jamaika vom Tisch. Jetzt arbeiten wir jeden Tag daran, unterschiedliche Perspektiven zu überwinden und das Land nach vorn zu bringen.
Die Unzufriedenheit mit der Regierung ist auf einem Rekordhoch. 79 Prozent der Bürger sind wenig oder gar nicht zufrieden laut Deutschlandtrend. Bereitet Ihnen das Sorgen?
Lindner: Ich wünsche mir bessere Zahlen, aber sie sind erklärbar. Es ist eine Koalition, die über die Mitte des Parteienspektrums geht. Der linke Teil der Wählerschaft wünscht sich mehr Rot-Grün, was wegen der FDP nicht kommt. Die Wählerinnen und Wähler der Mitte stoßen sich wiederum an manchem Kompromiss, den die FDP eingehen muss. Es gibt in Deutschland aber gegenwärtig keine parlamentarische Mehrheit für nur eine Richtung.
Sind mehr die Grünen oder die SPD aus Ihrer Sicht dabei das Problem?
Lindner: Weder noch. Ich mache niemandem einen Vorwurf, der für seine politischen Überzeugungen kämpft.
Sie haben die Jamaika-Verhandlungen mal mit dem Satz „Lieber nicht regieren als falsch regieren“ platzen lassen. Gilt dieser Satz noch?
Lindner: Ja.
Und kann man ihn noch mal sagen?
Lindner: Ebenfalls ja. Ich wäre da angstfrei. Aber ich muss klar sagen: Die Ergebnisse der Koalition sind gut für das Land, und die Kompromisse, die wir eingehen, sind verantwortbar. Viele strukturelle Probleme unseres Landes sind während der Regierungszeit der CDU entstanden oder nur verwaltet worden. Jetzt verhandeln wir in der Koalition Konflikte teilweise stellvertretend für die ganze Gesellschaft.
Einer davon ist aktuell die Migrationspolitik. Was ist dabei aus Ihrer Sicht das Hauptproblem?
Lindner: Deutschland hat es zu leicht gemacht, illegal in unseren Sozialstaat einzuwandern. Und zugleich war es für qualifizierte Menschen zu bürokratisch, in unseren Arbeitsmarkt einzutreten. Das kehren wir um.
Dass Menschen hier arbeiten können, finden Sie aber schon richtig?
Lindner: Ja, aber wir müssen die Kontrolle über Einwanderung zurückgewinnen. Es muss klar differenziert werden zwischen qualifizierter Einwanderung, humanitärem Schutz und illegaler Migration, die wir nicht akzeptieren können.
Ihr Generalsekretär sagte aber gerade der „Süddeutschen Zeitung“: Es sei „sinnvoll, bestehende Beschäftigungsverbote zu lockern oder aufzuheben“. Wie passt das zusammen?
Lindner: Für Menschen, die eine dauerhafte Bleibeperspektive haben, sollte man Beschäftigungsverbote lockern. Aber bei einer generellen Regelung für Asylbewerber bin ich sehr skeptisch. Wenn Menschen, deren Identität und legale Aufenthaltsberechtigung nicht geklärt ist, auch mit geringsten Qualifikationen einfachen Tätigkeiten nachgehen dürften, dann wäre das ein Magnet für Migration. Das sind nicht diejenigen, die wir aktiv in unseren Arbeitsmarkt einladen. Dennoch könnte am Ende daraus eine Duldung erwachsen, wodurch bei abgelehntem Asylantrag die Ausreise nicht mehr durchgesetzt werden kann.
Im April forderten Sie im t-online-Interview mehr Konsequenz bei den Abschiebungen von Migranten, die kein Aufenthaltsrecht haben. Was hat sich seitdem geändert?
Lindner: In Europa haben wir gerade eine Asylwende erreicht. Die Außengrenze wird geschützt und es gibt Krisenmechanismen. Und in Kürze beginnen die Parlamentsberatungen der Änderungen, die wir für wirksamere Abschiebungen in Deutschland brauchen.
Die Union will die Maghreb-Staaten und Indien zu sicheren Herkunftsländern erklären. Wie stehen Sie zu so einem Vorhaben?
Lindner: Mit Georgien und Moldau beschließen wir jetzt zwei sichere Herkunftsländer. Man muss in Erinnerung rufen, dass das der CDU als Regierungspartei nicht gelungen ist. Weiteres kann man prüfen. Insbesondere arbeiten wir ja an Migrationsabkommen, die legale Einwanderung und illegale Migration ordnen.
Der Bundestag hat bereits das Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen. Es sollte der Hebel zur Steuerung der Migration werden, trotzdem kommen noch viele Menschen nach Deutschland. Ist das Gesetz wirkungslos?
Lindner: Nein, Ihre Beschreibung stimmt nicht. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz will leichtere Einwanderung von Qualifizierten, es ist aber kein Instrument gegen illegale Migration. Dafür brauchen wir anderes.
Wie wollen Sie das schaffen?
Lindner: Erstens Migrationsursachen bekämpfen, indem in Herkunftsländern wirtschaftliche Perspektiven geschaffen werden. Zweitens Schutz der EU-Außengrenze. Drittens müssen wir die Attraktivität unseres Sozialstaats reduzieren. Asylbewerber können beispielsweise Geld in die Heimat überweisen. Das könnte eine Finanzierungsquelle der Schlepperkriminalität sein. Als Finanzminister lasse ich meine Fachleute prüfen, wie wir blockieren können, dass von Sozialleistungen Geld in Herkunftsländer überwiesen wird.
Halten Sie das technisch und juristisch für umsetzbar?
Lindner: Ich möchte dafür Wege finden. Generell befürworte ich Sachleistungen statt Geld.
Die CDU reicht der Ampelregierung seit Tagen die Hand für einen Migrationspakt. Sollte die Koalition den Pakt mit der Union eingehen?
Lindner: Gute Vorschläge sind immer willkommen. Ein Pakt ist aber eher mit den Ländern nötig. Denn es geht um den Bundesrat. Beispielsweise wollen auch CDU-geführte Länder das Wachstumschancengesetz blockieren, mit dem wir Investitionen und Forschung in Handwerk, Mittelstand und Industrie stärken. Auch bei Abschiebungen und anderen Fragen sind die Länder zuständig.
Bei Friedrich Merz hat das ja einerseits eine machttaktische und andererseits eine inhaltliche Komponente, wenn er zum Kanzler sagt: Machen Sie eine Asylreform mit uns und nicht mit den Grünen.
Lindner: Ja, gut. Das sind oppositionelle … wie soll ich sagen …
Hampeleien?
Lindner: Nennen wir es: oppositionelles Bodenturnen. Die Bürgerinnen und Bürger können das gut beurteilen.
Kann die Ampel an der Frage nach der richtigen Migrationspolitik platzen?
Lindner: Wir haben uns doch gerade auf eine regelrechte Asylwende geeinigt.
Stärkt der aktuelle Umgang der Regierung mit der Migration die Rechtspopulisten?
Lindner: Wie kommen Sie darauf?
Weil die AfD bei 20 Prozent in den Umfragen steht.
Lindner: Wo ist da der Zusammenhang zu unserer Migrationspolitik?
Dass die Zahl wohl daher rührt, dass viele Menschen mit dem aktuellen Kurs der Ampel unzufrieden sind.
Lindner: Bei Frau Merkel wurde gesagt, ihre Migrationspolitik der offenen Grenze stärke die Rechtspopulisten. Jetzt machen wir das Gegenteil und schaffen Ordnung und Kontrolle.
Vielleicht sehen manche Bürger noch zu viele Ankündigungen und zu wenige Taten.
Lindner: Wir arbeiten daran. Für Ungeduld hätte ich Verständnis, aber sie wäre kein Grund, die AfD zu wählen. Das ist eine Partei, die Deutschland aus der EU führen will. Die EU ist eine Wertegemeinschaft und unser größter Absatzmarkt. Mit der AfD-Politik würde Deutschland politisch isoliert und wirtschaftlich ruiniert.
Im Herbst stehen die Haushaltsverhandlungen an. Was sind aus Ihrer Sicht dabei die größten Konfliktpunkte?
Lindner: Die Bundesregierung hat ja bereits einen Entwurf vorgelegt. Ich erwarte daher keine größeren Konflikte. Einiges muss aktualisiert werden. Mir ist beispielsweise wichtig: Wenn wir das Bürgergeld an die Inflation anpassen, dann muss auch das Steuersystem für die arbeitende Bevölkerung angepasst werden. Deswegen sollte der Grundfreibetrag und damit der Anteil dessen, was man nicht versteuern muss an Einkommen, ab Januar um weitere 180 Euro steigen. Das muss gelingen, obwohl die Einhaltung der Schuldenbremse nicht infrage steht.
Das schränkt Ihre finanzielle Beinfreiheit aber ein. Der Inflation Reduction Act der USA hat ein Investitionsvolumen von 370 Milliarden Dollar – das deutsche Wachstumschancengesetz nur ein Volumen von sieben Milliarden. Warum kleckern Sie, während die USA klotzen?
Lindner: Sie wissen, ich bin ein höflicher Mensch. Aber alles an Ihrer Frage ist falsch.
Klären Sie uns auf.
Lindner: Drei Punkte. Der Inflation Reduction Act der USA umfasst 370 Milliarden Dollar bis etwa 2030. Die sieben Milliarden Euro des Wachstumschancengesetzes beziehen sich auf nur ein Jahr. Bis 2027 sind es 32 Milliarden Euro.
Immer noch weniger als ein Zehntel des Volumens der USA.
Lindner: Die amerikanische Wirtschaft ist ja auch gut siebenmal größer als die deutsche. Zweitens kommen bei uns Investitionen und Finanzhilfen noch hinzu. Allein im nächsten Jahr stehen 112 Milliarden Euro zur Verfügung. Und drittens: Deutschland ist im europäischen Kontext zu sehen, wo wir mit dem Aufbauplan Next Generation EU etwa 800 Milliarden Euro investieren. Unter dem Strich gibt es auch im Vergleich zu den USA keinen Mangel an öffentlichen Geldern.
Es gibt aus Ihrer Sicht also keine Probleme?
Lindner: Im Gegenteil, wir haben große Nachteile im Wettbewerb. Aber eben nicht fehlendes Geld des Staates. Wir sind nicht agil genug. Wir haben zu viel Bürokratie. Uns fehlt ein leistungsfähiger privater Kapitalmarkt. Daran arbeite ich mit meinen Möglichkeiten. Aber wir müssen vor allem aufhören, am Ast zu sägen, auf dem wir sitzen.
Inwiefern?
Lindner: Es gibt fortwährend Vorgaben aus Brüssel, die Investitionen behindern oder lenken. Die Technologieverbote beim Verbrennungsmotor, das Aus für bestimmte Chemieprodukte, ideologische Festlegungen bei den Farben des Wasserstoffs oder eine planwirtschaftliche Klimapolitik bremsen uns aus. Ich unterstütze den französischen Präsidenten Macron, der eine Regulierungspause von Frau von der Leyen gefordert hat.
Am Sonntag wird in Hessen und Bayern gewählt. In Hessen steht die FDP bei sechs Prozent, in Bayern bei drei bis vier. Damit würden Sie nicht in den Landtag einziehen. Wieso sieht es so schlecht in diesen beiden Ländern aus?
Lindner: Warten wir doch mal ab. In Bayern und Hessen gab es beim letzten Mal auch Überraschungen. Im Bund zeigen wir, dass die FDP in der Regierung einen Unterschied macht. Und viele haben nicht vergessen, dass wir in den Landtagen die Einzigen waren, die in Zeiten von Corona die Bürgerrechte und die Verhältnismäßigkeit der Mittel verteidigt haben. So eine liberale Rückversicherung im Parlament ist von hohem Wert.
Aber bei den letzten fünf Landtagswahlen hat die FDP im Vergleich zu ihren vorherigen Wahlergebnissen immer verloren.
Lindner: Solche Phasen gab es in der Geschichte unserer Partei immer mal. Und dann folgten Phasen der Gewinne. Freier Demokrat zu sein, das fordert starke Nerven.
Wie sehen Sie die neue Konkurrenz durch die Freien Wähler?
Lindner: Das ist keine Konkurrenz für uns.
Warum?
Lindner: In manchen Ländern stehen die Freien Wähler weit links, in anderen weit rechts. Wir setzen uns dagegen überall gleich für die Freiheit der Menschen ein.