EU so attraktiv machen, dass niemand überhaupt auf die Idee kommt sie zu verlassen

Christian Lindner
Rheinische Post

CDU-Generalsekretär Peter Tauber wirft er Ihnen Ihre überteuerten Maßanzüge vor. Was kostet denn so ein Maßanzug?

Lindner (zeigt auf sein hellblaues Sakko): Das ist kein Maßanzug. Dennoch bin ich empört über diesen Angriff … (kurze Kunstpause, Lindner lacht) … auf die deutschen Schneider. Ehrliche Handwerksarbeit wäre nicht überteuert.

Ist die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten der Anfang vom Ende der transatlantischen Beziehungen?

Lindner: Der Atlantik darf nicht breiter werden. Die aktuelle Irritation über Herrn Trump darf nicht dazu führen, dass der ohnehin vorhandene Antiamerikanismus noch stärker wird. Ich erwarte daher, dass Angela Merkel schon nächste Woche nach Washington reist, um mit Herrn Trump einen persönlichen Kontakt aufzubauen.

Wie beurteilen Sie Donald Trump?

Lindner: Ich habe kein abschließendes Bild. Wenn ich mich an das teils große Verständnis für Herrn Putin erinnere, wundere ich mich über die scharfe Kritik an Herrn Trump. Beide versuchen, die Interessen ihrer Länder durchzusetzen. Das muss man verstehen und sich dann positionieren. An der transatlantischen Partnerschaft haben wir in sicherheitspolitischer Hinsicht genau so ein Interesse wie am Handel. Es ist die dringlichste Aufgabe der Kanzlerin, einen neuen Deal zu erreichen, wie Herr Trump das nennen würde. Er schätzt sie ja offenbar als wichtigste Führungskraft in Europa. Das muss man nutzen.

Von der Nato scheint er nicht viel zu halten ...

Lindner: Er hat Recht. Die Europäer müssen selbstkritisch erkennen, dass sie ihre Streitkräfte vernachlässigt haben und sich Doppelstrukturen erlauben, die teuer und ineffektiv sind.

Trump ärgert sich darüber, dass hier kaum Chevrolets zu sehen sind ...

Lindner ... deshalb müssen wir ihn daran erinnern, dass wir dafür Google, Apple und Amazon haben, die enorme Gewinne erzielen, ohne sich angemessen an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen. Das geht nicht.

Müssten wir mit Sanktionen im Handel reagieren, wenn Trump mit Strafzöllen für Autos droht?

Lindner: Auf Drohungen reagiert man am besten gar nicht. Europa muss ihn neu überzeugen, dass freier Handel auch in seinem Interesse ist. Die Steuervermeidung von Großkonzernen aus den USA kann gleich mit auf den Verhandlungstisch.

Meinen Sie, dass Trump die Briten gegen Europa ausspielen könnte?

Lindner: Spekulieren hilft nicht. Großbritannien will zwar den Binnenmarkt, nicht aber die Gemeinschaft der G20-Staaten verlassen. Und für die gelten klare Regeln gegen Steuerdumping. Ich rate auch hier, kühlen Kopf zu bewahren. Vor allem Deutschland muss dafür sorgen, dass in Europa bestimmte Regeln eingehalten werden. Die FDP jedenfalls wird im Bundestag der Verletzung europäischer Regeln nicht mehr zustimmen.

Was meinen Sie genau?

Lindner: Beispielsweise beim Euro, bei der Griechenlandhilfe oder bei der Rettung von maroden Banken mit dem Geld der Steuerzahler wie jetzt in Italien.

Rechnen Sie mit weiteren Austritten aus der EU?

Lindner: Nein. Aber mich überzeugt die Logik in Brüssel nicht, die Briten besonders hart zu behandeln, damit keiner folgt. Sozusagen als abschreckendes Beispiel. Ich empfehle die Gegenstrategie: Die EU so attraktiv machen, dass niemand überhaupt auf die Idee kommen kann, die Gemeinschaft zu verlassen. Ich nenne nur digitalen Binnenmarkt, Energie-Binnenmarkt, Förderung von Spitzenforschung, Entbürokratisierung und Sicherung der Außengrenzen. Das würde die EU wieder zu einem echten Faktor werden lassen.

Schauen wir auf NRW: Warum fordern Sie den Rücktritt von Innenminister Ralf Jäger (SPD)?

Lindner: Das Maß ist voll. Er hat unser Vertrauen verloren. Wer den Eindruck erweckt, der Rechtsstaat sei machtlos gegenüber Gefährdern, der kann nicht länger Innenminister sein. Im Fall Amri hätte Jäger handeln können.

Auf welcher Grundlage?

Lindner: Etwa auf der Basis des Aufenthaltsgesetzes hätte man ihn in Haft nehmen können.

Gefährder zu inhaftieren ist offenbar nicht so einfach.

Lindner: Das sagt Herr Jäger. Aber das ist falsch. Die rechtlichen Grundlagen bestehen. Amri, dessen Asylantrag abgelehnt worden war, bewegte sich im salafistischen Umfeld, beging Sozialmissbrauch, hantierte mit 14 Identitäten und war als Krimineller bekannt. So einer hätte bis zur Ausweisung festgesetzt werden können.

Jäger bestreitet das ...

Lindner: Diese Aussage ist falsch. Wir werden dazu auch in Kürze ein Gutachten vorlegen. Wenn jemand vorsätzlich die Abschiebung verhindert, kann man ihn aus dem Verkehr ziehen. Alles andere wäre absurd. Herr Jäger persönlich hätte handeln und eine Abschiebungsanordnung erlassen können.

Also brauchen wir keine schärferen Gesetze?

Lindner: Im Fall Amri hätten alle Gesetze ausgereicht. Die generelle Forderung nach Verschärfung ist ein Ablenkungsmanöver der Bundesregierung. Im Einzelfall gibt es Handlungsbedarf. Ich habe schon letztes Jahr vorgeschlagen, bei Gefährdern die Bewegungsfreiheit durch den Einsatz der elektronischen Fußfessel einzuschränken. Das ist der Unterschied zwischen uns und der Regierung: Die Innenminister wollen die anlasslose Überwachung von uns allen, halten aber die Kontrolle von 500 Gefährdern für nicht durchführbar. Wir sehen es genau andersherum. Der Rechtsstaat muss über wenige ganz viel wissen, aber nicht über alle ganz wenig.

Lehnen Sie den Ausbau der Videoüberwachung ab?

Lindner: Es ist schon jetzt möglich, Gefahrenbrennpunkte zu überwachen. Wo nötig, soll man es tun. Auch diese Forderung lenkt vom eigentlichen Problem ab. Uns fehlen bundesweit 15.000 Polizeibeamte in Deutschland. Die Stärke der Polizei muss sich nach der Sicherheitslage richten. Ich schlage konkret vor, dass zur Nachwuchsgewinnung in Nordrhein-Westfalen auch wieder Realschüler in den Polizeidienst eintreten können.

Sollten Asylbewerber eine Residenzpflicht auferlegt bekommen?

Lindner: Ja.

Sollten wir Asylbewerber, die Leistungen missbraucht haben, sofort ausweisen?

Lindner: Ich bin im Prinzip dafür, dass wir alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen. Die Grünen sorgen dafür, dass Residenzpflicht, Abschiebung und sichere Herkunftsländer zu Fremdworten in NRW geworden sind. Genau das muss sich ändern.

Wir reden jetzt aber mit dem FDP-Vorsitzenden und nicht mit den Grünen. Hat sich Ihr Verhältnis zur Sicherheitsdebatte durch die zunehmende Terrorgefahr geändert?

Lindner: Nein. Die FDP hat in den 1970er Jahren gezeigt, dass sie angesichts des RAF-Terrorismus zu kühler Entschlossenheit fähig ist. Es waren liberale Innenminister, die das BKA schlagkräftig gemacht und die GSG9 gegründet haben, ohne dass Bürgerrechte eingeschränkt wurden.

Eine Fußfessel ist eine Einschränkung der Bürgerrechte …

Lindner: Aber vor dem Hintergrund eines konkreten Anlasses.

Also sollen Gefährder anders behandelt werden als normale Bürger. Auf welcher Rechtsgrundlage wird man zum Gefährder?

Lindner: Das ist eine polizeiliche Einschätzung.

Aber keine richterliche Einschätzung. Was hat das mit Rechtsstaat zu tun?

Lindner: Die Leute werden als Gefährder eingestuft. Mit polizeilichen, aber vor allem auch nachrichtendienstlichen Mitteln kann dann eine Überwachung erfolgen.

Ohne dass sie sich rechtsstaatlich dagegen wehren können?

Lindner: Sie können auch in den Fokus der Sicherheitskräfte geraten, wenn sie eine salafistische Moschee besuchen. Das Entscheidende ist: Gegen jede polizeiliche Maßnahme, die die Freiheit einschränkt, stehen den Bürgern die rechtsstaatlichen Wege offen.

Das ist rechtsstaatlich aber problematisch argumentiert. Was würde Frau Leutheusser-Schnarrenberger dazu sagen? Sie fordern, dass eine Personengruppe gesondert behandelt wird, nur weil Behörden sie „Gefährder“ nennen …

Lindner: Wir haben zur Kontrolle der Geheimdienste die parlamentarischen Gremien. Überwachungsmaßnahmen laufen ja über die G10-Kommission. Grundrechtseingriffe erfolgen nicht durch Abnicken von Sachbearbeitern, sondern stehen vor hohen Hürden.

Die Einstufung zum Gefährder erfolgt durch die Polizei. Die G10-Kommission kommt erst bei einer telefonischen oder noch weitergehenden Überwachung ins Spiel …

Lindner: Die alleinige Einschätzung einer Person als Gefährder, also dass bestimmte Tatsachen darauf hindeuten, dass mit politisch motivierten Straftaten von erheblicher Bedeutung zu rechnen ist, erfolgt durch die Polizei. Konkrete Maßnahmen gegen diese Personen unterliegen immer den Grundsätzen unsers Rechtsstaats. Ich bin offen dafür, hier über die Kompetenzen der G10-Kommission zu sprechen. Und für den erweiterten Einsatz der elektronischen Fußfessel wird man eine gesetzliche Grundlage schaffen müssen, die einen Richtervorbehalt umfasst. Entscheidend ist, dass wir diese Form der notwendigen Überwachung dieser Leute rechtsstaatlich sicherstellen.

Die Öffentlichkeit ruft angesichts des Terrorismus nach mehr Staat. Ist das ein schlechtes Klima für die Bürgerrechtspartei FDP?

Lindner: Gerade wenn die Regierung regelrecht die Nerven verliert und in hektischen Aktionismus verfällt, braucht es eine Stimme, die zur Vernunft rät. Wir achten die Verfassung und lassen uns nicht treiben, auch nicht von Terroristen. Wir arbeiten nüchtern an besseren Lösungen in der Sache: Stärkung der Polizei, Verbesserung der Behördenkooperation, Durchsetzung des Rechts. Mögliche gesetzliche Veränderungen prüfen wir ganz auf Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit hinsichtlich der Einschränkung von Freiheit.

Warum hat die FDP 2009 und 2013 nicht eine Neuordnung der föderalen Sicherheitsarchitektur gefordert?

Lindner: Haben wir doch! Auf Drängen der FDP wurde eine Regierungskommission eingesetzt. Das Ergebnis damals: Stärkung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Schaffung von länderübergreifenden Strukturen, aber Beibehaltung des Föderalismus. Das wäre rechtlich und politisch umsetzbar. Ich habe kein Verständnis, dass Innenminister de Maizière vier Jahre lang einen Bogen um das Thema gemacht hat und jetzt schlechtere Vorschläge macht.

Die Union in NRW fordert die Schleierfahndung. Sie auch?

Lindner: Über den Nutzen der Schleierfahndung wird genauso intensiv debattieret, wie über ihre mögliche Verfassungswidrigkeit. Ich habe daher keine abschließende Meinung, halte sie aber nicht für das Allheilmittel, wie es Konservative gerne tun.

Was soll mit den Steuerüberschüssen im Bund passieren?

Lindner: Der Staat schwimmt so sehr im Geld, dass es nicht einmal Rot-Grün in NRW gelingt, neue Schulden zu machen. Auf der anderen Seite haben wir den niedrigen Zins, die Rückkehr der Inflation und eine historisch hohe Steuerquote. Wann, wenn nicht jetzt, muss über die Entlastung der Bürger gesprochen werden? Wenn die Union jetzt nichts tut, sondern nur auf die Zeit nach der Wahl verweist, ist das völlig unglaubwürdig. Wir haben so unsere Erfahrung mit der Verlässlichkeit der CDU-Zusagen in der Steuerpolitik.

Was ist Ihr konkreter Vorschlag?

Lindner: Wir sollten den Haushaltsüberschuss von sechs Milliarden Euro nutzen, um den Solidaritätszuschlag abzuschmelzen. Das kann der Bundestag alleine, ohne Zustimmung der Länder, beschließen. Dazu sollte die Freigrenze beim Solidaritätszuschlag spürbar erhöht werden. Das wäre eine schnelle und wirksame Entlastung für die Mitte der Gesellschaft. Das ist ein Gebot der Fairness in Zeiten, in denen die Bürger unter den niedrigen Zinsen leiden und der Staat davon profitiert.

Was ist für Sie ein mittleres Einkommen?

Lindner: In etwa bis zum Ingenieur. Bis 50.000 Euro zu versteuerndem Einkommen könnte der Solidaritätszuschlag in diesem Jahr komplett entfallen, wenn man den Haushaltsüberschuss nutzt. Das Versprechen der gesamten deutschen Politik, dass er 2019 auslaufen sollte, ist leider bei den anderen Parteien in Vergessenheit geraten. Wir wollen das einhalten.

Ist das Auslaufen des Solis für Sie eine Bedingung für eine Koalition auf Bundesebene?

Linder: Es muss generell die Belastung der Menschen zurückgehen, und zwar bei Steuern und Sozialabgaben. Da muss die Richtung stimmen. Und wir stimmen keiner Verletzung der europäischen Verträge mehr zu. Keine Rettung von Banken mehr zu Lasten der Steuerzahler, kein weiteres Hilfspaket für Griechenland ohne, dass Griechenland zuvor die Bedingungen dafür erfüllt.

Die Ampel haben Sie in NRW ausgeschlossen, CDU und FDP haben in den Umfragen keine Mehrheit. Was bleibt außer Jamaika?

Lindner: Abwarten. Wir spüren gerade Aufwind. Ich sehe SPD und Grüne stark in der Defensive. Es kann viel passieren. Klar ist aber, dass wir für eine Ampel nicht zu haben sind, weil inhaltlichen Differenzen zu SPD und Grünen zu groß sind. Und es wäre vermessen zu glauben, als neuer Partner einer Regierung, die seit sieben Jahren regiert, das Ruder um 180 Grad herumreißen zu können.

Was wären Ihre Bedingungen an die Grünen für eine Jamaika-Koalition?

Lindner: Der Auftrag zur Regierungsbildung geht an die stärkste Partei. Das wird nach Lage der Dinge nicht die FDP sein. Daher ist es nicht meine Aufgaben, Bedingungen an die Grünen zu stellen. Unser Ziel bleibt eine Generalrevision der grünen Schulpolitik in NRW. Aus der guten Idee Inklusion wurde ein ideologischer Scherbenhaufen, das Gymnasium wurde vernachlässigt, es gibt keine Initiative für mehr Leistungsfreude und mehr Freiheit in der einzelnen Schule, für moderne digitale Ausstattung, gegen den Unterrichtsausfall. Das wollen wir ändern.

Will die FDP die Schulpolitik selbst verantworten?

Lindner: Es geht um Inhalte, nicht um Personalpolitik.

Ist die CDU Ihr Wunschpartner?

Lindner: Wir haben 2005 bis 2010 im Land gut zusammengearbeitet. Deshalb steht die Union uns unverändert am nächsten. Aber ich habe das Gefühl, dass die CDU die Grünen zu sehr schont. Umweltminister Remmel ist eine Wachstumsbremse für unser Land. Da ist die Union sehr zahm in der Kritik. Die CDU verweigert sich auch, gegen den Gipfelpunkt der grünen Gender-Ideologie vor dem Verfassungsgericht zu klagen, nämlich gegen das neue Dienstrecht in NRW. Demnach müssen Frauen sogar bei schlechterer Qualifikation bevorzugt werden. Ich halte nichts von so einem vorauseilenden Koalitionsgehorsam. Wir sind jedenfalls Garant für einen Politikwechsel.

Ist Angela Merkel zum Problem für die CDU geworden?

Lindner: Es gibt schon so was wie einen Merkel-Malus, der die CDU belastet. Denn auch bei sehr vielen bürgerlichen Wählern, die zur CDU neigen, ist das Unverständnis über die Flüchtlingspolitik enorm. Es wird nicht verstanden, dass es immer noch kein Einwanderungsgesetz gibt. Merkels Flüchtlingspolitik war falsch und in Teilen chaotisch. Auch die CDU spricht nur noch über das Verteilen, aber nicht mehr das Erwirtschaften unseres Wohlstands. Die CDU wird immer verwechselbarer nicht mit der alten SPD, sondern mit den Grünen. Und wer Kritik daran übt, wird in die rechte Ecke gerückt. Die CDU ist Kritik aus der Mitte nicht mehr gewohnt und betrachtet das als Majestätsbeleidigung, weil sie im Bundestag ja nur noch von links, also von Linken und von den Grünen attackiert werden.

Sie kritisieren Frau Merkel deutlich schärfer als ihren Stellvertreter Armin Laschet. Was ist der Unterschied?

Lindner: Armin Laschet trägt nicht die Verantwortung für die falsche Wirtschafts- und Flüchtlingspolitik im Bund.

Er könnte den Einfluss des größten CDU-Landesverbandes in Berlin stärker zur Geltung bringen …

Lindner: … ja, selbstverständlich würde ich mir das wünschen. Wir bekommen von Berlin einen Klimaschutzplan bis 2050 serviert, der keinen Einfluss auf das Weltklima hat, aber möglicherweise eine Billion Euro Kosten in Deutschland verursacht. Da hätte ich von Armin Laschet schon mehr Widerstand erwartet.

Unterstützt die FDP einen möglichen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier?

Lindner: Herr Steinmeier trifft unsere Mitglieder der Bundesversammlung am kommenden Montag zum Gespräch in unserer Parteizentrale. Danach entscheiden wir.