Es geht uns um inhaltliche Trendwenden

Christian Lindner
Handelsblatt

Herr Lindner, die Wahl liegt fast zwei Wochen zurück. Wann haben Sie zuletzt mit der Kanzlerin gesprochen?

Lindner: Wir sind in regelmäßigem Kontakt. Es gibt einen ständigen bilateralen Kurzkontakt zu CDU, CSU und Grünen.

Trotzdem gibt es noch keinen Termin für Sondierungsgespräche.

Lindner: Ich habe Verständnis, dass die Union nach einem solchen Wahlergebnis intern Klärungsbedarf hat.

Der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, rechnet nicht mit einer Beilegung der Differenzen mit der Schwesterpartei CDU am Sonntag. Glauben Sie an eine Einigung?

Lindner: Das kann Alexander Dobrindt besser einschätzen als ich.

Wie lange kann das noch dauern?

Lindner: Das weiß ich nicht. Wir sind gesprächsbereit. Jeder muss wissen, dass Verzögerungen nicht später durch mangelnde Sorgfalt aufgeholt werden können. Uns geht es um inhaltliche Trendwenden. Und über die wird man intensiv sprechen müssen.

Hat die Union die Sorgen der Bürger bei Themen wie Einwanderung und Flüchtlingspolitik unterschätzt?

Lindner: Das Ergebnis der Bundestagswahl ist eindeutig. Die Äußerungen aus der Union, man habe in den letzten vier Jahren nichts falsch gemacht, entsprechen nicht meiner Wahrnehmung. Die Menschen erwarten eine andere Einwanderungspolitik. 60 Prozent derjenigen, die die AfD gewählt haben, haben das nicht aus Überzeugung, sondern aus Protest getan. Die sind nur zurückzugewinnen, wenn ein Politikwechsel gelingt.

Ist der Ruf der CSU nach einer Obergrenze die richtige Lösung?

Lindner: Die Obergrenze ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Aber ich habe Verständnis für die CSU, wenn sie mehr Kontrolle und Ordnung fordert. Wir fordern klare Regeln für eine geordnete Zuwanderung schon seit zwei Jahren.

Welche Regeln meinen Sie?

Lindner: Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz. Dabei geht es auf der einen Seite um Regeln für die qualifizierte Zuwanderung. Es geht aber auf der anderen Seite auch um klare Regeln für Abschiebungen, die Einordnung der Maghreb-Staaten wie Tunesien als sichere Herkunftsstaaten und die zeitliche Begrenzung der Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen. Wir müssen auch den Familiennachzug neu ordnen.

Das ist alles recht technisch. Aber die Frage, die viele Leute umtreibt, ist doch: Wie wird die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, reduziert? Wie wollen Sie das erreichen?

Lindner: Durch die Schließung der Mittelmeerroute und Auffangeinrichtungen in Afrika, wie Präsident Macron das vorgeschlagen hat. Die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, muss reduziert werden. Das sage ich seit zwei Jahren. Ich kann noch plastischer formulieren: Wir brauchen mehr Boris Palmer und weniger Claudia Roth. Das heißt, wir müssen den Blick darauf richten, welche Kapazitäten unser Land hat, um den Menschen gerecht zu werden.

Aber wie kann die CSU dem denn gesichtswahrend zustimmen, wenn es keine zahlenmäßige Obergrenze gibt?

Lindner: Ich befürchte, dass es Schwierigkeiten für CSU und Grüne gleichermaßen gibt.

Kann Jamaika eine stabile Regierung werden, wenn man sich die Unterschiede der Positionen und der schon gezogenen roten Linien ansieht?

Lindner: Genau das muss man prüfen. Freie Demokraten, CDU, CSU und Grüne haben jeweils eigene Wähleraufträge, die sich teilweise widersprechen. Daraus ergibt sich nicht automatisch ein gemeinsames Projekt. Ich kann nur davor warnen, dass alle Unterschiede verwischt werden. Die AfD ist nur deshalb so stark geworden, weil Frau Merkel in den letzten vier Jahren einen schwarz-rot-grünen Mix angerührt hat. Union, SPD und Grüne hatten die vernünftige Mitte preisgegeben. Diesen Platz wollen wir jetzt wieder besetzen.

Und wenn so eine Profilbildung für die FDP in der Regierung nicht gelingt?

Lindner: Dann gehen wir in die Opposition.

Allerdings gäbe es dann keine alternative Regierungskonstellation, da die SPD bereits gesagt hat, dass sie in die Opposition geht. Wie schlimm wären in der jetzigen Situation Neuwahlen?

Lindner: Über Neuwahlen spekuliere ich nicht. Wir schauen, was bei unseren Gesprächen herauskommt. Und wenn dabei nichts herauskommt, gehe ich davon aus, dass alle demokratischen Parteien die Lage noch einmal neu bewerten.

Ein Streitpunkt könnte auch die Europapolitik der FDP sein. Der scheidende Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble musste dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron jüngst versichern, dass auch eine Jamaika-Regierung europafreundlich sein wird.

Lindner: Es gibt keine europakritischen Äußerungen der FDP. Die FDP ist die Partei von Hans-Dietrich Genscher. Eine andere Einordnung im europäischen Ausland kann nur mit einer Unkenntnis unserer Position zusammenhängen.

Wie wichtig ist für Sie die deutsch-französische Achse?

Lindner: Wir haben mit Macron ein Momentum für eine Veränderung in Europa. Das darf man nicht ungenutzt lassen. Es kann kein starkes Deutschland in einem schwachen Europa geben. Der Weg zur Stärke führt aber über Solidität und Wettbewerbsfähigkeit und nicht über die Verstärkung einer Umverteilungspolitik, die ihre Ziele schon jetzt nicht erreicht hat.

Gab es schon ein Treffen mit Macron?

Lindner: Es gab noch keine Gelegenheit für eine persönliche Begegnung.

Was halten Sie von den jüngsten Vorschlägen der Europäischen Union für eine Reform der Einlagensicherung?

Lindner: Eine Bankenunion, die komplett Risiken vergemeinschaftet, lehne ich ab. Die vergangenen Jahre haben uns vor Augen geführt, dass viele Zusagen nicht eingehalten worden sind. Das führt zu Verlierern in Europa, nämlich denjenigen, die mit ihrer Bonität haften und andere aus der Verantwortung nehmen, ihre Wettbewerbsfähigkeit und soliden Finanzen wiederherzustellen.

Ist das Insolvenzrecht für Staaten ein Herzensanliegen der FDP?

Lindner: Ja. Das gehört zu einem Set von Regeln, die wir neu setzen müssen, um die Währungsunion dauerhaft zu stabilisieren. Wir brauchen zudem eine Austrittsmöglichkeit aus dem Euro, ohne dass die Europäische Union verlassen werden muss. Das schafft mehr strategische Optionen. Und wir plädieren für eine unabhängige Institution, die fern von politischem Opportunitätsdenken objektiv auf die Zahlen und Stabilitätsziele achtet. Diese Aufgabe sollte nicht mehr bei der Europäischen Kommission liegen.

Und all das ist mit den Grünen und der Union zu machen?

Lindner: Das müssen Sie Grüne und Christdemokraten fragen.

Es ginge auf jeden Fall nur, wenn man das Bundesfinanzministerium übernehmen würde …

Lindner: Uns ist eine andere Finanzpolitik wichtiger als ein neuer Minister.

Aber Inhalte kann man eben nur mit Posten und Personen umsetzen. Das eine geht nicht ohne das andere.

Lindner: Es macht keinen Sinn, über Personen und Posten zu spekulieren, wenn man bei den Inhalten noch gar nicht klar ist.

Gibt es denn in der FDP Kandidaten, die die großen Fußstapfen von Herrn Schäuble ausfüllen könnten?

Lindner: Ich habe großen Respekt vor der Lebensleistung von Wolfgang Schäuble. Dass er als Finanzminister solche Lorbeerkränze umgehängt bekommt, hängt aber auch damit zusammen, dass die bisherige Opposition aus Grünen und Linken so wirkungslos war. Mich hat jedenfalls nicht beeindruckt, was in den vergangenen vier Jahren finanzpolitisch passiert ist.

Was kritisieren Sie?

Lindner: Herr Schäuble hat sich in vielen Europafragen nicht gegen die Kanzlerin durchgesetzt. Denken Sie an das dritte Hilfspaket für Griechenland, das er ursprünglich so nicht machen wollte. Es hat keinerlei Entlastung der Bürger in den vergangenen vier Jahren gegeben, obwohl die Mittelschicht durch kalte Progression und Niedrigzinsen belastet war. Bei den Fragen der Finanzmarktregulierung musste unsere liberale EU-Wettbewerbskommissarin Margarethe Vestager aktiv werden. Die letzte Regierung hat es auch nicht realisiert, dass es in Deutschland eine steuerliche Forschungsförderung gibt oder mehr Chancenkapital für Unternehmensgründungen. Und einfacher ist das Steuersystem sowieso nicht geworden. Also bei allem Respekt vor Herrn Schäuble als Person, das waren keine bombastischen vier Jahre. Die schwarze Null ist doch ebenfalls von der schwarz-gelben Regierung erarbeitet worden.

Hält die FDP denn an der schwarzen Null fest?

Lindner: Selbstverständlich. Deutschland ist ein Stabilitätsanker in Europa, und das hängt mit unserem ausgeglichenen Haushalt zusammen. Die Aufnahme von neuen Schulden muss ausgeschlossen bleiben. Entlastung und Investitionen müssen wir anders ermöglichen.

Wie wollen Sie das erreichen?

Lindner: Durch das, was in den vergangenen Jahren nicht möglich war: Disziplin bei Subventionen und neuen Staatsausgaben.