Epidemiologisch sind die vorgeschlagenen Maßnahmen fragwürdig

Christian Lindner
Deutschlandfunk

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Herr Lindner, bedeutet der vorliegende Entwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes eine Vollbremsung bei der Corona-Bekämpfung?

Lindner: Es ist eine Fortsetzung der Politik, die schon seit 14 Monaten praktiziert wird. Die Antwort auf die Pandemie ist der Stillstand. Was in der ersten Phase der Bekämpfung des Virus richtig war, das ist zu wenig nach über einem Jahr. Wir haben jetzt intelligentere Mittel. Es gibt Hygienekonzepte, die erprobt werden. Wir haben die Möglichkeit, zu testen und testbasiert dann auch Öffnungen verantwortungsvoll durchzuführen. All das reflektiert dieser vorliegende Gesetzentwurf leider nicht.

Trotzdem, Herr Lindner, sind sich eigentlich viele doch einig. Nach der Kakophonie in den letzten Monaten, wo Bund und Länder teilweise gemacht haben was sie wollten, soll es jetzt einheitliche Regeln geben, und die sollen auch durchgesetzt werden. Warum sieht die FDP das so kritisch?

Lindner: Ganz im Gegenteil sehen wir einheitliche Regeln als notwendig an. Wir haben selbst im Dezember des vergangenen Jahres bei der damals anstehenden Novelle des Infektionsschutzgesetzes klare Wenn-Dann-Regeln vorgeschlagen und auch in den Bundestag als Gesetzentwurf eingebracht. Jedem Infektionsszenario, jedem Pandemiegeschehen muss konkret eine Maßnahme oder ein Bündel von Maßnahmen zugeordnet werden, wenn es um die Einschränkung von Grundrechten geht. Nur die konkret jetzt vorgeschlagenen Maßnahmen, die sind verfassungsrechtlich fragwürdig und teilweise epidemiologisch noch nicht einmal wirksam. Ich denke an die nächtliche Ausgangssperre. Wenn ein geimpftes Paar daran gehindert wird, einen Abendspaziergang zu machen, dann hat das keine Auswirkung auf das Infektionsgeschehen, aber massive Einschränkungen von Grundrechten zur Folge.

Noch mal zur Klarstellung. Geht es Ihnen grundsätzlich um die Ausgangssperren, oder geht es Ihnen auch um die Inzidenz-Zahl 100? Denn erst ab der sollen ja diese Ausgangssperren greifen.

Lindner: Ja sowohl als auch. Ausgangssperren sehen wir bis auf wirklich wenige Ausnahmefälle als unverhältnismäßig an, weil die Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen nicht gegeben oder zumindest sehr gering sind. So haben ja auch Obergerichte bereits geurteilt. Es geht in Wahrheit ja darum, Ansammlungen von Menschen, Wohnungspartys und anderes zu unterbinden. Dafür kann man aber keine generelle Ausgangssperre verhängen. Da gibt es mildere Mittel, um das zu erreichen.

Auf der anderen Seite, Herr Lindner, wenn ich da kurz eingreifen darf. Viele andere Länder haben das ja auch gemacht, Frankreich, Spanien oder Portugal – teilweise, muss man sagen, ja durchaus mit Erfolg bei Ausgangsbeschränkungen.

Lindner: Es gibt Studien, die belegen, welchen Beitrag dazu die nächtlichen Ausgangssperren geleistet haben. Das ist überschaubar. Und selbst wenn, sind wir der Staat des Grundgesetzes und bei uns gelten die Grundrechte individuell für die Bürgerinnen und Bürger. An denen hat sich der Staat zu orientieren. Sie sprachen auch die 100er-Inzidenz an. Dieser Wert ist nicht hinreichend geeignet, um das Pandemiegeschehen abzubilden. Er schwankt, er ist politisch gegriffen. Allein die Frage, warum sind es 100, warum nicht 75, warum nicht 125, das ist ein politisch gegriffener, kein epidemiologisch begründeter Wert. Zudem drückt er ja gar nicht aus, wenn in einem Landkreis – die Kritik des Landkreistages tauchte ja im Beitrag eben auf – es einen Cluster-Ausbruch gibt – wir hatten solche in einzelnen Betrieben etwa der fleischverarbeitenden Industrie –, dann ist das etwas völlig anderes als ein diffuses individuelles Ausbruchsgeschehen, und deshalb ist dieser Wert alleine nicht hinreichend bestimmt.

Das habe ich noch nicht ganz verstanden. Sie sagen, grundsätzlich lehnen wir Ausgangsbeschränkungen ohnehin ab. Jetzt haben Sie gesagt, die Zahl 100 ist eine politische Zahl. In der Tat: die ist virologisch nie gesetzt worden. Aber wenn andere Kriterien noch dazukämen, wie zum Beispiel Auslastung der Intensivbetten, könnte dann die FDP den Beschluss mittragen, oder sagen Sie grundsätzlich, Ausgangsbeschränkungen gehen für uns gar nicht?

Lindner: Wenn es ein Kriterienraster gibt von der Auslastung der Intensivmedizin, der Positivquote an der Gesamtzahl der Tests und weiterem mehr – wir haben im Februar ein solches Kriterienraster in den Bundestag eingebracht –, dann wäre das ein Fortschritt. Daran kann man dann Maßnahmen bemessen. Beispielsweise gibt es Handel, gibt es Handel im Modell der Abholung vorbestellter Waren, gibt es Außengastronomie. Heute öffnet in Schleswig-Holstein Außengastronomie. Daran kann man das bemessen. Die Ausgangssperre pauschal sehen wir prinzipiell kritisch und hätten sie nicht in einen Maßnahmenkatalog aufgenommen.

Aber wenn der Bund bei dieser Position bleibt und sagt, wir bestehen auf der Ausgangssperre, heißt dies dann im Umkehrschluss, die FDP wird nicht zustimmen?

Lindner: Das ist korrekt. Und man muss noch eine weitere Frage aufwerfen. Ich habe mich gewundert, dass Herr Söder und Herr Laschet ja auch für dieses Bundesgesetz plädieren. Meine Frage an die Herren ist, warum setzen Sie das, was Sie offenbar als notwendig erachten, nicht in Ihren eigenen Ländern um. Ganz im Gegenteil! Das bayerische Landeskabinett hat in der vergangenen Woche noch bei einer Inzidenz-Zahl von 100 bis 200 das sogenannte Termin-Shopping nach negativem Test als möglich beschlossen. Jetzt plötzlich, wenige Tage später, plädiert Herr Söder für völlig andere bundesgesetzliche Regelungen. Wenn er sie für notwendig erachten würde, um das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu bekommen im Freistaat Bayern, könnte er sie ja im eigenen Lande umsetzen. Deshalb ist hier sehr viel Politik im Spiel. Ich glaube, es ist sehr viel Symbolpolitik sogar im Spiel. Länder, Kommunen wären bereits in der Lage, Maßnahmen umzusetzen, wenn das Pandemiegeschehen es nötig macht.

Herr Lindner, passiert jetzt nicht auch wieder das, was wir alle von der Bund-Länder-Konferenz kennen? Im Prinzip ist man sich eigentlich einig, aber wegen des Streit um die Details macht am Ende doch jeder das, was er will, oder verweigert die Zustimmung?

Lindner: Nein! Da bin ich nicht Ihrer Meinung. Es ist ähnlich wie bei der Osterruhe. Es gibt ein sehr schlecht im Detail und sehr schlecht grundsätzlich vorbereitetes Vorhaben, das am Samstagmittag Ländern und den Bundestagsfraktionen zugestellt worden ist mit der Bitte, doch bis Sonntag, zwölf Uhr, Verbesserungsvorschläge zu machen. So kann man nicht arbeiten. Das ist kein geordnetes Verfahren. Ich sage noch mal: Epidemiologisch sind die Maßnahmen fragwürdig und sie sind verfassungsrechtlich in hohem Maße angreifbar. Deshalb ist das kein Beitrag zur Pandemiebekämpfung, wie er nach über 14 Monaten eigentlich notwendig wäre.

Herr Lindner, gestatten Sie mir noch eine ganz andere Frage zu einem ganz anderen Thema.

Lindner: Ja.

Mit wem würde denn die FDP lieber regieren, wenn es denn so käme, mit einem Kanzler Laschet oder einem Kanzler Söder?

Lindner: Mit dem Ministerpräsidenten Laschet arbeiten wir ja erfolgreich in Nordrhein-Westfalen zusammen. Aber wir haben keine Präferenz nur für einen Spitzenkandidaten der Union. Die Frage müssen die Unions-Parteien mit sich selber beantworten. Und vor allen Dingen – darauf hat Herr Laschet ja hingewiesen – muss die Union ihre Kursfragen klären: Was will die Union für das Land? Und daraus ergibt sich dann eine Nähe oder Ferne.