Die Welt muss jetzt zusammenhalten

Christian Lindner
FOCUS Online

Herr Lindner, wir sehen uns normalerweise entweder in Ihrem Büro oder bei uns in der Redaktion zum Interview. Jetzt telefonieren wir. Auch das zeigt schon, dass die Zeit gerade alles andere als normal ist. Drei Ihrer Fraktionskollegen sind mit Corona infiziert. Wie geht es ihnen?

Lindner: Es geht den Kollegen den Umständen entsprechend okay. Die Symptome sind für sie erträglich.

Haben Sie Kontakt zu ihnen?

Lindner: Ja, ich bin natürlich mit den drei betroffenen Kollegen im Kontakt. Unsere Fraktion arbeitet seit der vorigen Woche allerdings ohnehin fast komplett im Home-Office. Wir haben ja schon vor Jahren unsere Arbeit in ein Intranet übertragen. So betrachtet sind wir da in mobilem Arbeiten geübt.

Haben Sie selbst sich schon auf Corona testen lassen? Das wollten Sie ja ursprünglich heute tun.

Lindner: Nein, die Parlamentsärztin hat gebeten, davon abzusehen, da ich der Kategorie zwei zugerechnet werde …

… Kategorie zwei?

Lindner: Nach der Kategorisierung der zuständigen Behörde hatte ich keinen direkten, unmittelbaren Kontakt zu einem Infizierten. Und: Ich habe keine Symptome. Man möchte die Kapazitäten auf diejenigen konzentrieren, bei denen es akuten Bedarf für einen Test gibt. Ich bin so oder so überwiegend zu Hause.

Herr Lindner, nicht nur Deutschland und Europa, sondern die ganze Welt befindet sich in einer Ausnahmesituation. Die Gesundheit von Millionen Menschen ist akut bedroht, die Weltwirtschaft steht auf die Kippe. Wird der Vergleich mit der Bankenkrise dem Ausmaß der aktuellen Krise überhaupt gerecht?

Lindner: Wir erleben gerade sicherlich die größte Herausforderung seit Jahrzehnten. Es geht um Menschenleben, um das soziale Band unserer Gesellschaft und das Verhältnis der Nationen auf der Welt zueinander. Bei einer Finanzkrise kann man mit der Notenbank reagieren oder Banken verstaatlichen. Jetzt aber geht es um eine realwirtschaftliche Krise, bei der Angebot und Nachfrage gleichzeitig ausfallen. Deshalb muss man auch sehr viel entschiedener einschreiten.

Die FDP ist ja eigentlich sehr zurückhaltend, wenn es um Rufe nach dem Staat geht. „Wir setzen auf individuelle Verantwortung, nicht auf staatliche Versprechen“, heißt es in den Karlsruher Freiheitsthesen. Muss jetzt der Staat ran?

Lindner: Das ist kein Widerspruch. Wir machen uns stark für einen Staat, der in seinen Kernkompetenzen handlungsfähig ist. Genau die sind gerade gefragt.

Jetzt also ist die Lage da, dass sogar die FDP nach dem Staat ruft?

Lindner: Ja, die Lage ist da. Natürlich. Wir brauchen einen Staat, der in der Gesundheitsversorgung das Wesentliche bereitstellt und der ökonomisch in dieser dramatischen Krise der Realwirtschaft seine fiskalischen Möglichkeiten voll in die Waagschale wirft, damit nicht auch noch eine Vertrauenskrise entsteht. Jetzt ist der Staat als Anker gefragt.

Chinas Wirtschaft bricht ein, Italien steht seit Wochen komplett still, in Deutschland werden immer mehr Wirtschaftsbereiche auf „null“ geschaltet. Ist eine ausgewachsene Weltwirtschaftskrise unausweichlich?

Lindner: Das Wort verwende ich nicht gern. Klar ist: Es gibt einen dramatischen Einbruch der Weltwirtschaft. Und wie der Weg zurück in die Normalität sein wird, ist nicht absehbar. Deshalb braucht es entschlossenes staatliches Handeln – vor allem, um eine Pleitewelle zu verhindern.

Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) wollen für Deutschland das ganz große Geschoss, die „Bazooka“, auspacken. Sie wollen Firmen Liquidität zur Verfügung stellen, um Wachstum und Beschäftigung zu sichern. Wie sehen Sie das?

Lindner: Die Absichtserklärungen habe ich gehört. Sie müssen aber rasch konkretisiert werden. Nicht nur große Unternehmen und die Industrie, sondern auch Handel und kleine Gewerbetreibende wollen bald ganz genau wissen, woran sie sind. Ich denke auch an das Handwerk und die vielen Soloselbständigen.

Was ist Ihnen nicht konkret genug? Mehr als die Zusage, „unbegrenzt“ bei Liquiditätsengpässen zu helfen, kann die Bundesregierung doch gar nicht bieten.

Lindner: Die Dimension ist richtig. Darauf zielt meine Kritik nicht. Aber die Frage ist: Kommt das Geld da an, wo es schnell hinmuss? Gastronomische Betriebe sind schon enorm eingeschränkt und werden wahrscheinlich noch mehr eingeschränkt. Es gibt eine Frist von drei Wochen. Wer zahlungsunfähig wird und nicht in dieser Zeit zum Amt geht, macht sich strafbar …

Stichwort: Insolvenzverschleppung …

Lindner: … genau! Deshalb muss jetzt alles ganz zügig gehen. Die Finanzämter müssen zu schnellen Zentralen des Gegenlenkens werden. Bisher ist nur von zinsfreien Steuerstundungen die Rede. Wir brauchen aber mehr.

Was genau wollen Sie noch?

Lindner: Wir brauchen eine Art negative Gewinnsteuer. Ein Unternehmen, das einen Umsatzeinbruch hat, muss sich beim Finanzamt melden können. Dann überweist das Finanzamt eine Liquiditätshilfe auf Basis der letzten Steuerbescheide.

Also schnelle Hilfe berechnet nach dem Modell „Pi mal Daumen“?

Lindner: Ja. Später kann das dann spitz abgerechnet werden. Jetzt aber müssen wir schnell dem Bürger etwas vom Finanzamt zukommen lassen. Tempo hat Vorrang vor der exakten Berechnung. Und viele Unternehmen werden selbst, wenn die Liquidität gesichert ist, in eine Schieflage geraten. Denn viele Waren, die jetzt nicht erstanden werden, werden auch später nicht gekauft. Für das Brötchen, das man heute nicht kauft, kauft man ja nicht später drei oder so. Deshalb halten wir eine rückwirkende Steuersenkung für dringend angezeigt. Genau jetzt.

Zeigt nicht die aktuelle Lage, dass das Konstrukt „Soloselbständige“ ohnehin auf sehr wackligen Füßen steht?

Lindner: Das sehe ist definitiv nicht so. Es gibt viele Menschen – im IT- oder im künstlerischen Bereich –, die gern als Freelancer arbeiten. Sie haben jetzt nur den Nachteil, dass sie weder von Kurzarbeitergeld noch von staatlichen Krediten profitieren. Für sie und für Kleingewerbetreibende – da denke ich zum Beispiel auch an Kioskbesitzer – brauchen wir deshalb zügigst andere Hilfen.

Besteht da nicht die Gefahr, dass sich jetzt ein paar Firmen zu sanieren versuchen, die vorher ohnehin auf der Kippe standen?

Lindner: Es mag solche Einzelfälle geben. Aber es geht um Akuthilfe, um Schlimmeres zu verhindern. Der volkswirtschaftliche Nutzen, eine Pleitewelle abgewendet zu haben, ist sicher höher zu bewerten.

Bundeswirtschaftsminister Altmaier schließt die Verstaatlichung wichtiger Unternehmen nicht aus.

Lindner: Das ist eine alte Idee Altmaiers, die in neuem Gewand zurückkommt. Er hat die Option schon in seiner „Industriestrategie“ erwogen. Ich sehe da aktuell keinen Anwendungsfall.

Kann man nicht jetzt festhalten, dass die schwarze Null schon Makulatur ist?

Lindner: Ich jedenfalls erwarte nicht, dass die schwarze Null zu halten ist. Was an Maßnahmen nötig und an Steuerausfällen zu erwarten ist, übersteigt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Spielräume im Haushalt. Wir sind in einer Ausnahmesituation. Das erkennt auch die FDP an.

Die Krankenhäuser sollen sich jetzt weitestgehend auf die Corona-Bekämpfung konzentrieren und zum Beispiel auf planbare Eingriffe verzichten. Die Einnahmeausfälle sollen dann ausgeglichen werden. Denken Sie, das Geld reicht?

Lindner: Wir sind in einer Situation, in der man sagen muss: Was immer es kostet, Menschenleben zu schützen, das muss es uns wert sein. Wir müssen unsere Gesellschaft zusammenhalten und ein großes Sicherheitsnetz für Gesundheit und Arbeitsplätze spannen. Wir nutzen die Möglichkeiten des Staates, um Schaden von unserem Land abzuhalten.

Es gibt zwar einen Krisenstab des Bundes. Aber im Kern macht jedes Bundesland sein Ding. Egal, ob es um Regeln der Kliniken, Schulschließungen oder den Betrieb von Bars geht. Kommt der Föderalismus nicht gerade brutal an seine Grenzen? 400 Gesundheitsämter, 16 Landesregierungen – ist das nicht eine gefährliche Vielfalt in Krisenzeiten?

Lindner: Das wird man später prüfen müssen. Tatsächlich haben die letzten Wochen Schwächen bei den Durchgriffsmöglichkeiten des Bundes gezeigt. Österreich hat ein Pandemiegesetz und war in den letzten Wochen erkennbar handlungsfähiger. Wenn die akute Krise vorbei ist, sollte man auswerten, ob unsere föderalen Strukturen in jeder Beziehung effizient sind.

Überall wird jetzt die neue Solidarität beschworen. Aber als es um Masken und Schutzkleidung ging, haben wir auch „Germany First“ gesagt und den EU-Partnern nicht geholfen, oder?

Lindner: Die Versuche nationalen Egoismus auszuleben, finde ich völlig fehl am Platz. Aber wir sollten dringend schauen, dass wir für künftige Krisenfälle genügend Kapazitäten vorhalten. Auch Lieferketten für sensible Güter sollten wir noch einmal überdenken. Aber der freie Handel insgesamt ist natürlich ein Segen.

Wie ist das eigentlich mit dem Zusammengehörigkeitsgefühl in der deutschen Politik? Fühlen Sie sich als Chef einer Oppositionsfraktion gut von der Bundesregierung informiert?

Lindner: Die Informationspolitik gegenüber der Opposition ist besser geworden.

Zum Start der Krise war es Note 4, und jetzt wäre es Note 3 – oder wie?

Lindner: Seit dieser Woche gibt es eine regelmäßige Unterrichtung. Ich habe Verständnis dafür, dass alle gerade extrem ausgelastet sind. Deshalb möchte ich öffentlich keine Kritik üben. Aber so viel dann doch: Wären wir einbezogen worden in Gespräche, hätten wir der Regierung schon intern und früher unsere Unterstützung für drastischere Maßnahmen zugesichert, das öffentliche Leben in unserem Land runterzufahren.

Im Nachhinein betrachtet …

Lindner: Nein, das habe ich vorige Woche im Bundestag gesagt. Es war ja auffällig, wie viel energischer etwa in Österreich gehandelt wurden. Aber das ist nun egal, denn entscheidend ist, dass es jetzt diese Maßnahmen gibt.

Die internationale Solidarität wird ja gerade auf eine harte Probe gestellt. Die USA haben offenbar Versuche gestartet, sich vom Unternehmen CureVac exklusiv Forschungsergebnisse für einen Corona-Impfstoff zu sichern. Hat das Ihren Blick auf Präsident Donald Trump noch einmal verändert?

Lindner: Herrn Trump traut man alles zu. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Vorgang sich genau so zugetragen hat. Ich kenne den Vorstandsvorsitzenden und Gründer des Unternehmens persönlich. Inzwischen kam ja von dort auch das klare Signal: Sie forschen für die Weltgemeinschaft. Einen Impfstoff für eine Pandemie zu nationalisieren wäre in jedem Fall unethisch. Die Welt muss jetzt zusammenhalten.