Die Handschrift der FDP ist deutlich erkennbar.

Christian Lindner
Westfalenblatt

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Beim Blick auf die Umfragen für die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und die Sonntagsfrage im Bund: Warum bekommt die Ampel-Koalition der FDP nicht so gut?

Lindner: Die Ampel-Koalition ist nicht unser politischer Wunschtraum gewesen, sondern Ausdruck unserer staatspolitischen Verantwortung. Sie wurde gebildet, nachdem sich insbesondere die CSU im Bund als nicht regierungsfähig und nicht regierungswillig erwiesen hatte. Die Wahlprogramme von SPD, Grünen und FDP waren sehr unterschiedlich. Dennoch erbringen wir den Beweis, dass Deutschland nicht nach links driftet, sondern aus der Mitte heraus regiert wird. Hier macht die FDP den Unterschied. Es gibt keine Steuererhöhungen, sondern im Gegenteil Steuerentlastungen. Wir sind in der Corona-Politik den Weg zurück in Richtung Normalität gegangen – trotz großer Widerstände. Wir wollen im nächsten Jahr zur Schuldenbremse zurückkehren und stärken die Bundeswehr mit einem Sondervermögen. Die Handschrift der FDP ist deutlich erkennbar.

Warum müssen die FDP-Wahlkämpfer in Kiel und Düsseldorf auf liberalen Rückenwind aus Berlin verzichten?

Lindner: Das denke ich nicht. Teils zweistellige Ergebnisse in Umfragen für die FDP auf Bundesebene finde ich im historischen Vergleich sehr beachtlich. Deshalb ich auch guter Dinge bin, dass die FDP in Nordrhein-Westfalen ein zweistelliges Ergebnis erzielt. Und wenn es jetzt am Wochenende nach der Landtagswahl in Schleswig-Holstein eine schwarz-gelbe Koalition im Norden geben sollte, dann ist das in der letzten Woche vor der NRW-Wahl noch ein zusätzlicher Schub für bürgerliche Wählerinnen und Wähler, die FDP stark zu machen. Am Ende kann man in NRW nicht taktisch wählen, man sollte aus Überzeugung wählen.

Die Konstellation ist so ähnlich wie vor fünf Jahren, da wählte Schleswig Holstein am 7. Mai und NRW am 14. Mai. Lassen sich Vergleiche ziehen?

Lindner: Die Wahl vor fünf Jahren ist nicht ganz vergleichbar, denn 2017 wurde zugleich über die Rückkehr der FDP in den Bundestag abgestimmt. Das Umfeld ist nicht vergleichbar. Als Bundesvorsitzender war ich im Mai Spitzenkandidat der FDP in NRW und im September Spitzenkandidat der FDP bei der Bundestagswahl. Die Rahmenbedingungen waren andere als jetzt für Joachim Stamp.

Worauf führen Sie zurück, dass Ihre Partei derzeit nicht reüssieren kann? Liegt es eher daran, dass die liberale Position in Sachen Corona-Maßnahmen ältere Wähler verschreckt? Oder daran, dass der Bundesfinanzminister von der FDP so bereitwillig Schulden macht, die „Sondervermögen" heißen?

Lindner: Beides ist notwendig, und beides verantworten wir. Die Corona-Maßnahmen mussten zurückgenommen werden. Wir brauchen die Rückkehr zur Eigenverantwortung und zu den Freiheiten des gesellschaftlichen Lebens, weil sich der Charakter der Pandemie verändert hat. Ja, viele Ältere waren besorgt, die Zahlen geben uns aber Recht. Die Überlastung des Gesundheitssystems kam nicht, die Zahlen sinken.

Sollte das nicht eher im kommenden Herbst und Winter bewertet werden?

Lindner: Sicherlich schauen wir uns die Lage an. Aber man kann nicht präventiv Freiheit einschränken. Freiheit kann man nur einschränken, wenn es nötig ist. Für unseren Kurs haben wir durchaus Widerstände in Kauf genommen. Für eine liberale Partei ist das eine Frage der Überzeugung. Dennoch machen wir ja viel in der Corona-Politik. Als Minister finanziere ich die kostenfreien Bürgertests, die Impfzentren und die Impfungen, denn die zahlt der Staat und nicht die Krankenkassen. Das führt zu Schulden, weil die Corona-Pandemie noch nicht überwunden ist. Zusätzliche Schulden mache ich, weil wir Wirtschaftshilfen als Stoßdämpfer brauchen, weil wir die Leute wegen der Inflation entlasten müssen, weil wir geflüchtete Menschen aus der Ukraine aufnehmen, weil wir die Ukraine militärisch unterstützen müssen, und weil wir die Bundeswehr nach jahrzehntelanger Vernachlässigung mit dem Sondervermögen stärken müssen. Der Nachholbedarf bei der Sicherung unserer Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit ist offensichtlich. Mit dem Sondervermögen können wir langfristig investieren. Andere Vorschläge, wie langfristig die Schuldenbremse aufzuweichen, wären keine gute Alternative gewesen.

Geht das gut?

Lindner: Mein Versprechen ist, dass das, was jetzt in der Krise und im Krieg an Verschuldung notwendig ist, unsere Staatsfinanzen nicht ruinieren wird. Weil ich im nächsten Jahr mit der Rückkehr zur Schuldenbremse den Ausgang finden will.

Gehört es zu den Paradoxa der Realpolitik, dass nur grüner Wirtschaftsminister in Katar um Gas bittet und ein liberaler Finanzminister solche Schulden machen kann?

Lindner: Es zeigt zumindest, dass wir unserer Verantwortung gerecht werden und auch die Dinge tun, die wir nicht lieben, wenn sie notwendig sind. Das dürfen die Menschen von einer Regierung erwarten. Ich bin Bundesfinanzminister der Bundesrepublik Deutschland, ich bin nicht Finanzminister der FDP. Also muss ich das tun, was für diesen Staat insgesamt wichtig und richtig ist. Und das ist kein Widerspruch zu meinen Grundüberzeugungen. So wie Robert Habeck die Klimaneutralität will und übergangsweise Gas importiert, so will ich die haushaltspolitische Solidität unseres Landes wieder herstellen, auch wenn ich weiß, dass ich in der Gegenwart krisenbedingt in die Verschuldung gehen muss.

Wenn die Regierung ihrer Verantwortung gerecht wird: Wird der Kanzler auch seinem Führungsanspruch gerecht?

Lindner: Absolut. Deutschland führt. Wir haben klare Kriterien, die unseren Entscheidungen zugrunde liegen. Wir sind solidarisch mit der Ukraine, wir isolieren Russland politisch und wirtschaftlich mit scharfen Sanktionen. Aber wir setzen Sanktionen so um, dass sie Russland stärker treffen als uns selbst. Denn unsere wirtschaftliche Stärke ist auch ein Vorteil in der Auseinandersetzung mit Putin. Und wir tun militärisch all das, was im Gleichklang mit unseren Verbündeten steht und die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und der Nato selbst nicht beschränkt. Verantwortungsethisch wäre nicht begründbar, dass wir unsere Fähigkeit zur Selbstverteidigung aufgeben, um die Ukraine zu unterstützen. Wir können die Ukraine nur so weit unterstützen, wie wir uns selbst noch verteidigen können.

Trotzdem wirkt der Kanzler zaudernd und zögerlich. Müsste er so klar kommunizieren wie seinen beiden kleineren Koalitionspartner?

Lindner: Man kann in der Öffentlichkeit nicht über interne Gespräche Auskunft geben. Deswegen beteilige ich mich nicht an der Erzählung von Kommunikationsproblemen. Deutschland tut enorm viel an militärischer Unterstützung. Bei den Sanktionen haben sich manche vielleicht hinter dem breiten Rücken Deutschlands versteckt. Als wir unsere Bereitschaft zu Änderungen bei den Öllieferungen signalisiert haben, hatten plötzlich viele andere Bedenken.

Ex-Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat am Montag in Bielefeld gesagt: „Christian Lindner macht das nicht schlecht. Aber er wird nie so gut sein, wie ich es war." Nehmen Sie das als Kompliment?

Lindner: Nein, darin erkenne ich die Einsicht in die makroökonomische Realität. Wolfgang Schäuble hat das Amt zu einem Zeitpunkt übernommen, als der hohe Zins gerade Richtung null und negativ ging. Ich übernehme das Amt zu einer Zeit, da der negative Zins ins Positive dreht und den Staatshaushalt belastet.

Es hieß immer, dass der französische Präsident Emmanuel Macron einen Bundesfinanzminister Christian Lindner fürchten müsse. Haben die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg diese Befürchtung erledigt?

Lindner: Das hat er schon damals nicht befürchten müssen. Aber genau so wie damals bin ich von Grundprinzipien überzeugt, wie vom Prinzip der finanzpolitischen Eigenverantwortung der Mitglieder unserer Wirtschafts- und Währungsunion und davon, dass man nicht mehr Geld ausgeben kann als man hat, dass das Gros der Investitionen nicht durch staatliche Verschuldung erfolgen kann, sondern aus der privaten Wirtschaft mit unternehmerischer Verantwortung kommen muss. Diese Überzeugungen sind geblieben. Vielleicht hat man in Europa aber erkannt, dass ich durchaus ein freundlicher Falke bin, wie ich es einmal ausgedrückt habe.

Wie wollen Sie als verantwortlicher Bundesfinanzminister dafür sorgen, dass die 100 Milliarden Euro für die Stärkung der Bundeswehr nicht versickern?

Lindner: Wir machen einen einmaligen Kraftakt, der in der Verfassung verankert wird, um den Ausnahmecharakter zu verdeutlichen. Und das muss gelingen, weil wir das nicht auf Dauer wiederholen können. Daher muss das Beschaffungswesen grundsätzlich, aber insbesondere für die jetzt anstehenden dringlichen Aufgaben und Vorhaben reformiert werden. Wir wollen nicht die Rüstungsindustrie reich machen, sondern die Bundeswehr stark.

Hätten die FDP das Verteidigungsministerium beanspruchen sollen?

Lindner: Wir tragen mit unseren Ressorts wichtige Verantwortung. Und für die Bundeswehr bewirke ich als Finanzminister gerade eine Zeitenwende. 

Aber Sie bestreiten nicht, dass Ihre Parteifreundin Marie-Agnes Strack-Zimmermann eine Nebenverteidigungsministerin ist?

Lindner: Doch. Sie nutzt die Freiheit als Parlamentariern und hat die Möglichkeit, anders zu wirken als Kabinettsmitglieder, die allein schon aus rechtlichen Gründen über Verschlusssachen und Staatsgeheimnisse nicht sprechen können. Ich freue mich, dass die FDP so starke Stimmen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat.

Was halten Sie davon, dass Ihr grüner Koalitionspartner mit Spritpreisen von drei Euro pro Liter droht und das mit dem Öl-Embargo gegen Russland erklärt?

Lindner: Ich verstehe das nicht als Drohung, sondern als eine Befürchtung. Wir müssen alles tun, damit das nicht passiert. Denn die Belastung für Pendler und Menschen im ländlichen Raum sowie für Gewerbe und Mittelstand ist jetzt schon zu hoch. Wir müssen Druck von den Preisen nehmen, indem wir schnell diversifizieren und die Mineralölkonzerne über das Bundeskartellamt kontrollieren, damit keine ungerechtfertigten Gewinne in der Krise eingestrichen werden. Und ich möchte als Bundesfinanzminister von hohen Preisen nicht profitieren, weshalb wir bei den Steuern entlasten. Die Menschen nehmen die Inflation nicht über Statistiken wahr, sondern in ihrem Portemonnaie. Und dort wollen wir für Entlastung sorgen.

Rechnen Sie mit einer Gelbwesten-Bewegung im ländlichen Raum, wenn sich die Spritpreise nicht wieder bei 1,50 Euro einpendeln?

Lindner: Wenn Sie mit Gelbwesten-Bewegung die Wahlergebnisse der FDP meinen, hätte ich nichts dagegen. Wenn man an die Proteste in Frankreich denkt, wäre es eine große Bedrohung für den sozialen Frieden. Aus diesem Grund mache ich mich für Entlastung stark. Wir haben dauerhafte Steuersenkungen, die am 1. Juni rückwirkend zum 1. Januar kommen, 100 Euro mehr Kindergeld, 300 Euro Energiepreispauschale, Ende der EEG-Umlage. Das sind 30 Milliarden Euro Entlastung. Und dazu gehört auch eine Entlastung der Autofahrer, das ist für mich völlig klar. Diese Skepsis gegenüber dem Auto, diese Ablehnung gegenüber Autofahrerinnen und Autofahrern, dieses Feindbild SUV-Fahrer – wer das teilt, kann etwas anderes wählen, aber nicht FDP. Denn wir sagen, dass die Menschen ihre Freiheit haben sollen, ihre Mobilität zu leben. Wer Fahrrad fahren will, der fährt Fahrrad, der ÖPNV muss ausgebaut werden. Und wer Auto fahren muss oder Auto fahren will, der fährt Auto.

Muss die Europäische Zentralbank (EZB) die Nullzinspolitik zur Staatsfinanzierung südeuropäischer Euro-Staaten beenden, damit die Inflation sinkt?

Lindner: Ich gehe davon aus, dass die EZB ihre Geldpolitik im Laufe dieses Jahres verändert, aus Anleiheankäufen herausgeht und beim Zins zu Schritten kommt. Im Gegensatz zu den USA ist die Inflation bei uns stark getrieben von Lieferkettenproblemen und Energiepreisen. Die Entlastung bei der Kaufkraft hat einen Effekt: Als Gewerkschaft muss man weniger hohe Löhne fordern, wenn die Belegschaften die Inflation nicht so stark spüren, weil der Staat kompensatorisch die Steuer reduziert. So können wir auch eine Spirale verhindern. Die Gefahr besteht ja, dass durch die Energiepreise eine Spirale von steigenden Löhnen, steigenden Preisen und erneut steigenden Löhnen ausgelöst wird.