Der Gedanke der Freiheit ist in der Defensive

Christian Lindner
Kölner Stadt-Anzeiger

Lesedauer: 4 Minuten

Herr Lindner, Sie lassen keine Gelegenheit aus, die Bundesregierung für ihre Fehler in der Corona-Krise zu kritisieren. Worüber regen Sie sich aktuell besonders auf?

Lindner: Das stimmt nicht. Die FDP hat ja die Krisenstrategie auch geprägt, zum Beispiel als Teil der Regierung in NRW. Einige Freiheitseinschränkungen wurden aber durch die große Koalition zulange aufrechterhalten. Herr Spahn selbst hat eingeräumt, dass der Handel nicht hätte schließen müssen. Wir werden länger mit dem Virus leben müssen. Daher brauchen wir jetzt innovative Maßnahmen, um Gesundheitsschutz mit Bewegungsfreiheit im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben zu verbinden. Eine umfassende Teststrategie, die Förderung von Aerosole-Filtern in Klimaanlagen und die Digitalisierung des Gesundheitswesens etwa sind besser als neuer Stillstand.

Ihre Parteikollegin Suding hat davon gesprochen, totgerittene Branchen würden durch Staatshilfen künstlich am Leben erhalten...

Lindner: Das war eine zugespitzte Warnung. Ich halte es für richtig, dass wir das Kurzarbeitergeld verlängern – aber es ist nicht vernünftig, das bis Ende nächsten Jahres zu tun. Wir brauchen einen Neustart für die soziale Marktwirtschaft statt mehr schuldenfinanzierter Staatswirtschaft. Besser wären der Abbau ärgerlicher Bürokratie, die Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, eine andere Steuerpolitik, die Betriebe und Geringverdiener entlastet. Wir sollten die Sozialabgaben für neu geschaffene Arbeitsplätze ein halbes Jahr lang übernehmen, damit neue Beschäftigung entsteht. Und wir können aus der Krise herauswachsen, wenn wir neue Zukunftsbranchen wie die Wasserstoffwirtschaft mit Power entwickeln.

In der Corona-Krise setzen viele Bürger auf einen starken Staat. Was bedeutet das für die FDP als Freiheitspartei?

Lindner: Ja, die Menschen suchen Sicherheit beim Staat. Der Gedanke der Freiheit ist in der Defensive. Aber durch die Krise hilft nicht zuerst ein starker Staat, sondern die Vorsicht im Alltag und die Eigenverantwortung. Auch in der Pandemie bleibt staatliches Handeln an Grundrechte und Grundgesetz gebunden. Einschränkungen der Versammlungs- oder Berufsfreiheit etwa müssen verhältnismäßig sein.

Was halten Sie davon, wenn beim Ruf nach Freiheit von Gegnern der Corona-Politik Reichskriegsflaggen wehen?

Lindner: Der Gedanke der Freiheit ist untrennbar verbunden mit Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft. Diese Flagge symbolisiert vor allem einen kollektivistischen Obrigkeitsstaat. Es ist paradox, wenn diese Leute sich auf Bürgerfreiheiten berufen.

Wie gefährlich sind die Ereignisse von Berlin?

Lindner: Sehr gefährlich. Unsere Demokratie muss wehrhaft sein. Die Polizei war heldenhaft. Wir müssen unterscheiden zwischen einem braunen Rand, Verschwörungstheoretikern und Aluhut-Trägern auf der einen Seite und Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die Fragen nach der Verhältnismäßigkeit stellen und die Sorge um ihre Existenz haben. Ich würde gerne Letztere ansprechen.

Wie schafft man es, die Rechtsextremen von denjenigen zu trennen, die sich berechtigte Sorgen machen?

Lindner: Das sollten die selbst tun. Wenn man zu einer Veranstaltung kommt, bei der ohne Maske demonstriert wird, sollte man auf dem Absatz kehrtmachen. So viel historische Bildung werden die Leute haben, um die Nähe von Reichskriegsflaggen zu meiden. Falls nicht, muss man sich das zurechnen lassen.

NRW hat die Maskenpflicht in den Schulen beendet. Das führte zu einem Aufschrei bei Lehrern, die jetzt um Ihre Gesundheit fürchten.

Lindner: Das Infektionsgeschehen ist dynamisch, also sind die Antworten dynamisch. Die Maske ist hier anders als in Bayern aktuell nicht nötig, sagt die Regierung. Jeder kann ja individuell entscheiden. NRW war in den vielen Corona-Fragen Taktgeber für den Bund. Kein Land unterstützt die Schulen mehr als NRW. Allein 350 Millionen Euro gab es neu für digitales Lernen.

Wann rechnen Sie mit einem Impfstoff?

Lindner: Manche Experten sagen, dass ein Impfstoff nicht vor Ende nächsten Jahres kommt. Ich höre aus der Praxis, dass die üblichen Verfahren bei der Forschung und Zulassung sehr viel Zeit kosten. Wir sollten prüfen, ob hier für Sars-CoV-2 eine einmalige Ausnahmegesetzgebung nötig und möglich ist. Vielleicht hilft es, wenn alle bürokratischen Fragen für alle Forscher zentral gebündelt und beschleunigt bearbeitet werden.

Die Umfragewerte für Ihre Partei sind derzeit schlecht. Sie verweisen gerne darauf, dass sie ein Jahr vor der Wahl 2017 auch lange bei fünf Prozent lagen, und dann wurden es fast elf. Das ist jedoch kein Automatismus, oder?

Lindner: Wir stellen uns neu auf, weil die politischen Themen sich geändert haben. In Sachen wirtschaftliche Belebung, Schuldenstopp, Digitalisierung, Bildungsreform und Bürgerrechte können wir gute Beiträge leisten. Wie das nächste Jahr aussieht, weiß niemand.

Inwiefern haben Sie selbst Fehler gemacht? Mancher beklagt die One-Man-Show der FDP…

Lindner: Wie jeder mache ich Fehler, aber den nicht. Ich kenne diese Klage aus meiner Partei auch nicht. Es gibt keine Absicht, nur den Vorsitzenden ins Zentrum zu stellen. Das sind Gesetze der Mediendemokratie. Die Medien haben hier in NRW lange nur über mich berichtet, nach dem Regierungseintritt wurden plötzlich starke Persönlichkeiten wie Joachim Stamp oder Yvonne Gebauer entdeckt. Die waren aber zuvor auch schon aktiv.

Sie haben 2017 Jamaika abgesagt. Wäre eine Regierungsbeteiligung der FDP nicht wichtig gewesen?

Lindner: Frau Merkel wollte 2017 alles den Grünen geben, die FDP sollte den Preis zahlen. Guido Westerwelle wurde 2009 der Vorwurf gemacht, seine Wahlversprechen gebrochen zu haben. Dieselben Leute beklagen nun, dass wir denselben Fehler nicht wiederholen. Fest steht: Mit uns hätte es keine Mehrwertsteuersenkung gegeben. Mit den 20 Milliarden hätten wir lieber die Schulen digitalisiert, die Toiletten saniert und den Krankenschwestern, Kassiererinnen und Müllfahrern die Lohnsteuer reduziert. Das wäre eine angemessene echte Respektbekundung gewesen.

Was würde ein Wechsel von Armin Laschet nach Berlin bedeuten?

Lindner: Armin Laschet kann die politische Landschaft verändern. Alle anderen in der Union setzen ja eher auf Schwarz-Grün, selbst ohne inhaltliche Auseinandersetzung mit den Grünen. Armin Laschet regiert dagegen mit einer Politik aus der Mitte.