Den Staat als Regelgeber fordern wir ja

Christian Lindner
n-tv

Lesedauer: 12 Minuten

 

Wenn Sie am Ende des Jahres zurückblicken – was war Ihr persönlicher Corona-Moment?

Lindner: Bei Erkrankungen in meinem persönlichen Umfeld, bei Bekannten und im Kollegenkreis, da kam die Pandemie schon sehr nah. Ansonsten waren es nicht Momente, sondern lange Zeiträume, die das Jahr für mich geprägt haben – Zeiträume, in denen es keinen persönlichen Kontakt zu Familie und Freunden gab, weil alles digital wurde. Wir haben in diesem Jahr gelernt, dass die digitale Begegnung viel ersetzen kann. Aber ein Ersatz für persönliche Begegnungen ist sie nicht.

Glauben Sie, dass die alte Form der persönlichen Nähe wieder zurückkehrt?

Lindner: Absolut. Die Suche nach Nähe, Geselligkeit, persönlichem Austauschgehört zur menschlichen Natur.

Kein dauerhaftes und digitales Homeoffice?

Lindner: Nein. Ich glaube, dass das Arbeiten im Büro zurückkehren wird. Vielleicht mit mehr Flexibilität. Aber an die komplette Homeoffice-Lösung glaube ich nicht. Ich halte sie auch nicht für erstrebenswert.

Warum nicht?

Lindner: Wo kommt diese Gesellschaft zusammen, wo integriert sie sich? Für eine große Mehrheit sind das nicht mehr Kirchen, Vereine oder Parteien. Es sind die Arbeitsstätten. Ihnen kommt eine hohe sozialintegrative Funktion zu, weil man dort nicht nur in seinem eigenen Umfeld ist, sondern konfrontiert wird mit anderen Meinungen und Milieus.

Was hat diese Gesellschaft in der Pandemie besonders gut gemacht? Und was sollten wir bei der nächsten Pandemie auf keinen Fall wiederholen?

Lindner: Gut waren Eigenverantwortung und Vernünftigkeit der ganz überwiegenden Mehrzahl der Menschen. Schlecht war, dass es leider auch solche gab, die fahrlässig und vorsätzlich gegen Regeln verstoßen haben, die Aluhut tragen wollten und für Verschwörungstheorien anfällig waren. Gut war, dass die staatliche Verantwortungsgemeinschaft schnell und entschlossen gehandelt hat. Schlecht war, dass wir keine langfristigen Strategien entwickelt haben. Gut war, dass es Hilfen geben sollte. Schlecht war, dass die Umsetzung leider zu lange gedauert hat und trotz aller Zusagen viele Soloselbstständige nicht bedacht wurden und viele mittelständische Betriebe von einer Pleite bedroht sind.

Zu Beginn der Pandemie hat man gelegentlich den Satz gehört, Corona stelle alte Überzeugungen infrage. Gab es Positionen, wo Sie umdenken mussten oder wollten?

Lindner: Ich glaube nicht, dass Corona Grundüberzeugungen infrage gestellt hat. Eher stellt es eine Prüfung für Grundüberzeugungen dar.

Welcher Grundüberzeugungen?

Lindner: Nehmen Sie die große Frage von Grundrechten und der Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen. Dieses Thema ist doch erst jetzt aktuell geworden. Früher war das für viele eine abstrakte Frage. Seit die Freiheitseinschränkungen für jeden im Alltag spürbar sind, hat auch die Sensibilität dafür einen deutlich größeren Kreis erreicht. Insofern würde ich sagen: Eine Prüfung von Grundüberzeugungen gab es. Aber Überzeugungen, die man über den Haufen werfen musste? Ich wüsste nicht, was das sein soll.

Sie haben nicht neu über die Rolle des Staates nachgedacht?

Lindner: Wir sind gegen einen Staat, der die Menschen mit Bürokratismus bremst, nervt und fesselt, der ihre Kreativität und ihre eigenen Möglichkeiten beschneidet und der Probleme nur verwaltet, statt sie zu lösen.

Das ist bekannt. Aber wir brauchen den Staat als Regelgeber.

Lindner: Den Staat als Regelgeber fordern wir ja geradezu. Weil ein Leben in Freiheit sonst nicht möglich ist. Wir haben einen Staat für die Fragen, die über die Möglichkeit der Verantwortungsübernahme des Einzelnen hinausgehen. Gerade während der Pandemie brauchten wir den Staat, weil es eine Naturkatastrophe war, ein Ausnahmezustand. Man kann sich nicht individuell einer Pandemie entgegenstellen. Unternehmen können sich nicht gegen den gleichzeitigen Ausfall von Angebot und Nachfrage rüsten. Da brauchen wir einen starken, handlungsfähigen Staat. Daraus ergeben sich auch Aufgaben für die Zukunft.

Gehört zu den Zukunftsaufgaben auch, die Gesundheitsämter besser auszustatten?

Lindner: Das ist sicherlich eine der Konsequenzen. Ich hätte jetzt mit einer anderen begonnen.

Welcher?

Lindner: Ich hätte mit dem Schutz der Alten und der Risikogruppen begonnen. Denn während die Zahlen in der allgemeinen Bevölkerung stagnieren, explodieren sie bei den Älteren. Für mich ist das ein Indiz, dass die Strategie der Regierung gescheitert ist. Wir haben schon im Spätsommer gemahnt: Achtet bitte auf stationäre Einrichtungen und Risikogruppen. Es wäre sinnvoller gewesen, die nationale Kraftanstrengung dort zu konzentrieren, wo die Bedrohung am größten ist.

Wie hätte das ausgesehen?

Lindner: Wir haben früh die Verteilung von FFP2-Masken angeregt. Das kommt jetzt, auch wenn ich es für falsch halte, dass die Menschen im Moment noch zur Apotheke geschickt werden. Das hätte von Anfang an per Post erfolgen sollen, um unnötige Wege zu sparen. Schon vor Wochen haben wir Schnelltests in den Pflegeeinrichtungen angeregt. Jetzt erst, angesichts der massiven Fallzahlen und Sterbefälle, kommt das. Was noch fehlt, sind exklusive Einkaufszeiten für die Risikogruppen sowie Taxi-Gutscheine für notwendige Fahrten, damit Ältere und Vorerkrankte nicht gezwungen sind, den Bus zu benutzen. Es fehlt die Möglichkeit für Verwandte und Freunde, einen Schnelltest zu machen, wenn man einen gefährdeten Menschen besuchen will, der nicht in einer stationären Einrichtung ist. Viele weitere Maßnahmen sind denkbar.

Warum, glauben Sie, wurden solche Vorschläge nicht oder nicht früher aufgegriffen?

Lindner: Die Bundesregierung hat sich in ein argumentatives Gefängnis begeben: einmal mit der künstlich hoch angesetzten Zahl von 27,35 Millionen Angehörigen der Risikogruppen ...

... die Bundeskanzlerin hatte im Bundestag gesagt, niemand solle so tun, „als könnte man vulnerable Gruppen in einem Land schützen – es sind 27 Millionen Menschen! –, indem man sie einfach aus dem öffentlichen Bereich herausnimmt“.

Lindner: Man muss differenzieren. Die Bundesregierung tut das im Übrigen selbst in ihrer Impfstrategie, wenn es um die Priorisierung geht. Zu den 27 Millionen gehören 900.000, die in einer stationären Einrichtung leben, dazu gehören Menschen mit einer Lungenvorerkrankung, die im Berufsleben stehen, Ruheständler und sportive Mittsechziger. Jede dieser Gruppen braucht einen anderen Schutz. Das kostet Milliarden, das ist mir klar. Aber es wäre den Aufwand wert gewesen.

Merkel betonte, sie halte es nicht für ethisch vertretbar, die vulnerablen Gruppen aus der Öffentlichkeit zu nehmen.

Lindner: Das Narrativ, man dürfe die Alten nicht „wegsperren“, wird oft von CDU und CSU angebracht. Niemand will das. Im Gegenteil: Es geht gerade darum, Begegnungen möglich zu machen. Deshalb müsste es zum Beispiel auch Tests für Verwandte vor dem Besuch älterer Menschen geben, die allein leben. Es muss darum gehen, soziale Teilhabe und Gesundheitsschutz auch für vulnerable Gruppen in einer insgesamt offeneren Krisenstrategie zu erreichen.

Die FDP ist an drei Landesregierungen beteiligt. Warum nehmen Sie über diese Länder nicht stärker Einfluss auf die Pandemie-Politik?

Lindner: Im Rahmen der Möglichkeiten machen wir das. Dennoch wird die gesamtstaatliche Krisenstrategie vom Kanzleramt geprägt. Ich kann das mal anekdotisch beschreiben: Die Landeskabinette, denen wir angehören, hatten für den November beschlossen, dass die Gastronomie nicht pauschal flächendeckend geschlossen werden soll. Dann sind die Regierungschefinnen und -chefs zu Frau Merkel in die Videokonferenz gegangen. Als sie wieder rauskamen, waren alle Kabinettsbeschlüsse Makulatur.

Ist es überhaupt sinnvoll, eine globale Pandemie von 16 Landesregierungen und mit den Mitteln örtlicher Gesundheitsämter zu bekämpfen?

Lindner: Ja, absolut. Und auch das wäre für mich eine Aufgabe für die Zukunft: Wir brauchen viel konsequentere regionale Maßnahmen, wenn Infektionsgeschehen dynamisch wird. In Bayern ist viel zu spät an Hotspots gegengesteuert worden, zum Beispiel in Berchtesgaden, wo die Inzidenz bereits bei weit über 250 lag. Wir brauchen eine Art Ampelsystem, nicht mit drei, sondern wenn's nach mir geht mit fünf Signalen. Jedem der Signale werden konkrete Maßnahmen zugeordnet. Bei leichtem Infektionsgeschehen sind es zum Beispiel Maskenpflicht und Hygieneauflagen, aber Veranstaltungen sind möglich und die Geschäfte geöffnet. Und beim schwersten Infektionsgeschehen sind es die Schließung aller Einrichtungen, Kontaktbeschränkungen, Ausgangsbeschränkungen – wohlgemerkt nicht Ausgangssperren – und anderes mehr. Wenn wir das gesetzlich auf Bundesebene festlegen, haben Bürgerinnen und Bürger sowie die Behörden vor Ort Handlungs- und Planungssicherheit. Das jetzige Infektionsgesetz zählt einfach alle möglichen Maßnahmen auf, ohne sie dem Infektionsgeschehen zuzuordnen.

Warum haben die Länder da nicht mehr Druck gemacht?

Lindner: Als das Infektionsschutzgesetz im Bundestag novelliert wurde, haben wir einen entsprechenden Gesetzesvorschlag eingebracht. CDU, CSU und SPD haben aber am Entwurf von Gesundheitsminister Spahn festhalten wollen. Ich kann das auch verstehen, so ist eben die parlamentarische Praxis. Was ich nicht verstehen kann, sind die Grünen, denn sie haben unseren Gesetzentwurf gelobt und dann trotzdem dem unvollkommenen Gesetzentwurf der Großen Koalition zugestimmt. Das war rätselhaft für mich, gerade, wenn man eine Bürgerrechtspartei sein will.

Stichwort Bürgerrechte: Müsste man bei der Corona-App den Datenschutz ein Stück zurücknehmen, um sie wirksamer zu machen und sich vielleicht andere Freiheiten zu erkaufen?

Lindner: Freiwilligkeit und Dezentralität der Datenspeicherung sind wichtig, damit möglichst viele Menschen die App installieren.

Aber so hat sie nur einen sehr begrenzten Nutzen.

Lindner: Man kann und muss die App besser machen. Beispielsweise durch die freiwillige Abgabe von Daten. Oder indem sie ein Dashboard bekommt, das jeden Tag die aktuellen RKI-Zahlen darstellt, sowohl bundesweit als auch regional. Sie könnte auch die Regeln aufführen, die an dem Ort gelten, an dem ich mich aufhalte.

Unterm Strich: Hat die App was gebracht?

Lindner: Für mich persönlich hat sie was gebracht, weil ich regelmäßig draufschaue und durchaus Veränderungen wahrnehme. Beispielsweise wenn ich am Samstag den Wochenendeinkauf erledige. Am Sonntag danach bekomme ich mehr Risikobegegnungen in meiner App angezeigt als sonst, obwohl ich keine ausgedehnte Shopping-Tour gemacht, sondern nur Lebensmittel eingekauft habe. Das ist auch ein Grund, warum ich so vehement für exklusive Zeitfenster für Risikogruppen werbe: Ich sehe an meiner eigenen App, dass während des Einkaufs Risikokontakte stattfinden.

Mit Blick auf die Zeit nach Corona haben Sie gesagt, es bräuchte eine „Neugründung“ des Landes. Wie soll die aussehen?

Lindner: Erstens werden wir die Quellen unseres Wohlstands neu gründen müssen, denn die Schlüsselindustrien, die uns Arbeitsplätze und Wohlstand gebracht haben, sind hundert Jahre alt und brauchen neue Impulse. Da tut sich bereits enorm viel aufgrund von Digitalisierung und der Notwendigkeit des Klimaschutzes. Aber um Zukunft zu schaffen, müssen wir den Erfindergeist und unser privates Investitionskapital mobilisieren. Zweitens: Die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung werden in den Zwanzigerjahren den demographischen Wandel voll zu spüren bekommen. Denn die Babyboomer-Generation, die uns mit ihren starken Schultern durch die Finanzkrise nach 2008 getragen hat, geht jetzt in den Ruhestand. Da werden wir neu überlegen müssen, wie ein Generationenvertrag aussehen soll, der unseren Sozialstaat leistungsfähig hält und fair finanziert ist. Und drittens, glaube ich, müssen wir unsere Liberalität in der Gesellschaft neu begründen. Viele waren während der Pandemie sehr unkritisch gegenüber bisweilen harten und hinterfragungsbedürftigen Aussagen von Regierungen. Deshalb ist ein Teil der Zukunftsaufgaben, die Liberalität angesichts von viel Staatlichkeit in Wirtschaft und Gesellschaft neu zu vermessen.

Müssen wir uns Sorgen machen wegen der hohen Neuverschuldung des Bundes?

Lindner: Absolut müssen wir das. Die Neuverschuldung des Bundes in Verbindung mit unseren zusätzlichen Haftungsrisiken in der Europäischen Union für die Bankenrettung im ESM, die heimlich, still und leise im Windschatten der Pandemie beschlossen wurde, dazu unser Anteil am Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU“ und die enorme Ausweitung der Bilanz der Europäischen Zentralbank über die Billionengrenze hinaus – all das sind besorgniserregende Entwicklungen. Wie begeben uns hier in eine Abhängigkeit von den Kapitalmärkten, die Ralf Dahrendorf einmal als „Pumpkapitalismus“ beschrieben hat. Die größte Herausforderung liegt in der Steuer-, Haushalts- und Finanzpolitik der Jahre 2021 bis 30. Wir müssen private Investitionen, privates wirtschaftliches Vorankommen, private Vorsorge ermöglichen, Handlungsdefizite beim Staat, in der Schule, im Gesundheitswesen, in der digitalen Infrastruktur schließen und gleichzeitig die enorme Verschuldung auf ein tragfähiges Maß zurückführen, damit wir in der nächsten Krise auch reagieren können. Diese Spielräume sind so eng, dass ich sie mal „Wenden in der Garage“ genannt habe.

Das haben wir gesehen. Erscheint uns aber eher schwierig. Oder bedeutet das Bild, dass es nicht klappen wird?

Lindner: Es muss gehen. Aber es sind wirklich enorme Herausforderungen. Anders als in der Ära Merkel werden wir Prioritäten festlegen müssen. Frau Merkels Regierungsstil bestand darin, das Geld, das uns durch das Wachstum mit immer höherer Geschwindigkeit zugeflossen ist, einfach zu verteilen und alle Konflikte mit Geld zuzudecken. Das geht nicht mehr.

Viele asiatische Länder scheinen besser durch die Pandemiegekommen zu sein. Müssen wir fürchten, dass Europa geschwächt wird?

Lindner: Das liegt in unserer Hand. Es gibt diesen riesigen Corona-Aufbaufonds der EU in Höhe von 750 Milliarden Euro. Wird das in Zukunft investiert? Oder wird es nur genutzt, um die bekannten Reformbaustellen noch ein paar Jahre länger liegen zu lassen? Auch bei uns leisten wir uns Diskussionen um eine Vermögenssteuer, um ein bedingungsloses Grundeinkommen und einen Verzicht auf die Gentechnik, die uns gerade den Impfstoff gebracht hat. Wäre es nicht klüger, Handelsabkommen abzuschließen, Forschungsfreiheit zuzulassen, in Zukunftstechnologien zu investieren, privaten Investitionen den Vorrang zu geben? Wir wollen den Staat wieder handlungsfähig machen, wo wir ihn brauchen, ihn aber zurückziehen, wo er nur teuer und unwirksam ist. Es liegt in unserer Hand. Das wird nach der nächsten Bundestagswahl ein Aushandlungsprozess sein.

Ihre Aufzählung – Handelsabkommen, Grundeinkommen, Gentechnik – legt den Verdacht nahe, als wollten Sie den Wahlkampf vor allem gegen die Grünen führen.

Lindner: Nein. Wir führen den Bundestagswahlkampf für das Land und für das, was wir für nötig halten. Die Grünen machen ihren Wahlkampf, dann werden die Leute entscheiden. Bei den Aushandlungsprozessen, die in den Zwanzigerjahren anstehen, glaube ich allerdings, dass die FDP gute Beiträge leisten könnte, damit es nicht nur in eine Richtung geht, sondern damit auch ein verantwortungsethischer Zugang beteiligt wird, der Kosten und Nutzen in den Blick nimmt. Es wäre schon ein guter Rat, eine solche Partei dabei zu haben.

Im September haben Sie gesagt, Ihr Parteivorsitz, um den Sie sich im Mai wieder bewerben, sei „ganz eng geknüpft an das Ziel, die FDP in die Regierung zu führen“. Heißt das, Sie treten als FDP-Chef zurück, wenn es nach der Wahl im Herbst nicht mit einer Regierungsbeteiligung klappt?

Lindner: Nein, ich bewerbe mich im Mai wieder um eine zweijährige Amtszeit. Aber mein erklärtes Ziel als Vorsitzender ist es, die Freien Demokraten in die Regierung zu führen. Ich hätte auch länger Ausdauer in der Opposition, aber 2021 wäre es gut für das Land. Denn nach der Amtszeit von Frau Merkel stehen viele Richtungsentscheidungen an. Da sollte eine Partei mit am Tisch sitzen, die sensibler als andere auf den Wert der Freiheit und solide Finanzen achtet.

Ihr Ziel einer Regierungsbeteiligung setzt Sie doch aber enorm unter Druck, die Sondierungsgespräche dieses Mal nicht abzubrechen.

Lindner: Das meinen manche. Aber wenn wir jetzt ohne inhaltliche Ergebnisse in eine Regierung eintreten würden, dann enttäuschen wir doch alle, die unseren Verzicht auf Jamaika verstanden und respektiert haben. Ich will aber unterstreichen, dass wir es ernst meinen mit der Bereitschaft zur Verantwortung. Wir haben uns auch 2017 nicht einfach gedrückt, wie unsere Gegner die Entscheidung umdeuten wollen. Die Freien Demokraten haben auf Einfluss und ich selbst habe auf meinen Karrieretraum verzichtet, Finanzminister der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt zu werden. Und zwar, weil wir viele Zusagen gegenüber unseren Wählern dafür hätten brechen müssen. Nun gehe ich 2021 davon aus, dass es viel offenere und fairere Verhandlungen geben würde. Allein schon, weil es neue Personen sind.

Haben Sie trotz der guten Umfragewerte der Union ein bisschen Mitleid mit der CDU, weil deren drei Kandidaten für den Parteivorsitz allesamt im Moment weder die Basis noch die Bevölkerung wirklich zu überzeugen scheinen?

Lindner: Da ist kein Mitleid nötig. Viel spannender ist die Frage, wohin die Unionsparteien sich inhaltlich entwickeln werden. Es gibt Aussagen von Armin Laschet und Friedrich Merz, die sehr deutlich eine bürgerliche Koalition unter Einschluss der FDP präferieren. Und es gibt Aussagen von Markus Söder, der sich für eine schwarz-grüne Koalition ausgesprochen hat. Bevor man aber über Koalitionen spekuliert, sollte man mal überlegen, wo man eigentlich inhaltlich hin will und mit wem das am besten ginge. Darauf freuen wir uns im nächsten Jahr.

Wie groß ist Ihre Angst, wieder aus dem Bundestag zu fliegen?

Lindner: Null.

Wie kämen Sie mit dem Grünen-Ziel einer sozial-ökologischen Transformation klar? Zu wie viel Transformation wären Sie in einer potenziellen Jamaika-Koalition bereit?

Lindner: Vollständig. Die großen Modernisierungsprojekte heißen Digitalisierung, Schutz natürlicher Lebensgrundlagen, Spitzentechnologie. Damit haben wir überhaupt kein Problem. Auf dem Weg werden wir uns allerdings unterscheiden. Denn wir wollen keine Strukturbrüche und wir denken im globalen Maßstab. Wir setzen stärker auf Innovation und den Ideenwettbewerb unter Forschern und Unternehmern und lehnen breitflächige Verbote und Subventionen ab. Das führt nur zu Investitionsruinen und zu technologischen Sackgassen.