50 Jahre sozialliberale Koalition

Christian Lindner
WELT am Sonntag

Frau Nahles, Herr Lindner, vor 50 Jahren schlossen Willy Brandt und Walter Scheel die erste sozialliberale Koalition. Sie war getragen von zwei Hauptgedanken: „Mehr Demokratie wagen“ – also der Liberalisierung und Modernisierung der Gesellschaft – und der Entspannungspolitik. Wenn wir die SPD und die FDP heute betrachten, sehen wir nicht eine gemeinsame Idee. Oder täuschen wir uns?

Nahles: SPD und FDP sind beide Parteien des Fortschritts, die sich mit den gegebenen Verhältnissen nicht abfinden, sondern Veränderungen wollen. Auch in vielen gesellschaftspolitischen Fragen sind wir liberal und modern, nicht konservativ.

Lindner: Wir glauben beide an Fortschritt, auch wenn wir Unterschiedliches damit verbinden. Vor allem der Einsatz für Chancengerechtigkeit ist ein gemeinsames Anliegen von SPD und FDP. Schon in der ersten sozialliberalen Koalition wollten beide Parteien Bildung als Bürgerrecht – damals sprach man vom katholischen Mädchen vom Land...

Nahles: ...also für mich, ich bin das katholische Arbeiter-Mädchen vom Lande...

Lindner: ...und dank der sozialliberalen Koalition ist etwas aus Ihnen geworden. Spaß beiseite: Heute haben wir neue Aufgaben, etwa digitale Bildung und Integration. Aber im Prinzip gilt für beide: Es kommt nicht auf die Herkunft des Einzelnen, sondern auf seine Leistung an.

Nahles: Schnittmengen sehe ich auch in der Bildungspolitik, zum Beispiel in der Frage der modernen Ausstattung von Schulen. Dazu haben wir gemeinsam mit der FDP das Grundgesetz geändert. Einen wesentlichen Unterschied gibt es allerdings: Herr Lindner betont die Chancengerechtigkeit. Wir setzen auf Chancengleichheit. Uns reichen nicht gleiche Startbedingungen und dann das FDP-Motto „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Es geht darum, wie selbstbestimmt man die Chancen, die man hat, realisieren kann. Da hat auch der Staat eine Verantwortung. Gerade deshalb legen wir nächste Woche eine große BAföG-Reform im Bundestag vor. Sie trägt die sozialdemokratische Handschrift. Und dann kommt die Mindestausbildungsvergütung – der Mindestlohn für Azubis.

Lindner: Ich sehe den Unterschied woanders. Als Liberale wollen wir soziale Absicherung und lebensbegleitend neue Chancen. Deshalb machen wir uns für BAföG als Weiterqualifikation stark. Aber wir akzeptieren, dass Talent, Fleiß und Risikobereitschaft einen Unterschied machen. Unser Ideal ist Freiheit, das der SPD Gleichheit. Aber Sozialdemokraten und Liberale werden sich immer dagegen wehren, dass es ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt. Das unterscheidet uns von den Grünen, die mal eben so um 30 Milliarden Euro die Steuern erhöhen wollen, damit auch derjenige Geld erhält, der angebotene Arbeit und Bildung ablehnt.

Nahles: Stimmt! Im Unterschied zur FDP ist unser Ideal der Freiheit jedoch immer auch die Freiheit zu etwas nicht nur von etwas. Das setzt Ebenbürtigkeit voraus.

Frau Nahles, um seine Koalition zu schließen, hat Brandt auf die Mittelschicht geachtet und es der FDP erleichtert, ein Bündnis zu schließen. Sie haben am Wochenende das Linkssein betont. Verengt Ihre Strategie nicht die Bündnisfähigkeit Ihrer Partei Richtung Rot-Rot-Grün?

Nahles: Anders als damals sind wir schon seit Langem in einer großen Koalition. Das führt zu dem Vorwurf, die SPD sei als Juniorpartner nicht mehr sichtbar. Da setzen wir an: In unserem Kernbereich Arbeit und Soziales machen wir klare, konturierte Politik. Wir wollen Leistung und den Wert der Arbeit honorieren. Wir besinnen uns auf unsere Grundwerte als Partei der Arbeit und Gerechtigkeit. Wenn Sie das links nennen wollen, bitte schön! Es ist jedenfalls keine Abkehr von der Arbeitnehmer-Mitte.

Herr Lindner, Scheels FDP war stärker als heute eine sozialliberale Partei. Wie nähert man sich unter diesen Umständen der Nahles-SPD an?

Lindner: Wollen wir gar nicht. Walter Scheel ging es damals genauso um Freiheit und soziale Sensibilität wie uns heute. Nur geht es jetzt nicht um den Aufbau von Grundsicherungen, sondern die Reform eines ausgedehnten Wohlfahrtsstaats: Wie bleibt er für unsere Enkel bezahlbar? Wie schaffen wir es, die Mittelschicht vor überbordenden Abgaben zu schützen? Wie lösen wir die bürokratischen Regelungen, die aus edlen sozialen Absichten erlassen wurden, aber Menschen heute in ihrer Selbstbestimmung beschränken? Etwa das fixe Renteneintrittsalter oder die starre Grenze bei Minijobs.

Die SPD will eine Grundrente. Eine gute Idee?

Lindner: Frau Nahles hat es gesagt: Das sind Vorhaben, mit denen die SPD ihren Markenkern stärken will. In der Sache halte ich eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung nicht für gerecht. Diejenigen, die sie nicht brauchen, würden sie trotzdem erhalten. Ich würde mich auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren. Zum Prinzip der Leistungsgerechtigkeit gehört im Übrigen, dass sich jenseits der Grundsicherung Unterschiede im Lebensweg auch in der Rente niederschlagen.

Nahles: Unser Vorschlag zur Grundrente basiert genau darauf, dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Die Bedingung für unsere Grundrente ist, dass man 35 Jahre lang gearbeitet hat. Es geht um Respekt und Anerkennung geleisteter Arbeit, nicht um Almosen. Und Respekt heißt, dass man nicht bis auf 5000 Euro Vermögen alles aufgeben muss, um an diese Rente zu kommen, oder dass man seine gesamten Vermögensverhältnisse offenlegen muss. In meinem Dorf kenne ich einige, die nach 35 Jahren Arbeit Anspruch auf Grundsicherung hätten. Sie gehen aber nicht „zum Amt“, wie sie es ausdrücken, weil sie sich in ihrer Ehre verletzt fühlen.

Lindner: Das könnte man durch Digitalisierung der Verwaltung lösen, ohne Milliarden mit der Gießkanne zu verteilen. Wo die Daten sagen, dass Bedürftigkeit vorliegt, könnte automatisch Grundsicherung ausgelöst werden. Lassen Sie uns über einen Punkt sprechen, wo wir eine gemeinsame Aufgabe haben: die Umweltpolitik. Da tragen SPD und FDP durch historische Fehlentscheidungen große Verantwortung für die aktuelle Diskussion. Es war eine der wesentlichen Initiativen der sozialliberalen Koalition, das allererste Umweltprogramm der Republik zu beschließen. Damals wurde auf das Verursacherprinzip und klare Regeln statt Bürokratismus gesetzt. Das Problem war nur: Beide Parteien haben das Thema im Laufe der 70er-Jahre nicht weiterverfolgt. So konnten die Grünen entstehen, eine Partei, die ökologisches Bewusstsein damals mit kommunistischen Positionen verbunden hat. Bis heute wird deshalb ökologische Verantwortung mit staatlicher Steuerung verbunden, bis an die Grenze chinesisch anmutender Planwirtschaft im Klimaschutz. Unsere Aufgabe heute lautet deshalb: indirekte Steuerung und Technologieoffenheit statt Verbote. Leider ist die SPD bei dem Thema von den Grünen kaum zu unterscheiden. Man darf die Meinungsführerschaft nicht denen überlassen, die edle Motive beim Latte macchiato austauschen, während sie anderen das Fleisch verbieten, das Auto teuer machen und die Flugreisen rationieren wollen. Das spaltet die Gesellschaft.

Nahles: Ich trinke auch gelegentlich Latte macchiato. Aber wo Sie richtig liegen: Ich teile nicht diese Verbotslogik. Wir brauchen nicht nur Ziele, sondern auch Wege konkreter Umsetzung. Wir haben daher in der Regierung darauf gedrungen: 2019 wird das Klimajahr!Rot-Grün ist damals aus der Atomkraft ausgestiegen, jetzt hat die Koalition beschlossen, dass wir auch die Kohle hinter uns lassen. Das ist richtig, aber verdammt ambitioniert! Die Frage lautet: Wie setzen wir das jetzt so um, dass Deutschland weiter Industriestandort bleibt – und zwar mit guten Arbeitsplätzen, innovativ und mitbestimmt. Ich sehe eine in Teilen bislang unkoordinierte und zu zögerliche Politik der Bundesregierung.

Sie stellen die Umweltministerin!

Nahles: Das ist ein Gesamtkraftakt aller Ressorts. Ich bin nicht Mitglied dieser Bundesregierung, aber ich trage sie.

Lindner: Sie ertragen sie!

Nahles: Manchmal auch das. Jedenfalls sage ich ehrlich: Ich bin nicht zufrieden damit, dass die Stromnetze von den Offshore-Windrädern in den Süden das Landes nicht vorankommen. Meine Güte, das ist ein Vorhaben, das seit Jahren im Raum steht! Ich bin für ein Netzausbaugesetz mit Planungsbeschleunigung, um mal einen Punkt klar zu benennen. Das gibt dann Ärger mit Bürgerinitiativen, ja, aber es muss gemacht werden.

Sind Sie also eher bei der FDP als bei den Grünen, Frau Nahles?

Nahles: Wir sind bei den Pariser Klimaschutzzielen. Und mich ärgert, dass wir in der Umsetzung hintendran sind. Wenn wir endlich mit gutem Tempo rangehen, profitieren alle: das Klima, Beschäftigte und Unternehmen. Dafür wird es nun das Klimakabinett geben und die „Konzertierte Aktion Mobilität“. Aber ich bin da absolut ungeduldig. Deshalb finde ich es auch völlig richtig, dass uns die Schülerinnen und Schüler mit ihren Freitagsdemos Druck machen.

Lindner: Wir haben in Europa aber nicht nur Schülerstreiks, sondern auch die Gelbwesten in Frankreich. Wenn wir nur eine Seite sehen, dann gerät etwas aus der Balance. Wir haben in Deutschland die höchsten Strompreise überhaupt, was eine gigantische Verteilungsfrage nach sich zieht. Der Dieselfahrer mit Industriearbeitsplatz muss hohe Energiepreise zahlen, während sein Auto Wert und der Arbeitsplatz Sicherheit verliert. Frankreich ist eine Mahnung. Die SPD-Umweltministerin hat zugestimmt, dass wir von Europa ausschließlich auf den Pfad Elektromobilität geführt werden. Dabei hätten wir auch die Alternativen Wasserstoff, synthetischer Kraftstoff, Brennstoffzelle. Worauf ich hinauswill: Dieses Denken, in jedem Sektor CO2-Einsparziele jahrgenau und tonnenexakt festzulegen, führt uns in die Planwirtschaft. Wir brauchen eine Gesamtmenge an CO2, die wir einsparen müssen. Dann muss egal sein, mit welcher Technologie und in welchem Sektor.

Nahles: Wir müssen uns schon in den einzelnen Sektoren Großes vornehmen, tut mir leid. Es wird nicht allein über Marktprinzipien zu lösen sein. Aber eben auch nicht über Verbote.

Die Brandt-SPD und die Scheel-FDP verkörperten den Zeitgeist. Das kann man von Ihren Parteien nicht sagen.

Lindner: Welchen Zeitgeist meinen sie? Wir leben in einer Zeit, in der die Gesellschaft individualisiert ist.

Nahles: Die gesellschaftlichen Milieus werden vielfältiger, damit auch die Parteienlandschaft. Ob das immer nur gut ist für die Politikfähigkeit, das darf man nach dem Jamaika-Experiment 2017 durchaus mit einem Fragezeichen versehen. Für mich ist wichtig, dass wir über ein neues „Wir“ reden. Denn einem Staat und einer Demokratie, die nicht einen gesellschaftspolitischen Konsens für sich formuliert, fehlt etwas. Das ist die Herausforderung. Wir merken ja, dass überall Parteien auftreten, die vor allem ein Ziel haben: spalten.

Meinen Sie die Grünen oder die AfD?

Nahles: Ich meine die, die sagen: Wir sind Deutsche, und du bist draußen. Wir brauchen kein Europa, der Nationalstaat reicht. Das sind Strömungen, die sind gefährlich. Dagegen kämpfen wir. Für ein EU-Parlament mit starker proeuropäischer Kraft. Darum ist auch die Europawahl so wichtig.

Lindner: Wir müssen die Gesellschaft zusammenhalten. Der Zeitgeist des veganen Kreativarbeiters mit postmaterieller Einstellung in Berlin-Mitte ist ein anderer als der des Facharbeiters mit Diesel-Kombi, der im Hochschwarzwald unterwegs ist.

In Arnulf Barings „Machtwechsel“ lässt sich nachlesen, wie sehr sich Brandt und Scheel gewogen waren. Schon vor der eigentlichen Regierungsbildung kamen die beiden oft zusammen. Wie steht es mit Ihnen? Mögen Sie sich? Treffen Sie sich regelmäßig?

Lindner: Das machen wir beide sicher mit allen Parteivorsitzenden. Arithmetisch und politisch sind wir derzeit etwas weiter weg von sozialliberalen Experimenten. Aber selbst wenn man nicht unmittelbar eine Koalition anstrebt, ist es ein Zeichen von politischer Kultur, dass man spricht und weiß, wie die anderen ticken. Wie ist es denn bei den sogenannten Zeitgeistparteien? Die einen haben die Faust in der Tasche geballt, die anderen den Zeigefinger stets erhoben. Sie sagen auf ihre Art: Wir wissen allein, was jetzt zu tun ist. Das ist mir fremd.

Nahles: SPD und FDP sind sicher nicht aus dem Stand koalitionsfähig. Ich ärgere mich schon, wenn Herr Lindner im Bundestag mal wieder das BDI-Programm vorträgt. Aber ich will und muss trotzdem in der Lage sein, zuzuhören und auch mal offen zu sagen: Ja, in dem Punkt hat er recht! Wir bleiben im Gespräch. Denn schaut nach Großbritannien: Was dort gerade passiert, ist absolut besorgniserregend. Dort scheint es trotz einer historischen Krise nicht mehr möglich, dass Parteien über ihren Tellerrand gucken und das Land zusammen führen. Wenn das aber nicht mehr geht, dann ist die Demokratie am Ende. Und das darf uns in Deutschland nie passieren.