Lesedauer: 3 Minuten

Mark Rutte, der liberale Ministerpräsident der Niederlande, hat viel Kritik erfahren. Die Medien unterstellten ihm, nationale Interessen über europäische zu stellen. Er sei der unkooperativste der Regierungschefs. Er laufe Rechtspopulisten nach. Ich sehe es anders: Mark Rutte und die – wie ich sie bezeichnen will – „vernünftigen Vier“ haben erreicht, dass der Kompromiss des Gipfels zumindest besser ist als die Vorschläge zuvor. In einem gängigen Narrativ ist derjenige proeuropäisch, der das größte Volumen an kreditfinanzierten Programmen mobilisiert. Man muss Rutte und andere in Schutz nehmen: Man kann genauso proeuropäisch eingestellt sein, wenn man zunächst durch Reformen die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten stärken will. Wachstum und Beschäftigung lassen sich nicht auf Dauer mit öffentlichen Mittel kaufen, sondern sind nur dann nachhaltig, wenn sie im Markt bestehen.

Vor diesem Hintergrund ist ein Fortschritt erreicht worden. Im Aufbaufonds ist das Verhältnis von Krediten und Zuschüssen nahezu hälftig und damit ausgewogener, als es zuvor die Bundeskanzlerin und der französische Präsident vorgeschlagen hatten. Das stärkt die Anreize für den wirksamen Einsatz der Mittel. Die EU-Mitgliedstaaten behalten darüber hinaus die Kontrolle über die Zuweisungen, die auf Basis von Reformzusagen und Benchmarks erfolgen. Auszahlungen werden de facto an Fortschritte gebunden. Wenn diese Möglichkeit mit Leben gefüllt werden kann, dann würde verhindert, dass mit frischem Geld nur altbekannte Strukturdefizite verdeckt werden. Kommission und Rat müssen diese Rolle nun annehmen. Wer europäisches Geld beanspruchen will, der muss zudem europäische Werte achten. Es konnte auf dem Gipfel ein Mechanismus angedeutet werden, mit dem Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit geahndet werden. Noch sind seine Bestimmungen fraglos zu vage und Konkretes wäre wünschenswert, aber ein Einstieg ist gemacht. Mit Polen und Ungarn am Tisch war im ersten Schritt mehr wenig realistisch.

Trotz aller Verbesserungen bleiben Sorgen. Eine Ergänzung zu den Finanzprogrammen wäre, den Binnenmarkt als Wachstumsmotor weiter zu vertiefen. Im Mehrjährigen Finanzrahmen, dem Haushalt der EU, spiegeln sich zudem nicht die politischen Prioritäten unserer Zeit. Hier wurden Einigungsprämien verhandelt, die Milliarden Euro von Zukunftsprojekten in Besitzstandswahrung umgeleitet haben. Neue Impulse für Bildung, für Forschung, für Digitales, für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik oder den gemeinsam verantworteten Schutz der europäischen Außengrenze fehlen.

Kritisch ist aber vor allem, dass die EU nun auch Anleihen begeben kann. Damit verbunden ist die stete Versuchung, Gegenwartskonsum zu betreiben, um gegenüber der Bevölkerung populär zu erscheinen. In den Mitgliedstaaten der EU passiert dies zu häufig, als dass man diese Mentalität auch noch im Staatenverbund selbst einführen sollte. Richtig ist, dass die Schuldenaufnahme immerhin ausdrücklich als einmalige und begrenzte Ausnahme benannt wird. Besser wäre aber gewesen, gleich ganz darauf zu verzichten.

Tatsächlich wird korrespondierend zur Möglichkeit der Schuldenaufnahme ebenfalls über eigene Steuerquellen der EU gesprochen. EU-Steuern allerdings brauchen wir nicht, weil die Belastungsschraube nach und nach angezogen werden würde. Die EU ist nämlich ein so komplexes Arrangement, dass die Steuerzahlenden sich gegen finanzielle Überforderung – anders als im nationalen Kontext – nur höchst indirekt an der Wahlurne wehren können. Es ist ein schwacher Trost, dass die Konkretisierung oder gar Realisierung der Pläne für EU-Steuern mittelfristig wenig wahrscheinlich sind. Allein die Debatte verschiebt Positionen langfristig. Angesichts der Tragweite wäre die Bundesregierung deshalb gut beraten, eine Zweidrittelmehrheit des Deutschen Bundestags zur Ratifizierung anzustreben. Wenn es nicht ohnehin verfassungsrechtlich geboten ist, wäre es zumindest politisch ratsam.

Leider hat nicht Deutschland die genannten Verbesserungen in das Dokument hineinverhandelt, sondern die Gruppe um Mark Rutte. Früher war es einmal ein deutscher Ansatz, Zahlungen an Regeln und Bedingungen zu knüpfen. Früher trat Deutschland in Verhandlungen als Mittler zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten auf. Das ist leider Vergangenheit, unser Land ist auf eine französische Linie eingeschwenkt. Wir sollten unsere frühere Position wieder einnehmen.

Es ist auch nicht ratsam, die Niederlande und die „vernünftigen Vier“ als „die neuen Briten“ zu bezeichnen, wie Präsident Macron dies getan hat. Die Niederlande oder auch Schweden sind proeuropäische Länder. Sowohl die Kanzlerin als auch der französische Präsident sollten akzeptieren, dass es schlicht keine Mehrheit für eine Schuldenunion gibt. Sondern dass es eine starke Fraktion gibt, die die finanzpolitische Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten im Blick behält. Man muss es wohl so sehen: Der eigentliche Nachfolger von Wolfgang Schäuble ist Mark Rutte.