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Joe Biden hat gewonnen – das ist eine gute Nachricht für die deutsch-amerikanischen Beziehungen und die transatlantische Partnerschaft. Der Atlantik ist spürbar breiter geworden durch die vierjährige Regierungszeit von Donald Trump. Sie hat auch in den USA selbst tiefe Spuren hinterlassen. Vor Joe Biden liegt jetzt eine Herkulesaufgabe.

Er muss ein gesellschaftlich tief gespaltenes und verunsichertes Land zusammenführen. Joe Biden hat im Wahlkampf wiederholt seinen Wählern versprochen, er werde ein Präsident für alle Amerikaner sein, ein „American president“. Das ist ein hoher Anspruch, der nicht leicht zu erfüllen sein wird.

Der Blick des zukünftigen US-Präsidenten wird sich daher vor allem nach innen wenden müssen. Biden muss die massive Ausbreitung des Coronavirus eindämmen und einen dauerhaften wirtschaftlichen Abschwung abwenden. Die Initiative zur Erneuerung der transatlantischen Partnerschaft muss deshalb von Deutschland und von Europa ausgehen.

Die Erfahrung mit einem US-Präsidenten Trump sollte uns eine Warnung sein: Die Freundschaft mit den USA ist keine Selbstverständlichkeit. An einer Freundschaft müssen beide Seiten arbeiten. Deutschland und Europa müssen in den kommenden Jahren bereit sein, wesentlich mehr in die Beziehungen zu Amerika zu investieren.

Das heißt auch: Deutschland und Europa müssen international mehr Verantwortung übernehmen. Unter Trump schwand die Bereitschaft der USA, Entscheidungen gemeinsam mit den europäischen Partnern zu beraten. Vom angekündigten US-Truppenabzug aus Deutschland erfuhr man in Berlin und Brüssel zuerst aus US-Medien. Dabei waren deutsche und europäische Sicherheitsinteressen direkt betroffen. Europa erwartet nun zurecht, dass die transatlantische Sprachlosigkeit unter Joe Biden vorbei ist. Gleichzeitig darf der Wechsel im Weißen Haus aber nicht bedeuten, dass Europa wieder in einen außen- und sicherheitspolitischen Dornröschenschlaf fällt.

Wir dürfen auch von einer Biden-Regierung keinen vollständigen Kurswechsel in der Außenpolitik erwarten. Die Frage der Lastenverteilung im transatlantischen Bündnis wird bleiben. Europa hat es sich zu lange zu leicht gemacht. Wir haben erwartet, dass die USA ihre Rolle als Garant der liberalen Weltordnung schon ausfüllen werden. Amerika hat diese Verantwortung über viele Jahrzehnte auch weitgehend selbstverständlich geschultert. Für dieses „Ungleichgewicht der Verantwortung“ schwindet aber in der amerikanischen Gesellschaft der Rückhalt – und zwar unabhängig von der parteipolitischen Orientierung. Was viele in Deutschland nicht sehen: Das wird auch unter einem Präsidenten Biden so bleiben.

Die USA werden strategische Fragen mit Europa nur wieder gemeinsam beschließen, wenn wir als ernstzunehmender Partner wahrgenommen werden. Die EU muss deshalb die Handlungsfähigkeit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik verbessern: Europa muss international endlich mit einer Stimme sprechen. Die EU muss schneller Entscheidungen treffen und mehr Verantwortung für Sicherheit und Stabilität in unseren Nachbarregionen übernehmen. Die europäischen Staaten werden auch ihre Streitkräfte besser ausstatten und stärker integrieren müssen.

Deutschland braucht auch endlich eine echte Amerika-Strategie: Die Wahl Joe Bidens bietet für Deutschland die Möglichkeit, Austausch und Dialog auf allen Ebenen zu vertiefen. Die Bundesregierung muss umgehend ein echtes Konzept zur Zukunft der deutsch-amerikanischen Beziehungen erarbeiten und im Deutschen Bundestag zur Diskussion stellen. Wir sollten der neuen US-Administration deutsch-amerikanische Regierungskonsultationen auf Ministerebene bis hin zu gemeinsamen Kabinettssitzungen vorschlagen, wie wir das schon lange zum Beispiel mit Frankreich praktizieren.

Mehr Austausch braucht es aber auch auf der kulturellen und gesellschaftlichen Ebene. Warum nicht mehr Goethe-Institute gerade dort ansiedeln, wo der transatlantische Dialog eben nicht so intensiv wie in New York oder San Francisco geführt wird? In jenem „fly-over-country“ also, das auch unabhängig von Trump dazu neigen wird, nach innen zu schauen. Warum nicht zum Beispiel eine dauerhafte deutsche Repräsentanz im Mittleren Westen etablieren, etwa durch ein Generalkonsulat in St. Louis oder Kansas City? Die Wahl von Joe Biden wird längst nicht alle Verständigungsprobleme beseitigen.

Das gilt auch für die Handelspolitik. Joe Biden ist kein Handelskrieger im Stil Donald Trumps. Aber die USA werden ein schwieriger Partner in der Handelspolitik bleiben. Zu mächtig sind die Erwartungen in der US-Wählerschaft und unter den Anhängern der Demokratischen Partei. Deutschland und die EU sollten in diesem Wissen gemeinsame Interessen mit den USA identifizieren, um die transatlantische Handelspolitik aus ihrer Eiszeit zu befreien.

Wir müssen die Handelskonflikte schnell und dauerhaft lösen. Dazu gehört auch die sofortige beidseitige Abschaffung aller Zölle auf Industrieprodukte und im Anschluss die Wiederaufnahme von Gesprächen über ein umfassendes Freihandelsabkommen. Wir müssen strategische Partnerschaften zwischen deutschen und US-amerikanischen Unternehmen weiter unterstützen. Dabei sollten wir insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen stärker in den Blick nehmen.

Echte Antworten auf globale Herausforderungen wie Klimawandel, Atomwaffenkontrolle oder Pandemien gehen nicht ohne die USA am Verhandlungstisch – auch das ist eine Lehre der Trump-Jahre. Trumps außenpolitischer Kurs des „America First“ wird aber über das Ende seiner Amtszeit hinaus im politischen Washington nachwirken. Europa sollte Joe Biden deshalb dabei unterstützen, die US-Bürgerinnen und Bürger neu davon zu überzeugen, dass das Engagement der USA in internationalen Organisationen und Kooperationsformaten auch in ihrem eigenen Interesse ist. Wir sollten deshalb berechtigte Kritikpunkte der USA an der Funktions- und Handlungsfähigkeit internationaler Organisationen ernst nehmen.

Ein erster Schritt im Angesicht der Corona-Pandemie könnte zum Beispiel sein, dass Deutschland gemeinsam mit den USA eine Reform der Weltgesundheitsorganisation vorantreibt. Die Wahl von Joe Biden sollte auch uns aus einer gewissen Passivität befreien. Die Zeit des Zuschauens muss vorbei sein.